Vorwort zum Bildband über "Bauern helfen Bauern"
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Bauern helfen Bauern
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Es ist leichter ein Aquarium in eine Fischsuppe zu
verwandeln als eine Fischsuppe in ein Aquarium.
Vor den Zerfallskriegen im ehemaligen Jugoslawien war Bosnien – bildlich gesprochen – ein Aquarium mit zwei größeren und einem kleineren Fisch. Etwas weniger als die Hälfte der 4,4 Millionen Einwohner waren muslimische Bosniaken (44 Prozent), etwa ein Drittel waren Serben (31 Prozent) und die Kroaten stellten ein knappes Fünftel (17 Prozent) der Bevölkerung. Nach vier Jahren Krieg, 100.000 Toten, und vielen Kriegsverbrechen, von denen das Massaker an mehr als 7.000 Bosniaken in der Stadt Srebrenica im Juli 1995 das schlimmste war, auch, weil es unter den Augen niederländischer UNO-Soldaten geschah, hätten am liebsten zwei der drei Fische das Aquarium verlassen. Doch der Washingtoner Vertrag und das Friedensabkommen von Dayton zwangen Kroaten und vor allem Serben in diesen gemeinsamen Staat. Dieser sollte daher so schwach wie möglich sein; geschaffen wurde, ein bürokratisches Monstrum auf der Basis eines ethnischen Proporzsystems, an dem, je nach Lage und Mehrheitsverhältnisse alle drei Völker mit „Zähnen und Klauen“ festhalten. Die Basis dafür bildete die Volkszählung aus dem Jahr 1991. Sie stimmte 1995 natürlich bereits nicht mehr, doch niemand war bereit, durch realistische Zahlen, „ethnische Säuberungen“, sprich Massenvertreibungen und Morde, zu legitimieren. Daher gelten diese Zahlen formell bis heute, weil sich Bosniaken, Kroaten und Serben erst zu Beginn des Jahres 2012 auf den Modus für eine Volkszählung einigen konnte, die nun 2013 stattfinden soll. Bosnien glich somit auch nach dem Krieg einem Jugoslawien im Kleinen, nur mit dem Unterschied, dass vor dem Krieg diese Bezeichnung das Ideal von „Brüderlichkeit und Einigkeit“ symbolisieren sollte, während sie danach als Synonym für das tiefe Misstrauen gelten konnte, das zwischen Kroaten, Bosniaken und Serben auch über die Landesgrenzen von Bosnien hinaus bestand.
Für die Zukunft Bosniens wird die Art der Beantwortung zweier Grundfragen entscheidend sein: erstens, können die drei Völker und ihre politischen Eliten wenigstens ansatzweise einen Verfassungspatriotismus nach dem Muster der Schweiz entwickeln? Zweitens: werden die politischen Eliten imstande sein, das monströse Staatswesen zu reformieren, das mit dem Washingtoner Vertrag und mit dem Friedensvertrag von Dayton in unheiliger Allianz mit den USA und Europa geschaffen wurde. Denn Dayton beendete zwar den Krieg, schuf aber einen Staat, der so nicht lebensfähig ist.
Doch zunächst zur Frage des Verfassungspatriotismus, den man im Falle Bosniens als minimales Bekenntnis zum gemeinsamen Staat definieren kann, doch selbst dieses Minimum ist bisher nicht gegeben. So feiern den 1. März als Staatsfeiertag nur die Bosniaken, denn er erinnert an das Unabhängigkeitsreferendum im Jahre 1992, das von den Serben boykottiert wurde. Zwar hat das Land eine gemeinsame Hymne, doch auf einen Text konnte sich eine Arbeitsgruppe des gesamtstaatlichen Parlaments erst im Februar 2009, gute 14 Jahre nach Kriegsende einigen. Doch was nützen schon Staatssymbole, wenn sie bestenfalls eine leere Hülle sind und die Herzen der Bürger nicht berühren!?
Den Mangel an gemeinsamer staatlicher Identität und die damit verbundene Spaltung zeigt jedes Fußballspiel. Die Serben halten mit der serbischen Nationalmannschaft, die Kroaten mit der kroatischen, wobei die Bosniaken bei der Fußball-EM in Österreich im Spiel Türkei gegen Kroatien für die Türken hielten, was in der geteilten Stadt Mostar denn auch zu Ausschreitungen führte. Zementiert wird die Spaltung zusätzlich durch das Schulwesen, und zwar nicht nur deshalb, weil es in einigen Landesteilen noch immer nach Volksgruppen getrennte Schulen gibt, sondern durch Lehrplan und Lehrbücher. Serben und Kroaten verwenden oft Lehrbücher aus Serbien und Kroatien, ein einheitliches Geschichtsbild fehlt, und das wirkt sich natürlich auf so sensible Fächer wie Geschichte aus. Darüber hinaus ist das Schulwesen in der Bosniakisch-kroatischen Föderation (dem größeren Teilstaat) durch unterschiedliche Lehrpläne selbst in den Grundschulen derart kompliziert, dass Schulwechsel oft nur schwer möglich sind.
