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Vukovar und seine offenen Wunden

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Abgesehen von der bosnischen Stadt Srebrenica, die durch das Massaker an 8.000 Bosniaken traurige Berühmtheit erlangte, verkörpert wohl die kroatische Stadt Vukovar am eindrucksvollsten die Schrecken und langfristigen Folgen der Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Vor dem Krieg zählte die Stadt an der Donau im Grenzgebiet zu Serbien nach dem slowenischen Marburg zur reichsten Stadt im ehemaligen Jugoslawien. Mehr als 20 Jahre später ist sie noch immer eine wirtschaftliche Krisenregion. Im Krieg weitgehend zerstört verübten serbische Milizen nach dem Fall der Stadt Mitte November 1991 ein Massaker an 200 Zivilisten in einer nahegelegenen Schweinefarm. In der Stadt leben nun knapp 28.000 Einwohner, ein Drittel davon sind Serben. Sie haben daher Anspruch auf Aufschriften in kyrillischer Schrift; doch der Versuch der Umsetzung dieses Minderheitenrechts löste massive Proteste unter den Kroaten und in Kroatien aus. Beide Volksgruppen leben eher nebeneinander als miteinander, mit eigenen Kaffees, Kindergärten und Schulen. Unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz hat Vukovar besucht und den folgenden Beitrag über eine Stadt gezeichnet, die erst langsam zusammenwächst, in der aber beide Volksgruppen gemeinsam unter dem Fehlen einer sozialen Perspektive leiden.

Vukovar muss einst eine liebliche Kleinstadt der österreichisch-ungarischen Monarchie gewesen sein. Davon zeugt die Bausubstanz. Hervorzuheben ist das Schloss der Grafen von Eltz, das zu den schönsten Barockbauten Kroatiens zählt. 1991 im Krieg schwer beschädigt, wurde das Schloss wieder aufgebaut, beherbergt das Museum der Stadt und bieten einen schönen Blick über die Donau, die die Grenze zu Serbien bildet. An der Uferpromenade gibt es Kaffees und Restaurants sowie das Denkmal für die Verteidiger der Stadt. Immer weniger zerstörte Bauten sind in Vukovar zu sehen; das größte Problem ist heute nicht die Kriegszeit, sondern die Krise. Dazu sagt Ivan Marijanovic von der kroatischen Wirtschaftskammer in Vukovar:

„Im Vorjahr gab es keine ausländische Direktinvestition. Doch eine internationale Firma hat einen Erzeuger für Landwirtschaftsmaschinen gekauft. Diese Firma arbeitet nun sehr gut. Darüber hinaus haben wir ein kroatisch-internationales Gemeinschaftsunternehmen, das Pellets aus Biomasse und auch Ultraleichtflugzeuge aus Holz erzeugt. Schließlich produziert eine italienische Firma Kunstdünger, und es gab noch kleinere Investitionen für die Autoindustrie und die Landwirtschaft.“

Diese Investitionen sind zu wenig, um Vukovar den Wohlstand zurückzubringen, der vor dem Krieg herrschte. So hatte die größte Schuhfabrik Jugoslawiens, Borovo, mehr als 20.000 Beschäftigte; nun hat der Gigant von einst nur 1000 Mitarbeiter, viele Produktionshallen sind nach wie vor Ruinen. Vukovar zählt 28.000 Einwohner; jeder Dritte ist Pensionist, 3.000 Bürger sind arbeitslos gemeldet. Der Durchschnittslohn liegt bei 400 Euro; das ist um bis zu 50 Prozent niedriger als in Agram, während Lebensmittel kaum billiger sind. Die Abwanderung ist groß. Vukovar gleicht vielen Krisenregionen im ehemaligen Jugoslawien; anders sind viele Gesprächspartner, die man im Zentrum treffen kann. Dazu zählt eine Krankenschwester. Nach dem Krieg arbeitete die 60-jährige zunächst in Donaueschingen, dann wieder im Krankenhaus in Vukovar. Nun ist sie in Pension. Ihre Rückkehr begründet sie so:

