Russische Zuwanderer in Novi Sad
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Theaterprobe im Vereinslokal der russischen Gemeinschaft in Novi Sad; drei Mädchen und drei Buben üben für einen Auftritt zum russischen Neujahr unter Leitung von Marina Galogaza; die 47-jährige Russin mit schwarzem Haar ist ein Energiebündel und die treibende Kraft der russischen Zuwanderer; zentrales Kommunikationsmittel ist das Facebook; genutzt werden zu den Treffen Räumlichkeiten der russischen Firma Gazprom, die vor einigen Jahren den serbischen Energiekonzern NIS übernommen hat. Marina Galogaza heiratete vor fast 25 Jahren in Moskau einen Serben; das Paar hat zwei erwachsene Kinder, die bereits in Novi Sad in die Schule gingen aber auch fließend Russisch sprechen. 5.000 Russen dürften in Novi Sad leben; 40 Prozent sind Kinder und Jugendliche, ihnen werde besondere Aufmerksamkeit gewidmet, betont Marina Galogaza
„Russland organisiert jedes Jahr Sportwettkämpfe in Sotchi für Jugendliche, die im Ausland leben. Daran nehmen unsere Kinder im Alter von 12 bis 14 Jahren teil. Das gilt auch für andere Programme, die dazu dienen, Russland kennenzulernen. Solange die Kinder nicht in Russland waren, fehlt ihnen diese Identität; das gilt vor allem für Kinder, die in Serbien geboren sind. Dank dieser Programme verstehen die Kinder, dass sie auch Russen sind. Das weckt dann auch das Interesse an der russischen Sprache. Denn Russisch und Serbisch sind sehr ähnlich, daher verliert man sehr schnell eine Sprache. Wir tun alles, was wir als Gemeinschaft tun nicht für irgendwen, sondern für uns selbst, für unsere Kinder, damit wir bleiben, wer wir sind.“
Novi Sad zählt so viele Bewohner wie Graz; Belgrad entspricht Wien. Doch nicht nur Größenunterschiede beeinflussen die Entscheidung der Russen über die Wahl ihres Lebensmittelpunktes in Serbien, erläutert Marina Galogaza:
„In Novi Sad leben die Russen enger beisammen; daher ist die Lebensart anders als in Belgrad; dort sind die Distanzen größer; dort ist es chaotischer, türkischer. Daher bevorzugt die Mehrheit der Russen Novi Sad; das gilt für jene, die nicht der Arbeit wegen hier sind, sondern die hier einen Platz zum Leben haben. Novi Sad ist eine ruhige Stadt, wo alles nach österreichischem Modell geordnet ist.“
Diese Einschätzung teilt Dimasch Letitsch; der Russe zog im Juni 2014 nach Belgrad, arbeitet als Übersetzer und betreibt ebenfalls über Facebook eine Plattform, die Russen über serbische Kultur und Lebensart informieren will. In Novi Sad seien gemeinsame Aktivitäten von Russen weit intensiver und viel leichter zu organisieren, betont Dimasch Letitsch:
„In Belgrad haben wir in diesem Jahr begonnen, uns zu Gesellschaftsspielen zu treffen. Generell sind die Kontakte ziemlich selten; am häufigsten finden Interessensgruppen zusammen. So gibt es eine facebook-Gruppe „Russen in Belgrad“, die eine der größten Plattformen darstellt. Jüngst überschritten wir die Schwelle von 2.000 facebook-Freunden; das haben wir gefeiert. Generell treffen wir einander, wenn aus Russland Kulturschaffende hierher kommen.“
Nach Zerfall Sowjetunion kamen viele Russinnen wie Marina Galogaza durch Herat nach Serbien; wer sind aber nun die Russen, die vor allem in den vergangenen Jahren nach Serbien eingewandert sind? Sie teilt Dimasch Letitsch in drei Gruppen ein:
„Die erste umfasst Russen, die aus Großstädten wie Moskau und Petersburg stammen. Sie haben ihre Immobilien vermietet und leben hier von der Miete. Die zweite Gruppe, zu der ich gehöre, sind Personen, deren Arbeit an keinen festen Ort gebunden ist. Als Übersetzer brauche ich Wörterbücher, ein Notebook und das Internet. So kann ich hier arbeiten, werde von russischen Firmen in Euro bezahlt und gebe das Geld hier aus. Durch den Kursunterschied ist mein Gehalt hier doppelt so hoch wie in Russland. Die dritte Gruppe umfasst schließlich Personen, die in Serbien ein Unternehmen gegründet haben, und hier zu arbeiten versuchen.“
Zwar hat der Verfall des Rubel die Attraktivität Serbiens für Pensionisten verringert, doch ein weiteres Motiv für die Zuwanderung blieb davon unberührt – die Kinder. Sie werden bei einem Treffen in einer Schule in Novi Sad von Müttern immer wieder als Argument genannt. Allein Moskau habe mehr Einwohner als Serbien, betont Julia, die mit ihrem russischen Mann und zwei Kindern seit einigen Jahren in Novi Sad lebt:
„Hier ist es ruhiger für die Kinder; sie leben freier und sicherer als in den großen Städten, als in den russischen Metropolen. Meine Kinder schaffen es hier Sport zu treiben und zu lernen; es bleibt viel Energie für viele Dinge. Für die Kindererziehung sind die Bedingungen besser.“
Derselben Meinung ist Anastasia, die nach ihrer Scheidung in Moskau mit ihren zwei Kindern zunächst nach Montenegro und dann nach Novi Sad zog. Anastasia ist Innenarchitektin und arbeitet via Internet noch vorwiegend für Kunden in Russland. Für sie als Alleinerzieherin sei das Leben in Novi Sad leichter, sagt Anastasia:
„Ich glaube, dass ich mehr Mut gebraucht hätte in Moskau zu bleiben, denn es ist kompliziert in einer großen Stadt. Die Kinder müssen in die Schule gehen, und ich brauche - wenn ich in einer Firma arbeitet – mindestens eineinhalb Stunden zur Arbeit, ganz gleich ob mit dem Auto oder der U-Bahn. Daher habe ich entscheiden, dass ich an einem kleineren Ort mit einem guten Ausblick aus dem Fenster leben will.“
In Novi Sad gibt es eine Schule, in der russische und serbische Kinder nicht nur gemeinsam, sondern auch zweisprachig unterrichtet werden. Diese Schule besuchen auch die Kinder von Julia und Anastasia. Wie und warum es zu dieser Form des Unterrichts kam, erzählt Suzana Ilic, die Schuldirektorin in Novi Sad:
„Insbesondere die Firma Gazprom war daran interessiert, weil immer Russen hierher zur Arbeit kamen. Sie blieben einige Jahre und ihre Kinder brauchten die Möglichkeit einer Anpassung wegen der sprachlichen Barrieren, die es zu Beginn gab. Außerdem sollten sich die Kinder im Fall der Rückkehr leicht wieder an die russische Muttersprache gewöhnen können. Somit ging die Initiative von Gazprom aus, hinzu kamen Russen, die in Novi Sad lebten; und für deren Kinder bestand ebenfalls Bedarf. Groß war auch das Interesse viele Serben, die ihre Kinder zweisprachig unterrichtet sehen wollten.“
Nicht besonders intensiv ist offenbar der Kontakt zwischen Russen, die nur auf Dienstreise in Serbien sind, und Russen, die Serbien zu ihrem Lebensmittelpunkt gewählt haben. Natürlich brauchen auch russische Zuwanderer Zeit, um sich zu akklimatisieren; doch vor dem Balkan-Virus, vor der Lebensart am Balkan. sind auch sie nicht gefeit – trotz aller Unterschiede in der Mentalität; dazu sagt in Belgrad Dimasch Letitsch:
„Die Serben sind offener, ruhiger und geselliger. Das sehe ich bereits bei der Ankunft am Belgrader Flughafen. Die Serben kommen mit einem breiten Lächeln heraus, die Russen sind verschlossener. Doch das vergeht. Russen, die hier ein Jahr leben sind offener und gesprächsbereiter. Nach einem halben Jahr gehen auch sie gerne Kaffee trinken und sprechen offener über ihre Familie, über ihr Leben und über alles.“