Das Fehlen einer gesamtstaatlichen Identität ist aber beileibe nicht die einzige Erblast, die der Staat zu tragen hat. Am schwersten wiegt wohl der komplizierte Staatsaufbau in Verbindung mit einer der schwächsten bundesstaatlichen Strukturen weltweit. Beide Faktoren sind darauf zurückzuführen, dass die Serben nur einen so schwach wie möglich ausgebildeten Staat wollten, dass alle drei Volksgruppen einander misstrauten und dass der ethnische Proporz gewahrt und auch entsprechende Veto-Möglichkeiten in das politische System eingebaut werden mussten.
Der Staat Bosnien und Herzegowina, der etwa halb so bevölkerungsreich und mit 51.000 Quadratkilometern mehr als halb so groß ist wie Österreich, hat folgende Struktur: einen Gesamtstaat mit de facto drei Staatspräsidenten (Staatspräsidium); die drei Volksgruppen stellen je einen Vertreter in diesem Staatspräsidium. Die Bosniaken und Kroaten wählen ihre beiden Vertreter in der Föderation, die bosnischen Serben ihren in der Republika Srpska. Der Vorsitz des Staatspräsidiums wechselt alle acht Monate. Hinzu kommen eine Regierung und einem Parlament, das aus zwei Kammern besteht (Abgeordnetenhaus mit 42 Sitzen und Völkerkammer mit 15 Sitzen). Unterhalb dieses Gesamtstaates existieren zwei Teilstaaten, sogenannte Entitäten: die zentralistisch aufgebaute Republika Srpska mit einem Präsidenten an der Spitze, einem Ministerpräsidenten und einem Kabinett mit 16 Ministern und einem Parlament, das ebenfalls aus zwei Kammern besteht. Weit komplizierter strukturiert ist der größere Teilstaat, die bosniakisch-kroatische Föderation: sie besteht aus einem Präsidenten, einer Regierung mit einem Ministerpräsidenten und 16 Ministern. Hinzu kommen aber noch 10 Kantone, die ebenfalls jeweils einen Regierungschef und ein Kabinett haben, das aus durchschnittlich 10 Ministern besteht. Eine Sonderstellung nimmt noch der Distrikt der nordbosnischen Stadt Brcko ein; er untersteht direkt dem Gesamtstaat und wird (noch) von einem internationalen (amerikanischen) Supervisor geleitet. Von allen Teilen des Landes hat sich diese „reichsunmittelbare Stadt“ wohl am besten entwickelt, nicht zuletzt dank ihrer klaren Verwaltungsstruktur. Mit diesem Staatsaufbau segnete der Friedensvertrag von Dayton auch eine enorme rechtliche Zersplitterung des Landes ab. So existieren 13 Verfassungen, weil neben dem Gesamtstaat auch die beiden Entitäten und die 10 Kantone über eine Verfassung verfügen.
Um aus Bosnien in den Jahren nach Dayton überhaupt einen Staat zu machen, versuchten die internationale Gemeinschaft und ihr Vertreter, der Hohe Repräsentant, (mit seinem Büro (OHR), den Gesamtstaat zu stärken. Verfügte dieser zunächst nur über drei Ministerien, so sind es nun neun, und dazu zählt etwa auch der Außenhandel. Generell waren die Erfolge dieser Strategie eher bescheiden, die noch dazu vor allem dem serbischen Teilstaat in harten und langen Verhandlungen abgerungen werden mussten. Ein Verteidigungsministerium gibt es auf Gesamtstaatsebene erst seit dem Jahr 2004, doch immerhin ist die Vereinheitlichung der Streitkräfte gelungen; bei der Polizei ist eine derartige Kompetenzübertragung bis heute nicht erfolgt; trotzdem kostete die, vom damaligen Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown zur Flaggenfrage erhobene und völlig falsch geführte Debatte über die Polizeireform Bosnien zwei Jahre auf dem Weg Richtung EU. Ihr Ergebnis war ein Kompromiss, der nur mit dem Sprichwort beschrieben werden kann: „Die Berge kreißten und gebaren ein Mäuslein.“
Viel prekärer wirkt sich die enorme rechtliche Zersplitterung auf ganz anderen Gebieten wie zum Beispiel das Bildungswesen und die Wirtschaft aus. Gerade im Bereich der Bildung zeigt sich, dass die von vielen Bosniaken geforderte Abschaffung der Republika Srpska überhaupt keine Lösung wäre, selbst wenn sie sich politisch durchsetzen ließe. Denn im serbischen Teilstaat gibt es ein Hochschulgesetz, in der Föderation aber zehn, weil für die Universitäten die Kantone zuständig sind. Darüber existiert auf Gesamtstaatseben ein vages Rahmengesetz, dessen Verabschiedung erst nach acht Jahren zustande kam.
