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Serbien und das Haager Tribunal

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Europajournal 03092004 Serbien und das Haager Tribunal Wehrschütz Mod

Vor dem Haager Tribunal hat am Dienstag Slobodan Milosevic mit seiner Verteidigung begonnen. Obwohl an diesem Tag mehr Serben als sonst den Prozess vor dem Fernseher verfolgten, ist Milosevic schon lange kein Straßenfeger mehr. Politisch ist er bedeutungslos, obwohl seine These, der Westen sei schuld am Zerfall Jugoslawiens, in Serbien weit verbreitet ist. Klar ist auch die Haltung der Serben zum Tribunal, das als antiserbische, politische Institution betrachtet wird. Ähnliche Ansichten vertritt Ministerpräsident Vojislav Kostunica. Seine Regierung schreckt vor Auslieferungen auch zurück, um zwei Wochen vor den Lokalwahlen nicht noch unpopulärer zu werden, als es die Regierung wegen der schwierigen Wirtschaftslage ohnehin ist. Derartige Ängste plagten auch Kostunicas Amstvorgänger und so ist seit einem Jahr kein Angeklagter mehr ausgeliefert worden. Weit weniger bewusst sind sich die meisten Serben jedoch der Folgen dieser Politik. In Belgrad hat sich unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz mit der Frage befasst, welche Auswirkungen die mangelhafte Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal für die Annäherung Serbiens an die EU hat, warum das Tribunal auf eine derart massive Ablehnung stößt und warum es Kroatien anders als Serbien gelungen ist, dieses Problem zu lösen. Hier nun sein Bericht:

Mitte Juli erreichten die Beziehungen zwischen Belgrad und dem Haager Tribunal einen neuen Tiefpunkt. 17 Stunden nachdem Belgrad aus Den Haag Anklage und Haftbefehl gegen Goran Hadzic erhalten hatte, verschwand dieser unter den Augen von Mitarbeitern des Tribunals aus seinem Haus in Novi Sad. Hadzic war Mitte der 90iger Jahre Präsident der selbsternannten „Republika Srpska Krajina“ in Kroatien. Offenbar wurde Hadzic von Polizei oder Justiz in Serbien gewarnt und konnte so bis jetzt seiner Verhaftung entgehen. Goran Hadzic ist nur ein relativ kleiner Fisch unter den mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrechern. Gerade deshalb wirft seine Flucht umso stärker die Frage auf, inwieweit Serbien bereit ist, mit dem Tribunal zusammenzuarbeiten. Vier Generäle werden seit Monaten nicht ausgeliefert, doch am schwerwiegendsten ist der Fall Ratko Mladic. Der ehemalige General der bosnischen Serben, verantwortlich für das Massaker von Srebrenica, soll in Serbien untergetaucht sein. Nach ihm wird nun angeblich ernsthaft und unter internationaler Beteiligung gefahndet. Zum Problem Mladic sagt der für die Zusammenarbeit mit dem Tribunal zuständige Minister Rasim Ljajic:

„Wenn wir das Problem Mladic lösen, lösen wir auch unser Problem mit dem Haager Tribunal. Wenn nicht, fürchte ich, dass wir in eine ernste Krise geraten. Dem Land drohen zwar keine Sanktionen im formellen Sinne des Wortes, doch es drohen ein Treten auf der Stelle, Agonie, aus der man nur schwer herauskommen wird.“

Was das für Serbien bereits jetzt konkret bedeutet, erläutert Ljajic so:

„Wenn es keine Fortschritte bei den Verhandlungen mit der EU und keine Teilnahme am NATO-Programm Partnerschaft für den Frieden gibt, wenn es keine Investitionen und keine Finanzhilfe gibt, was ist das anders als eine Art von Sanktionen. Und dann bleiben wir das schwarze Loch Europas, und das ist der Preis der Nicht-Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal.“

Diese Nicht-Zusammenarbeit verstärkt auch die Sezessionsbestrebungen in Montenegro, schwächt die Position Belgrads bei Gesprächen über die Zukunft des Kosovo und weckt auch kein Vertrauen bei ausländischen Investoren, die Serbien so dringend braucht. Hinzu kommt, dass die USA ihre zwar eher geringe Finanzhilfe eingefroren haben und künftig auch die Finanzhilfe durch Weltbank und Internationalen Währungsfonds blockieren könnten. Doch auch eine kompromisslose Zusammenarbeit könnte Serbien massive Probleme bereiten. Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina haben Serbien vor dem Internationalen Gerichtshof wegen seiner Beteiligung an den Kriegen geklagt. Für dieses Verfahren könnte eine Verurteilung von Slobodan Milosevic in Den Haag eine Signalwirkung haben, und Serbien könnte zur Entschädigung in Milliardenhöhe verurteilt werden. Dazu sagt die serbische Intellektuelle Sonja Licht:

„Ich denke, dass die enormen Reparationsforderungen Bosniens und Kroatiens in Wirklichkeit ein politisches Problem sind, mit dem sich vor allem die internationale Gemeinschaft befassen muss. Klar ist jedem, dass Serbien niemals wird zahlen können, außer um den Preis der Vernichtung, die nicht nur die heutige und künftige Generation, sondern die gesamte Region gefährdet. Daher muss auf irgendeine Weise ein Kompromiss gefunden werden, der die Probleme nicht noch weiter vertieft, mit denen Serbien leben muss.“

Zu diesen Problemen zählen wirtschaftliche und soziale Krise, politische Instabilität und Polarisierung. Außerdem steht die Aufarbeitung der Vergangenheit erst am Beginn und vielen Serben ist nicht bewusst, wie katastrophal die Politik von Milosevic für sein eigenes Volk war. Hinzu kommt die massive Ablehnung des Haager Tribunals, die Sonja Licht so erklärt:

„Stark ist die Ablehnung vor allem, weil sehr lange ein Image geschaffen wurde, dass in Den Haag vor allem Serben vor Gericht stehen. Zweitens haben die Serben den Eindruck, dass einige, die sich schon in Den Haag befinden müssten, noch immer nicht dort sind und dass noch kein einziger Prozess begonnen hat, der Verbrechen behandelt, die im Kosovo an Serben begangen wurden.“

Im Gegensatz dazu hat Serbien bereits 15 Personen nach Den Haag überstellt. Daher ist es nicht völlig unverständlich, dass ein Drittel der Serben weitere Auslieferungen ablehnt, und drei Viertel im Tribunal eine antiserbische, politische Institution und kein Gericht sehen.Gleichzeitig bejaht eine große Mehrheit jedoch die Annäherung an die EU. Dazu sagt der Meinungsforscher Srdjan Bogosavljevic:

„Die Serben haben ein idealistisches Bild von Europa. Europa, das ist höherer Lebensstandard aber nicht mehr Konkurrenz. Es geht daher nicht um europäische Werte, sondern nur um den Standard. Die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal wird überhaupt nicht als Bedingung für die Europäische Union verstanden. Die Serben wissen, dass mit dem Tribunal zusammen gearbeitet werden muss, doch ein direkter Zusammenhang mit dem Anschluss an Europa, mit ausländischen Direkt-investitionen und ähnlichen Dingen wird nicht hergestellt.“

Für diese Konfusion macht der Wirtschaftsjournalist Vlastimir Stevanovic vor allem die serbischen Politiker verantwortlich:

„Die politische Elite kann sich nicht entscheiden, ob sie wirklich prowestlich orientiert ist. Dieser Konflikt zwischen einem prowestlichen Modernismus und einer eher xenophobischen Einstellung dauert an, und ein Ausweg ist noch nicht in Sicht. Wir waren Zeugen der Ermordung des prowestlichen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic, die einen historischen Prozess gestoppt hat und es ist eine große Frage, wie es weitergeht. In diesem Sinne sind auch die positiven Meinungsumfragen zur Europäischen Union schwer zu erklären, die den Umfragen zum Haager Tribunal völlig widersprechen. Denn jedem Kind muss klar sein, dass beides zusammenhängt. Diese Konfusion ruft die politische Elite hervor, die ständig unterschiedliche Botschaften aussendet.“

Dazu zählt Ministerpräsident Vojislav Kostunica, der dem Haager Tribunal sehr kritisch gegenüber steht. Das galt in seiner Oppositionszeit zunächst auch für den kroatischen Ministerpräsidenten Ivo Sanader. Doch Sanader gelang es, seine nationalistische Partei HDZ in die Mitte zu führen. Nach seinem Wahlsieg im Herbst setzte Sanader die Auslieferung mehrere Angeklagter durch und bereinigte das angespannte Verhältnis zum Haager Tribunal. Dazu sagt der in Serbien für die Zusammenarbeit mit dem Tribunal zuständige Minister Rasim Ljajic:

„Sanader hat sofort nach den Wahlen verstanden, dass das Haupthindernis für Kroatien auf dem Weg nach Europa das Haager Tribunal ist. Zweitens hatte Sanader auch eine angenehmere politische Lage, denn er musste nicht eine breite Koalitions-regierung bilden, weil die HDZ nur mit einigen kleinen Parteien zusammenarbeitet. In Serbien ist die Lage viel komplizierter. Mehrere Parteien bildeten die Regierung. Drittens wird es in Kroatien in kurzer Zeit keine neuen Wahlen geben und selbst wenn, könnte die HDZ mit noch mehr Stimmen rechnen. Denn Sanader könnte aus seiner Politik Kapital schlagen, weil Kroatien offizieller EU-Beitrittskandidat geworden ist.“

Doch es gibt noch viel gravierendere Unterschiede, die Sonja Licht so beschreibt:

„Kroatien kennt seine Staatsgrenze. Serbien hat noch immer Probleme mit dem ungeklärten Status des Kosovo und mit Montenegro, somit ist der Status Serbiens noch ungelöst. Kroatien hat außerdem ein Bruttoinlandsprodukt, das pro Kopf zwei bis drei Mal höher ist und in Kroatien hat die Regierung vier Jahre überdauert. Kroatien ist daher in eine viel normalere Dynamik eingetreten als Serbien. Außerdem sind in Kroatien alle Hauptakteure wie Präsident Tudjman, die nach Den Haag hätten gehen müssen, bereits gestorben. So war Kroatien nicht mit all jenen Herausforderungen konfrontiert wie Serbien, wo ein Präsident nach dem anderen nach Den Haag gehen musste.“

Kritisch bewertet Rasim Ljajic jedenfalls die Rolle, die das Tribunal, bei der Bewältigung dieser Herausforderungen bisher gespielt hat:

„Das Tribunal hat drei Funktionen zu erfüllen: die Individualisierung der Schuld, Hilfe bei der Vergangenheitsbewältigung und bei der Aussöhnung in der Region. Ich fürchte dass von den drei Punkten bisher nichts erreicht wurde. Selbst bei der Haupt- aufgabe, der Individualisierung der Schuld, ist die Wahrnehmung der Öffentlichkeit eine völlig andere. Auch der Prozess der Vergangenheitsbewältigung wird im gesamten ehemaligen Jugoslawien sehr lange dauern. Der Krieg war sehr blutig, mit sehr vielen Opfern, und in den kommenden Jahrzehnten werden wir mit den Folgen dieser Kriege konfrontiert sein. In Serbien gilt das auch für die Folgen der katastrophalen Politik von Slobodan Milosevic. Das wird weder leicht sein noch rasch gehen.“

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