„Ich bin zurückgekommen, um meinen Vater zu finden. Er wurde mit einem Kopfschuss getötet, in die Donau geworfen und tauchte in Serbien irgendwo wieder aus dem Wasser. 13 Jahre wusste ich nicht, wo er ist. Ich habe Blut für die DNS-Analyse gespendet und erst vor sechs Jahren erfuhr ich, dass er dort ist, und dann habe ich ihn zurückbekommen, um ihn hier begraben zu können.“

Nach drei Monaten Belagerung fiel Vukovar am 18. November 1991 in serbische Hand. Dieser Tag ist ein bedeutender Gedenktag in Kroatien; am 18. November besuchen Vukovar viele Spitzenpolitiker, doch dann herrscht wieder der triste Alltag. Von Gedenkreden und Versprechungen durch Regierungspolitiker hat auch die pensionierte Krankenschwester genug:

„Nur am 18. November kommt man nach Vukovar und besucht alles, doch alle übrigen Tage im Jahr macht man einen Bogen um Vukovar. Das ist die Wahrheit. Natürlich, wenn jetzt Wahlen bevorstehen, kommen wieder alle, doch dann wird alles wieder sehr rasch vergessen.“

Zum Spielball der Politik wurde Vukovar auch vor den kroatischen Lokalwahlen im Mai. Dabei ging es um den Gebrauch kyrillischer Aufschriften in der Stadt. Das bereits vor mehr als zehn Jahren beschlossene Gesetz über nationale Minderheiten sieht das Recht auf derartige Aufschriften vor, wenn in einer Gemeinde ein Drittel der Bevölkerung einer Minderheit angehört. Nach der Volkszählung aus dem Jahre 2011 leben in Vukovar 35 Prozent Serben und 57 Prozent Kroaten. Viele Serben betrachten bereits diese hohe Schwelle als Diskriminierung. Dazu zählt die pensionierte Serbisch-Lehrerin Mara Bekic-Vojnovic, die vor dem Krieg am Gymnasium in Vukovar unterrichtet hat:

„Schauen Sie sich doch nur den Prozentsatz an! 33,33 Prozent eines Volkes muss es geben, damit es das Recht auf seine Schrift bekommt – das ist reiner Chauvinismus. Wenn man sich die wilden Reaktionen darauf anschaut, weiß man, was Sache ist. Die Durchführung hängt natürlich vom Staat ab, der fast das ganze Volk gegen sich hat, und das sagt wiederum viel aus.“

Auf kroatischer Seite organisierten vor allem Veteranenverbände Demonstrationen gegen zweisprachige Aufschriften. Dagegen ist auch Tomo Josic; er kämpfte im Krieg in Vukovar; nach dem Fall der Stadt verbrachte Josic neun Monate in einem Lager in Serbien; im August 1992 wurde er gegen serbische Gefangene ausgetauscht. Anschließend arbeitete er mehrere Jahre als Krankenpfleger in Deutschland. Zum Interview trägt er ein Ruderleiberl mit der Aufschrift: „Für ein Kroatisches Vukovar, nein zur Kyrillischen Schrift“. Sein Nein begründet Tomo Josic so:

„Gegen Kyrillisch haben wir eigentlich gar nichts; das Problem ist, wie kam es dazu. 1991 haben die Serben unsere Stadt erobert; sie haben 25.000 Personen vertrieben, 5000 wurden ermordet; es gibt noch immer 400 Vermisste. Somit wurde mit Gewalt das ganze ethnische Bild verändert. Und jetzt zu sagen, es ist so, wir haben ein Drittel hier – aber wo sind unsere Leute, die ermordet wurden, die immer noch vermisst werden? Kein Mensch fragt danach, und deshalb sind wir eigentlich dagegen.“