Für ausländische Investoren und damit auf das Investitionsklima ebenso gravierend wirkt sich die Kompetenzverteilung im Bereich der Wirtschaft aus So zählt zwar der Außenhandel zur Kompetenz des Gesamtstaates, doch 15 Jahre unterschiedliche Wirtschaftsgesetzgebung durch die Entitäten haben dazu geführt, dass dieser kleine Staat mehr als 15 Jahre nach Kriegsende von einem einheitlichen Wirtschaftsraum noch immer weit, vielleicht sogar nun weiter, entfernt ist. Probleme ergeben sich dadurch natürlich auch für den Zusammenhalt des Staates. So ist etwa beim Jus-Studium die gegenseitige Anerkennung der Diplome durch die Universitäten in Sarajewo und Banja Luka keineswegs sichergestellt. Für Richter ist es de facto unmöglich, den Arbeitsplatz zwischen den beiden Entitäten zu wechseln, und Rechtsanwälte müssen sich zunehmend spezialisieren und entscheiden, in welcher Entität sie mehr Fälle annehmen.
Der bosnische Knoten hat aber nicht nur ein bosniakisches und ein serbisches Ende. Nicht zu vernachlässigen ist die kroatisch-bosniakische Konfliktlinie, die sich am deutlichsten in der hunderttausend Einwohner zählenden Stadt Mostar, der Hauptstadt der Herzegowina manifestiert. Dabei geht es aber nicht nur um den Machtkampf um eine Stadtverwaltung und die daran angeschlossenen kommunalen Betriebe, die - wie in Kakanien und anderen EU-Staaten auch - zur Verteilung von Pfründen dienen. Vielmehr symbolisiert das Problem Mostar auch die Unzufriedenheit der Kroaten mit ihrer Lage im Gesamtstaat. Die Serben als die eigentlichen „Bösewichte“ des Krieges bekamen ihren Teilstaat mit Banja Luka als Hauptstadt, die Bosniaken als größte Volksgruppe dominieren weitgehend die Föderation und haben immerhin ihre Hauptstadt Sarajewo, während die Kroaten als kleinster Mitspieler leer ausgingen und über kein eigenes Gebiet verfügen. Aus kroatischer Sicht ist daher Mostar „ihre“ Hauptstadt, in der auch die meisten bedeutenden kulturellen Institutionen der Kroaten angesiedelt sind.
Während des Krieges stellte Mostar einen Sonderfall dar, denn nach der Vertreibung der Serben, die nun nur mehr eine Randgruppe bilden, bekämpften einander Kroaten und Bosniaken mit großer Erbitterung; ihr fiel auch das Wahrzeichen der Stadt, die 1566 erbaute Brücke zum Opfer, die kroatische Artillerie im November 1993 zerstörte. Nach dem Krieg war Mostar in einen kroatischen Westteil und einen bosniakischen Ostenteil gespalten und stand zunächst unter internationaler Verwaltung. Sie änderte jedoch nichts an der Teilung, die etwa dazu führte, dass es alle kommunalen Betriebe (Wasserwerk etc.) in zweifacher Ausführung gab, und die kroatische Feuerwehr nicht ausrückte, wenn es im bosniakischen Stadtteil brannte und umgekehrt. 2003 konnten sich die Parteien in Mostar schließlich mit Ausnahme von zwei Punkten auf ein neues Statut für die Stadt einigen. Einigung erzielt wurde auch über den Wahlmodus für den Bürgermeister, während das Schicksal der sechs Bezirke und der Wahlmodus für den Gemeinderat umstritten blieben. Daher verordnete im Jänner 2004 der damalige Hohe Repräsentant Paddy Ashdown kraft seiner Vollmachten das neue Statut, und wie vorgesehen konnte tatsächlich eine einigermaßen funktionsfähige Stadtregierung zwischen der kroatischen HDZ und der bosniakischen Partei SDA unter einem kroatischen Bürgermeister gebildet werden. Vereinbart wurde, dass nach der nächsten Wahl ein Bosniake Bürgermeister werden sollte. Ende Juli 2004 wurde die wiederaufgebaute historische Brücke über die Neretva feierlich eröffnet, und zunehmend strömten Touristen nach Mostar, wobei die Stadt auch vom nahegelegenen Wahlfahrtsort Medjugorje profitierte.
