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Interview mit Leonid Kutschma

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Berichte Ukraine
Mit ersten Jänner übernimmt Österreich den Vorsitz in der OSCE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Daher wird Außenminister Sebastian Kurz bereits Anfang Jänner in die Ostukraine kommen, um sich in der Nähe der Frontlinie selbst ein Bild von der Lage zu machen. Eine ihrer zentralen Aufgaben der OSZE ist es, einen stabilen Waffenstillstand durch eine Truppenentflechtung an der etwa 500 Kilometer langen Frontlinie zu erreichen; auch darüber wird bei den Friedensgesprächen in Minsk ebenso verhandelt wie über eine politische Lösung. 16 Österreicher sind als Beobachter im Einsatz. Eine wichtige Rolle spielt Österreich auf diplomatischer Ebene, weil es mit Martin Sajdik den Chefvermittler in Minsk stellt. Leiter der ukrainischen Delegation in Minsk ist Leonid Kutschma, der zweite Präsident der unabhängigen Ukraine. Im Exklusivinterview mit Christian Wehrschütz in Kiew, formuliert Kutschma Österreichs zentrale Aufgabe als Vorsitzland der OSZE, so:

  

"Zu Beginn muss man versuchen, das wichtigste Problem zu lösen, das ist die Beendigung der Kämpfe, dass man aufhört, einander zu töten. Wenn die Feuerpause eingehalten wird, kann man am Verhandlungstisch alle anderen Probleme lösen. Hier haben Österreich und die OSZE eine wirklich grundlegende Rolle zu spielen."



Die Erfolgschancen Österreichs beurteilt Kutschma nicht gerade rosig:



"Ich sehe vor allem nicht den Wunsch Russlands, in nächster Zeit diesen Konflikt zu beenden. Das ähnelnd schon mehr allen anderen Konflikten im post-sowjetischen Raum, von denen kein einziger bisher beendet worden ist. Für Berg-Karabach wurde 1992 eine Kommission geschaffen, und wie viel Zeit ist vergangen. Daher glaube ich nicht, dass der Konflikt in der Ukraine morgen oder übermorgen enden wird; das entspricht heute mehr einem eingefrorenen Konflikt, weil das im Interesse einer Seite liegt."



Als zweiter Präsident der Ukraine hat Kutschma Wladimir Putin mehrfach getroffen; auch die prorussischen Rebellen in Donezk und Lugansk kennt Kutschma von vielen Gesprächsrunden. Deren Forderungen an die Ukraine seinen oft unannehmbar, betont Kutschma:



"Das einfachste Beispiel ist Russlands Forderung nach einer Föderalisierung der Ukraine. Daher frage ich immer meine russischen Kollegen: "Wie heißt ihr Land?" – „Russländische Föderative Republik“. Doch wo ist diese Föderation? Das ist eine mit eiserner Disziplin gestaltete hierarchische Struktur. Sie wollen eine föderale Struktur der Ukraine mit der Perspektive, dass die Ukraine als Staat zerfiele. Wenn Lugansk und Donezk einen Sonderstatus erhielten, warum sollte er dann Odessa, Charkiw oder dem Transkarpaten-Gebiet verwehrt werden, das ebenfalls seine besondere Geschichte hat?“



Kritisch sieht der zweite ukrainische Präsident aber auch die Rolle der EU und vieler ihrer Mitgliedsstaaten:



"Europa gestaltet seine Beziehungen zu uns bis heute über Moskau. Das gilt auch für die Konfliktlösung, weil viele europäische Hauptstädte überlegen, was Moskau darüber denkt, und was sie verlieren könnten. Niemand ist interessiert, die Ukraine wirklich als gleichberechtigten, strategischen Partner zu betrachten; das gilt natürlich nicht für Polen und die drei Baltischen Staaten, doch ihre Stimmen reichen nicht aus; und Sie kennen auch die Haltung Österreichs - was ist das die Ukraine? Russland dagegen, das ist ein großer Markt."



Die Ukraine hat diesen Markt durch Krieg und Handelskrieg praktisch verloren; die einseitige außenpolitische Orientierung von Staatspräsident Petro Poroschenko auf den Westen hält Kutschma für falsch:



"Ich war, bin und bleibe der Anhänger eine Außenpolitik, die mehrere Richtungen hat. Da kam der Herr Poroschenko und sagte, wir brauchen Russland nicht, wir orientieren uns nur auf Europa hin und haben nur eine Richtung. Das was Kutschma gemacht hat, war schädlich für die Ukraine. Und was zeigte sich: Europa braucht uns nicht, und Russland und den Markt der anderen post-sowjetischen Staaten haben wir verloren."



Und wie beurteilt Kutschma das Bestreben von Präsident und Regierung in Kiew, die Ukraine in Richtung EU zu führen? Leonid Kutschma:



"Heute ist die Ukraine von einer EU-Integration viel weiter entfernt als in der Zeit als ich Präsident war. Wahrscheinlich haben uns damals auch die Europäer besser verstanden als heute in Verbindung mit all den Ereignissen in der EU selbst, wie zum Beispiel dem Brexit. Ich habe mehrmals gesagt, dass die Ukraine die Verhandlungen über eine EU-Annäherung abbrechen soll. Sie ist für uns deshalb nicht vorteilhaft, weil im Falle einer völligen Marktöffnung unsere Produkte einfach nicht konkurrenzfähig gegenüber den europäischen Produkten sind. Die Ukraine muss zu aller erst daran interessiert sein, eine starke Industrie mit Hochtechnologie zu haben; dadurch sollen wir in Europa bekannt sein, und nicht nur, weil man sich daran erinnert, dass sich bei uns Tschernobyl ereignet hat und mehr weiß man nicht."
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