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Von Vilnius zum Vasallen der USA

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Kronen Zeitung
Berichte Ukraine


Janukowitsch soll für seine Unterschrift 160 Milliarden Euro bis 2016 an finanzieller Unterstützung verlangt haben; sein Regierungschef Nikola Asarow sprach mir gegenüber bei einem Interview von 17 Milliarden im ersten Jahr. Brüssel sagte Nein – 10 Jahre später und im zweiten Kriegsjahr sind die EU und ihre Mitglieder schon weit über diese Summen hinaus; hinzukommt: 60 Milliarden sollen westliche Geber für den Wiederaufbau bereitstellen, dessen Finanzbedarf derzeit auf bis zu 700 Milliarden Euro geschätzt wird.
Nach dem EU-Gipfel in Vilnius begannen in Kiew die Maidan-Proteste; auf Janukowitschs Sturz folgte die russische Annexion der Krim, der Krieg in der Ostukraine sowie die Friedensvereinbarung von Minsk, die nie umgesetzt wurde, dem Land aber eine Atempause von acht Jahren verschaffte; sie haben leider weder Kiew, Moskau, Brüssel noch Washington dazu genutzt, eine Lösung für die geopolitische Orientierung der Ukraine am eurasischen Kontinent zu finden.

Um diese Positionierung wird nun seit 24. Februar 2022 auf dem Schlachtfeld gerungen, und zwar mit durchaus wechselhaftem Kriegsglück. Klar ist, dass Russland seine hochgesteckten Kriegsziele verfehlt hat. Klar ist aber auch, dass die Gegenoffensive der Ukraine jedenfalls bis dato keine strategische Wende zugunsten von Kiew gebracht hat. Im Gegensatz zur Mathematik ist Krieg keine exakte Wissenschaft; derzeit ist davon auszugehen, dass der Abnützungskrieg andauern wird, und zwar ohne entscheidende Vorteile für die eine oder andere Seite. In diesem Sinne sind zwei Artikel interessant, die in der Juli/August-Ausgabe der einflussreichen US-Fachzeitschrift „Foreign Affairs“ erschienen sind: der eine Artikel trägt den Titel „Der nicht gewinnbare Krieg“, der zweite „Das Korea-Modell“. Beide Autoren treten dafür ein, so rasch wie möglich Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu beginnen, ohne dass deshalb die Kämpfe in der Ukraine eingestellt werden müssten; denn auch im Falle des Korea-Krieges hätten derartige Verhandlungen zwei Jahre gedauert, während beide Seiten auf dem Schlachtfeld hohe Verluste erlitten haben.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ukraine nicht nur ständig neue und bessere Waffen braucht, die vor allem die USA nur unter Vorbehalten liefern (F-16); viel entscheidender ist der demographische Wettlauf der Ukraine gegen die Zeit. Je länger der Krieg dauert, desto weniger der acht Millionen Flüchtlinge werden zurückkehren; doch geflohen sind vor allem Frauen und Kinder; werden deren Männer und Väter nach dem Krieg ebenfalls auswandern, oder werden die Familien in der Ukraine zusammengeführt? Hinzukommt eine unbekannte Anzahl an Gefallenen und Verwundeten. Die Bevölkerungszahl wird weiter sinken, obwohl bereits jetzt in der Landwirtschaft Arbeitskräftemangel herrscht. Wer soll dann den Wiederaufbau durchführen, wenn massenhaft Arbeitskräfte fehlen?

Doch auch Russland steht vor massiven Herausforderungen, wobei die Wagner-Revolte und ihre Folgen gezeigt haben, dass es offensichtlich im hohen Offizierskorps beträchtliche Konflikte gibt. Trotzdem bleibt offen, ob Russland und die Ukraine ohne massiven internationalen Druck (USA, China) bereit sein werden, zu verhandeln, und ob Washington und Peking bereit sein werden, diesen Druck auszuüben. Moskau und Kiew sind bei ihren Kriegszielen meilenweit voneinander entfernt, wobei Kiew nicht zu Unrecht fürchtet, dass ein Waffenstillstand für Russland nur eine Atempause darstellen würde, um bei „günstigerem Wind“ neuerlich anzugreifen. Im Falle Moskaus ist höchst fraglich, welche Motivation für Verhandlungen bestehen soll, wenn eine Feuerpause nur zu einer weiteren Westintegration der Ukraine genutzt wird. Das gilt noch stärker für einen Friedensvertrag, sollte darauf die Aufnahme der Ukraine in die NATO folgen, zählt doch die Verhinderung des NATO-Beitritts zu den erklärten russischen Kriegszielen.