Acht Jahre später sieht die Lage weit weniger vielversprechend aus. Die propagierte und formell vollzogene Wiedervereinigung von Feuerwehr, Wasserwerk und aller anderen kommunalen Betriebe erwies sich als oberflächlich, weil diese Betriebe nun zwar nur einen Namen haben, die getrennten Strukturen aber weiter bestehen blieben. Doch auch politisch tauchten Probleme auf. Die einst dominante HDZ spaltete sich, und zur Gemeinderatswahl im Oktober 2008 traten drei kroatische Parteien an, die im 35 Sitze zählenden Gemeinderat 17 Sitze errangen; 12 Mandate gewann die SDA, jeweils drei Sitze entfielen auf zwei kleinere bosniakische Parteien. Weder SDA noch HDZ hielten ihre Koalitionsvereinbarung auf Punkt und Beistrich ein, und die kroatischen Parteien zeigten sich nicht bereit, die Wahl eines Bosniaken zum Bürgermeister zu zulassen. Die Kroaten wollen „ihre“ Hauptstadt und ein Amt nicht verlieren, das in Mostar seit dem neuen Statut aus dem Jahre 2004 tatsächlich mit Machtbefugnissen ausgestattet ist.
Demgegenüber hielten die Bosniaken in Mostar an allen Rechten fest, die sie als schwächerer Partner vor einer zu großen Dominanz der wirtschaftlich potenteren kroatischen Volksgruppe schützen sollen. Diese Grundhaltungen führten gepaart mit dem trickreichen Wahlmodus zu einer Pattposition im Gemeinderat, dem es nach 14 Anläufen bis Ende Juli 2009 nicht gelungen war, einen Bürgermeister zu wählen und ein Budget zu beschließen. Die Fristen für das Übergangsbudget sind schon lange abgelaufen; und seit März hat die Stadt weder ihre Beamten, Lehrer noch die Angestellten in den Kommunalbetrieben oder Firmen bezahlt, die im Auftrag der Stadt tätig waren. Ende Juli riss dann jedenfalls in Sarajewo auch Paddy Ashdowns Nach-Nach-Nachfolger, dem Österreicher Valentin Inzko, die Geduld. Kraft seiner Vollmachten als Hoher internationaler Repräsentant verfügte Inzko eine Übergangsfinanzierung, um wenigstens die Gehälter in Mostar weiter bezahlen zu können. Knapp drei Jahre später ist die Lage in Mostar nicht einfacher geworden, obwohl im Oktober in Bosnien und Herzegowina neuerlich Lokalwahlen bevorstehen. Denn in Sarajewo hat der Verfassungsgerichtshof zwei Artikel des Gesetzes zur Wahl in Mostar aufgehoben. Obwohl die Frist zur Sanierung dieser Bestimmungen bereits abgelaufen ist, geschah bisher nichts. Ein weiterer Streitpunkt vor den Gemeinderatswahlen dürfte die Wahlordnung der Stadt Srebrenica werden, wo im Sommer 1995 Truppen der Republika Srpska ein Massaker an mehr als 7.000 Bosniaken verübten. Vor vier Jahren durften auch die Bosniaken den Gemeinderat mitwählen, die gar nicht in Srebrenica leben. Diese befristete Bestimmung läuft nun aus, ob sie verlängert werden wird, ist unklar.
Nicht genug unterstrichen werden kann, dass dieses politische „Absurdistan“ mit dem Segen von USA und EU geschaffen wurde, die sich 1995 – nicht zuletzt nach ihrem katastrophalen Versagen beim Massaker von Srebrenica – endlich dazu aufrafften, dem Morden Einhalt zu gebieten. Doch der Friedensvertrag von Dayton im Dezember 1995 beendete zwar einen Krieg, schuf aber gleichzeitig ein Staatsgebilde, das so kaum lebensfähig aber jedenfalls ganz sicher unfähig war, einst der EU beizutreten. Dieser Aspekt trat immer stärker in den Vordergrund, je weiter die Behebung der unmittelbaren Kriegsfolgen in den Hintergrund trat; so wurden mit dem Tod von Präsident Franjo Tudjman in Kroatien Ende 1999 und mit dem Sturz von Slobodan Milosevic im Oktober 2000 in Serbien auch in Bosnien die Reformen immer dringender. Denn eine vollständige Stagnation hätte zu einem „Los-von-Rom-Effekt“ bei Kroaten und vor allem bei Serben führen können, wären deren „Reservestaaten“ auf dem Weg Richtung EU uneinholbar vorangeschritten. Daher gab es auch in Bosnien Reformen. Die Unterzeichnung des Stabilisierungsabkommens zwischen Brüssel und Sarajewo im Juni 2008 ist ebenso eine sichtbare Anerkennung dieser Fortschritte wie die Aufnahme in das NATO-Programm Partnerschaft für den Frieden, die bereits im Dezember 2006 gemeinsam mit Serbien und Montenegro erfolgte.