Nimmt man jedenfalls den jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius als Maßstab, so wird die Zukunft der Ukraine eindeutig im Westen liegen: „Die Zukunft der Ukraine ist in der NATO“, heißt es im Abschlussdokument; die Aufnahme solle erfolgen, wenn alle „Bedingungen“ erfüllt seien; dazu zählt vor allem das Kriegsende. Fallen gelassen wurden technische Vorbedingungen, geschaffen wurde ein NATO-Ukraine-Rat, der Kiew eine stärkere Stellung gegenüber dem Bündnis einräumt. Die NATO-Mitgliedschaft wurde der Ukraine zwar bereits auch 2008 beim NATO-Gipfel in Bukarest zugesagt, doch in den vergangenen 15 Jahren haben sich die Kräfteverhältnisse in der EU, im Verhältnis der EU-Staaten zueinander sowie die Position der USA drastisch verändert. Ein Mosaikstein ist dabei der Krieg Russlands gegen die Ukraine. So sollen es vor allem Polen, die Balten und andere Staaten Ostmitteleuropas gewesen sein, die vor Vilnius massiven Druck auf die USA ausgeübt und für einen NATO-Beitritt der Ukraine lobbyiert haben. Die politische Bedeutung dieser Staaten für die USA nimmt zu, während die Bedeutung Deutschlands aber auch Frankreichs abnimmt; diese Entwicklung wird auch die Haltung von NATO und EU gegenüber Russland beeinflussen.

Doch spürbar sind auch die Kräfteverschiebungen im transatlantischen Verhältnis insgesamt. So Schreibt der US-Kolumnist Michael Lind einen Beitrag mit dem Titel: „Bei der Nato eroberte Amerika Europa zurück - Unser neuer Kalter Krieg hat die EU in ein Protektorat verwandelt“; darin heißt es:

„Nach dem Nato-Gipfel in dieser Woche kann man nur zu dem Schluss kommen, dass der Traum von der militärischen Unabhängigkeit Europas erneut verschoben werden muss, dieses Mal um ein Jahrzehnt, eine Generation oder sogar länger. Die Reaktion auf Putins Invasion zeigte, dass nur die USA über die Geschlossenheit und die militärische Infrastruktur verfügen, um multinationale Militäranstrengungen in oder in der Nähe von Europa zu koordinieren. Der Konflikt hat die Abhängigkeit der europäischen Verbündeten Amerikas vom US-Militär noch dramatischer verdeutlicht als die Balkankriege und das Libyen-Abenteuer.

Die Ausweitung der Nato auf Finnland und Schweden sowie mit ziemlicher Sicherheit in relativ naher Zukunft auf die Ukraine wird den Einfluss der USA im transatlantischen Bündnis nur noch weiter stärken. Generell gilt: Je näher ein Nato-Land an Russland steht, desto günstiger ist es tendenziell den USA gegenüber.“

Doch nicht nur militärisch, auch wirtschaftlich und demographisch schlägt das Pendel zwischen Washington und Brüssel immer deutlicher zugunsten der USA aus. Das zeigt eine Analyse, der zwei Autoren des “European Council on Foreign Relations“ im April dieses Jahres unter folgendem Titel schrieben: „The art of vassalisation: How Russia’s war on Ukraine has transformed transatlantic relations“ (Die Kunst der Vasallisierung: Wie Russlands Krieg gegen die Ukraine die transatlantischen Beziehungen verändert hat.) Die Autoren warnen davor, dass die EU immer stärker zum Vasallen der USA wird, und zwar auch in deren größtem, langfristigen Konflikt, in der Auseinandersetzung mit China:

„Im letzten Jahrzehnt ist die EU wirtschaftlich, technologisch und militärisch relativ schwächer geworden als Amerika. Im Kalten Krieg war Europa eine zentrale Front im Wettbewerb der Supermächte. Nun erwarten die USA, dass sich die EU und das Vereinigte Königreich ihrer China-Strategie anschließen und werden ihre Führungsposition nutzen, um
dies sicherzustellen.“

Somit geht es zwangsläufig auch um Wohlstand und Arbeitsplätze in der EU und damit auch in Österreich. Als noch der amerikanische „Gott-sei-bei-uns“ der politischen Klasse in Europa, Donald Trump, um Weißen Haus regierte, sprachen Merkel, Van der Leyen und Co noch von der Eigenständigkeit, die Europa gegenüber den USA erlangen müsse. Geschehen ist nicht nur nichts; vielmehr sind die EU und ihre Mitglieder „reumütig“ in den Schoß der USA zurückgekehrt. Henry Kissinger verglich einmal die Beziehungen zwischen den USA und Europa mit dem Verhältnis zwischen dem Römischen Reich und den alten Griechen, die zwar stets über die „Barbaren“ lästerten, aber gut unter ihrem Schutze lebten. Ob sich Europa dieses Verhalten im Titanen-Kampf zwischen China und den USA weiter leisten kann, muss bezweifelt werden.

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