Wie viel Zeit Bosnien und Herzegowina aber bereits verloren und wie weit das Land ins Hintertreffen geraten ist, zeigt der Umstand, dass Montenegro, das erst im Sommer 2006 unabhängig wurde, noch im Jahre 2012 mit einem konkreten Datum für den Beginn für Beitrittsverhandlungen mit der EU rechnen kann, während Bosnien und Herzegowina noch immer stagniert. Somit gehen die Reformen in Bosnien einfach viel zu langsam von statten, ist der Staat zu teuer und ineffizient; und seinen Weg Richtung EU kann Bosnien in seiner derzeitigen Verfassung – das Wort ist durchaus zweideutig gemeint – einfach nicht erfolgreich beschreiten. Daher gab es nicht zuletzt unter dem massiven Druck der USA bereits Anläufe zu einer Verfassungsreform; der erste scheiterte im April 2006 knapp aber doch.
Einen neuen Versuch begann im November 2008 mit dem sogenannten Prud-Prozess. In diesem Dorf trafen sich drei führende Politiker der Serben (Milorad Dodik), Bosnjaken (Sulejman Tihic) und der Kroaten (Dragan Covic) auf die Grundzüge einer Staatsreform einigten. Dazu zählt auch die längst überfällige Volkszählung. Diese Gespräche gerieten am Ende Februar 2009 in die Sackgasse, als Dodik bei einem Treffen mit Tihic und Covic in Mostar forderte, in die Verfassung das Recht der RS auf ein Unabhängigkeitsreferendum einzubauen. Das würde praktisch der Auflösung des Staates gleichkommen. Diese Forderung wurde als Reaktion Dodiks auf die gegen ihn zuvor eingereichte Strafanzeige wegen Finanzmachenschaften und Amtsmissbrauches interpretiert. Dodik, nunmehr Präsident der Republika Srpska, war damals Regierungschef; er wurde beschuldigt, enorme Finanzmittel unter anderem für die Errichtung eines neuen Regierungsgebäudes in Banja Luka gesetzwidrig verwendet zu haben und dadurch dem Budget der kleineren Entität einen Schaden in Höhe von 72,5 Mio. Euro zugefügt zu haben.
Bosnisch-serbische Politiker drohten daraufhin, sich aus den gesamtstaatlichen Institutionen zurückziehen zu wollen. Dazu kam es zwar nicht, doch die Verfassungsreform stand still, und die Republika Srpska setzte neuerlich ein klares Zeichen das gegen den Gesamtstaat gerichtet war. So verabschiedete das Parlament des serbischen Teilstaates Mitte Mai Schlussfolgerungen zur staatlichen Kompetenzverteilung in Bosnien. In dem Papier wurde die bereits erfolgte Übertragung von Zuständigkeiten des serbischen Teilstaates auf das Niveau des bosnischen Gesamtstaates als verfassungswidrig bezeichnet. Außerdem verlangte das Parlament, die rechtliche Anfechtung dieser Kompetenzübertragung. Darin sah der Hohe Repräsentant Valentin Inzko zu Recht eine Gefährdung der Kompetenzverteilung zwischen dem Gesamtstaat und den Teilstaaten; außerdem hätte dieses Dokument die Rolle des Verfassungsgerichtes untergraben und dem Parlament der bosnischen Serben ein Vetorecht bei Kompetenzfragen eingeräumt. Nach mehreren ergebnislösen, gütlichen Versuchen und nach einigem Tauziehen in der internationalen Gemeinschaft setzte Inzko seine Sondervollmachten ein, und hob die Schlussfolgerungen des Parlaments der Republika Srpska auf, und bestand damit die Machprobe auch mit Milorad Dodik.
Trotzdem war der Prud-Prozess gescheitert, und im Oktober 2009 scheiterte im Hauptquartier der Friedenstruppe EUFOR in Camp Butmir der bisher letzte Versuch einer umfassenden Verfassungsreform. Sie ist nicht nur wegen der EU-Annäherung, sondern auch deswegen notwendig, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg im Dezember 2009 Teile der bosnischen Verfassung für menschenrechtswidrig erklärte (Sejdic-Finci-Urteil). Die Angehörigen der jüdischen Minderheit und der Volksgruppe der Roma, Jakob Finci und Dervo Sejdic, hatten in Straßburg geklagt, weil bei der Wahl zum Staatspräsidium und zur Völkerkammer nur Mitglieder der drei konstitutiven Völker (Bosniaken, Serben und Kroaten) gewählt werden können, nicht aber Vertreter der „Übrigen“ (Völker und Volksgruppen). Diese Bestimmungen hob der Europäische Gerichtshof auf, wobei dieses Prinzip der Dreier-Vertretung durchaus auch in anderen Institutionen angewandt und mit dem Friedensvertrag von Dayton und damit unter westlichem Segen geschaffen wurde. Obwohl Bosnien nun bereits auch die Suspendierung seines Stimmrechts im Europarat droht, kam es im Land selbst nur zur Bildung einer Arbeitsgruppe, die eine Änderung der Verfassung ausarbeiten soll.
Nicht zufrieden mit der praktischen Durchführung der Wahl zum Staatspräsidium waren und sind auch die Kroaten. Bei den allgemeinen Wahlen im Oktober 2010 wurde neuerlich ein Kroate gewählt, den nicht die kroatischen Parteien, sondern eine Partei der Bosniaken nominiert hatte. Das führte neuerlich zu politischen Spannungen zwischen Bosniaken und Kroaten, und die Regierungsbildung in der Bosniakisch-Kroatischen Föderation (dem größeren der beiden Teilstaaten) dauerte fast ein Jahr. Dagegen dauerte es 16 Monate bis auf der Ebene des Gesamtstaates eine Regierung gebildet werden konnte. Die Sechs-Parteien-Koalition führt nun mit dem Wirtschaftsexperten Vjekoslav Bevanda zum ersten Mal ein Vertreter der kroatischen Volksgruppe, deren demographische Lage immer schwieriger wird, ein Umstand, der sich mittelfristig wohl auch auf die mühsam austarierte Machtverteilung auswirken wird. Zwar soll die Volkszählung erst 2013 stattfinden, doch zeigen alle anderen Daten, dass die Zahl der Kroaten durch Abwanderung vor allem nach Kroaten drastisch abnimmt. Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Kroaten von 800.000 vor dem Krieg nunmehr fast halbiert haben dürfte.
Ministerpräsident Bevanda will jedenfalls die Wirtschaft ankurbeln, die Arbeitslosigkeit bekämpfen und bis zum Sommer einen Beitrittsantrag zur EU stellen, was wohl bestenfalls als symbolischer Akt gewertet werden kann. Doch ein Drittel der Gesetzgebungsperiode ist de facto bereits schon wieder vorbei, und Wahljahre (Lokalwahlen im Oktober) sind auch nicht gerade ideal für tiefgreifende Reformen. Trotzdem gibt es nun durchaus auch erste positive Signale. So haben sie die Führer der sechs stärksten Parteien des Landes auf ein Gesetz über die Volkszählung geeinigt, die wegen der Anwendung ihrer Ergebnisse und dem damit möglicherweise verbundenen Einfluss auf die politische Kräfteverteilung lange umstritten war. Zweitens vereinbarten die sechs Parteiführer nun Mitte März auch einen Fahrplan und Grundlagen, zur Aufteilung des staatlichen und des militärischen Eigentums. Binnen zwei Monaten soll die Frage des Eigentums der Streitkräfte geklärt werden, binnen Jahresfrist das Problem des Staatseigentums gelöst werden. Jedenfalls soll bereits binnen drei Monaten, sprich bis zum Sommer, eine Evidenz erstellt worden sein, die festlegt, was eigentlich alles unter den Begriff von Staatseigentum fällt. Volkszählung und Eigentumsfrage sind auch die Bedingungen der EU, dass das im Juni 2008 unterzeichnete Abkommen über Stabilisierung und Assoziation endlich in Kraft treten kann. Ein derartiges Abkommen ist die erste vertragliche Beziehung zwischen einem Beitrittswerber und der EU. Bei einem Treffen in Brüssel zwischen Ministerpräsident Vjekoslav Bevanda und Erweiterungskommissar Stefan Fule sagte Fule, dass Inkrafttreten des Abkommens sei jetzt in Reichweite. Doch Bosnien und Herzegowina ist reich an Ankündigungen über Reformen und Fahrpläne für ihre Umsetzung, während die tatsächlich Umsetzung der Reform dann viel, viel länger dauerte. Daher ist auch in diesem Fall mit der gebotenen Vorsicht abzuwarten, ob der Grundsatzeinigung dann auch die tatsächlich Einigung im Detail folgt.
In welch großem Ausmaß Bosnien und Herzegowina in den mehr als 15 Jahren seit Kriegsende Zeit verloren hat, und wie groß die Verschwendung von Ressourcen etwa durch Korruption ist, zeigen folgende Zahlen. So gibt es in der Föderation nur knapp 38 Kilometer Autobahnen, weitere 16 Kilometer sind in Bau, im serbischen Teilstaat gibt es 32 Kilometer Autobahnen. Andererseits schätzt die Nicht-Regierungs-Organisation „Tender“, dass durch Korruption und intransparente Vergabe öffentlicher Aufträge dem Land im Jahre 2010 ein Schaden von 770 Millionen Euro entstanden ist. Hinzu kommen ein enormer Rückstau bei der Verabschiedung von Gesetzen und eine ineffiziente Verwaltung. In der Vergangenheit konnte immer wieder der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft, derzeit der Österreicher Valentin Inzko, eingreifen und den widerstrebenden Volksgruppen Gesetze oktroyieren. Mit enormen Vollmachten („Bonn-Powers“) ausgestattet, ist der Hohe Repräsentant und sein Institution (OHR) der Hüter der Dayton-Verfassung. Das OHR hat somit zu überwachen, ob eine Volksgruppe durch Maßnahmen Geist und Buchstaben des Friedensvertrages verletzt. Doch die Glanzzeiten des OHR sind lange vorbei. Vom Fahrer bis zu Valentin Inzko zählt es derzeit gerade noch 150 Mitarbeiter, darunter 20 Internationale, und damit stellt sich auch die Frage, ob mit dieser Kapazität eine ausreichende Kontrolle noch durchführbar ist? Ähnlich abgemagert ist auch die Friedenstruppe EUFOR, die nun etwa 1.500 Soldasten zählt, und in der Österreicher und Türken die größten Truppensteller sind. Hinzu kommt, dass auch die Bonn-Powers immer weniger anwendbar sind, nicht zuletzt auch deshalb, weil viele EU-Staaten das OHR so rasch wie möglich schließen möchten, und auch die EU-Bürokratie in Brüssel, wohl in Verkennung der Realität vor Ort, im OHR eher einen lästigen Konkurrenten denn einen sinnvollen Partner sieht. Dieser Umstand blieb und bleibt natürlich auch den lokalen Politikern nicht verborgen, die im Falle der Republika Srpska auch mit Rückendeckung aus Belgrad und Moskau, auf einen Zermürbungstaktik setzten. Doch abgesehen vom täglichen bürokratischen „Kleinkrieg“ wirkt sich auch die politische Großwetterlage negativ auf Bosnien und Herzegowina aus. Das Land ist nicht mehr „sexy“, und die EU hat derzeit andere Probleme, so dass es daher höchste Zeit wäre, dass die lokalen Politiker selbst mehr Verantwortung für ihr Land übernehmen.
Abgesehen von der Frage, unter welchen Voraussetzungen das OHR geschlossen werden soll und wer seine Kernaufgabe als Hüter des Friedensvertrages von Dayton auf welche Weise sinnvoll übernehmen kann, sind für mich folgende Punkte unstrittig:
Mit seiner bestehenden Rechts- und Verfassungsordnung kann Bosnien nicht Mitglied der EU werden und wohl auch kaum den Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Auf der Ebene des Gesamtstaates existiert noch nicht ein Mal ein Landwirtschaftsministerium. Wo sein Sitz sein wird, ist weniger wichtig als das Bestehen einer Adresse mit klaren Zuständigkeiten, die Verhandlungen führen und um Subventionen für die Landwirtschaft bei der EU ansuchen kann. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll und hilfreich, wenn die EU einen „Katalog“ mit institutionellen Mindestanforderungen erstellen könnte, die Bosnien und Herzegowina auf dem Weg zum Beitritt braucht und bilden muss. Damit könnten politische Sonderinteressen eingedämmt werden, die hinter der Debatte um die Staatsreform stehen (Zentralisierung versus Dezentralisierung)
Bosnien braucht somit eine Staatsreform, doch ein zentralistischer Staat kann Bosnien auf Grund seiner Geschichte und seiner drei Völker niemals werden. Entscheidend ist die Frage der Effizienz und nicht die Frage, ob der Staat zentral oder dezentral aufgebaut ist. Mit dieser Erkenntnis verbunden sein muss auch das Anerkenntnis aller relevanten bosnakischen Politiker, dass die Republika Srpska eine Tatsache ist. Dieser Teilstaat ist ein Ergebnis des Krieges, doch Kriege schaffen Tatsachen, und dazu zählt diese Serben-Republik. Im Gegenzug müssen aber auch die führenden Politiker dieses Teilstaates aufhören, die Existenz des bosnischen Gesamtstaates in Frage zu stellen und bereit sein, Kompetenzen dort abzugeben, wo dies sinnvoll ist. Notwendig sind auch klarere und handfestere Botschaften aus Belgrad, die in der Praxis über das Lippenbekenntnis zur Integrität Bosniens hinausgehen müssen.
Ein gewichtiger Teil der Bosnjaken und ihrer politischen Elite müssen aufhören sich nach wie vor nur als politisches Opfer zu sehen und die Republika Srpska als Ergebnis eines Völkermordes darzustellen. Selbst wenn dem so wäre, müssen Bosniaken und Serben in einem Staat zusammenleben, und die starke Fokussierung auf die Vergangenheit verengt den Blick auf die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft. Damit einhergehen muss die schmerzliche Erkenntnis, das die bosniakisch-kroatische Föderation mit ihren zehn Kantonen in der Frage der Staatsreform selbst das viel größere Problem darstellt als der zentralistisch aufgebaute serbische Teilstaat. Eine Reform der Föderation ist daher ebenso unausweichlich. Leider gelang es dem größten Staatsvolk, den Bosniaken, bisher nicht in ausreichendem Maße, die Rolle eines Entwicklungsmotors zu spielen. Hätte die mit einer weiter stärkeren industriellen Basis ausgestatte Föderation je die Rolle der Bundesrepublik Deutschland (BRD) spielen können, wären die materiellen Anreize für die Bürger der DDR (Republika Srpska) zur Integration wohl unvergleichlich stärker gewesen, denn am großen Entwicklungsrückstand der Föderation (Stichwort Autobahnen) sind die bosnischen Serben jedenfalls nicht schuld.
Bei der Neugestaltung Bosniens müssen auch die Ansprüche der kroatischen Volksgruppe sinnvoll berücksichtigt werden, nicht zuletzt um alle jene Probleme in den Griff zu bekommen, die mit dem Stichwort Mostar verbunden sind. Außerdem muss die EU auf die Regierung in Agram und noch weit wichtiger auf die Regierung in Belgrad „einwirken“, damit beide Staaten ihren Landleuten in Bosnien klarmachen, dass ihre Hauptstadt Sarajewo heißt.
Schließlich und endlich muss eine vernünftige Lösung für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen gefunden werden, die während des Krieges in Bosnien begangen wurde. Dabei geht es weniger um die Fälle Radovan Karadzic und Ratko Mladic, die schließlich 2008 und 2011 in Serbien gefasst und an das Haager Tribunal ausgeliefert wurden. Vielmehr geht es um all jene, die auf allen Seiten Verbrechen begangen haben und heute als „Nachbar“ in Bosnien leben. Zwar ist nicht damit zu rechnen, dass noch 11.000 Fälle aufgearbeitet werden, sollte diese Zahl denn stimmen, doch schwere Taten dürfen nicht unter den Tisch fallen, das ist auch die internationalen Gemeinschaft den Opfern schuldig. Gleichzeitig muss aber auch klar sein, dass Aussöhnung und Zusammenleben – so schlimm das auch klingen mag – auch Vernarben- und Vergessen-Können voraussetzen. Das permanente Aufreißen von Wunden ist jedenfalls keine gute Voraussetzung für Heilung, und Heilung heißt im Falle Bosniens und Herzegowinas ein Zusammenleben jenseits des Krieges und damit auf neuer Grundlage. Somit sollte es auch für die juristische Aufarbeitung dieser Fälle eine Fallfrist geben.
Hat Bosnien und Herzegowina als Staat eine Zukunft? Ich glaube ja, und zwar vor allem aus Mangel an Alternativen, obwohl für mich die Existenz dieses Staates am Balkan noch nicht endgültig gesichert ist. Denn eine Teilung des Staates hätte massive Folgen für den gesamten Balkan und wird weder von Kroatien noch von Serbien gewollt, denn diese Länder haben genügend eigene Probleme, auch wenn Kroatien mittlerweile bereits den Beitritt zur EU erreicht hat. Entscheidend ist, dass Bosnien EU-tauglich wird und bis zum Beitritt durchhält, denn innerhalb der EU werden ganz andere regionale Kooperationen (Herzegowina – Dalmatien, Banja Luka – Agram) in viel entspannterer Atmosphäre möglich sein. Bosnien und Herzegowina muss somit zu einer Art Belgien werden, das wohl nur deshalb besteht, weil es bereits EU-Mitglied und weil Brüssel die „Hauptstadt“ der EU ist, und eine Teilung dieser Stadt de facto nicht möglich erscheint. Der Weg, um aus Bosnien Belgien zu machen, wird ein steiniger sein – doch diese Anstrengung muss auch aus historischer Verantwortung des Westens für Bosnien und für den Balkan unternommen werden, weil ohne eine dauerhafte Befriedung der Region auch der Friede in Europa nicht wirklich gesichert ist. Eine effizientere EU-Bürokratie in Sarajewo und Brüssel ist daher ebenso wünschenswert. Gangbar ist dieser Weg aber nicht ohne die zentrale Mitwirkung der lokalen Politiker, denen EU und internationale Finanzinstitutionen vielleicht viel öfter und stärker den Geldhahn abdrehen sollten, um die Transformation von Bosnien zu Belgien für die Bürger des Landes spürbar zu beschleunigen.