Die Mitte-Links-Regierung in Agram weiß, wie sensibel das Thema ist. Sie konnte sich bisher nur zu Lippenbekenntnissen zum Rechtsstaat aufraffen; die konservative Opposition fordert überhaupt einen vorläufigen Verzicht auf kyrillische Aufschriften. Somit ist offen, wann das künftige EU-Mitglied Kroatien das Gesetz in Vukovar umsetzen wird. Zweifellos hat dieser Streit das Verhältnis zwischen Serben und Kroaten belastet. Weit dauerhafter konserviert die Spaltung jedoch das Schulsystem. Dazu sagt der serbische Abgeordnete im kroatischen Parlament, Dragan Crnogorac:

„Am Beginn der Reintegration der Stadt im Jänner 1998 haben kroatische Eltern dagegen gestreikt, dass serbische Lehrer auch kroatische Kinder unterrichten. Diese Eltern wollten auch nicht, dass serbische Lehrer in kroatischen Schulen arbeiten. Diese Lage hat sich nicht geändert. Vukovar hat sechs Grundschulen; in drei davon gibt es Unterricht auf Serbisch und in kyrillischer Schrift. In den anderen drei gibt es keine fünf Serben, die dort beschäftigt wären. Somit ist es klar, dass die kroatische Mehrheit keine Serben im Bildungssystem wünscht.“

Die Grundschule Nikola Andric ist ein Beispiel für die Trennung unter einem gemeinsamen Dach. 300 Kinder besuchen diese Schule, jeweils die Hälfte sind Kroaten und Serben. Den Unterschied beim Unterricht für die serbischen Kinder erläutert Schuldirektor Zeljko Kovacevic:

„Der Unterricht wird vollständig in Sprache und Schrift der nationalen Minderheit abgehalten. Den Lehrplan erstellt der kroatische Staat, der auch beim Unterricht in kroatischer Sprache angewandt wird. Für die nationale Minderheit gibt es zusätzlich vier Stunden Unterricht in serbischer Sprache pro Woche; im Rahmen der anderer Gegenstände wird auf Geschichte, Geographie, bildende Kunst und Musik der Minderheit eingegangen.“

Während die Klassen nach Kroaten und Serben getrennt sind, finden Schulveranstaltungen gemeinsam statt. Verständigungsprobleme gibt es nicht, weil Kroatisch und Serbisch im Grunde eine Sprache ist. Direktor Kovacevic betont, dass es noch nie nationale Konflikte zwischen Schülern gegeben habe. Das Problem seien vielmehr Eltern und Lehrer. Erst seit einem Jahr gibt es ein gemeinsames Konferenzzimmer; doch bei den Lehrern geht es weniger um die Nation als um den Arbeitsplatz; denn von einem getrennten Schulsystem profitieren eher serbische Lehrer, erläutert Zeljko Kovacevic:

„Die Minderheit fürchtet natürlich, keinen Arbeitsplatz zu bekommen. Das Gesetz über die nationale Minderheit sieht vor, dass ein Lehrer Priorität genießt, wenn es um den Unterricht in serbischer Sprache geht. Das ist ebenfalls ein Streitpunkt, und das macht natürlich Probleme bei der Integration.“

Umstritten ist, ob bei Einstellungen in Polizei, Justiz und Verwaltung Serben benachteiligt werden. Der Bürgermeister von Vukovar, Zeljko Sabo, bestreitet eine Diskriminierung. Bei der Lokalwahl im Mai wurde der Sozialdemokrat im Amt bestätigt, wohl auch mit serbischen Stimmen, denn für die Minderheit sind nach dem Streit um kyrillische Aufschriften konservative kroatische Parteien kaum wählbar. Zeljko Sabo ist gegen das getrennte Schulwesen, sieht aber Fortschritte beim Zusammenleben:

„Als ich 2009 Bürgermeister wurde, habe ich die serbischen Gemeinderäte und meinen Stellvertreter in ein kroatisches Lokal im Zentrum eingeladen und dort mit ihnen Kaffee getrunken. Andererseits habe ich Bürger, die mich sprechen wollten, am Nachmittag in einem serbischen Lokal getroffen. Das hat gewirkt, und ich glaube, dass die Teilung heute geringer geworden ist.“

Gegenteiliger Ansicht ist Tomo Josic, der Veteran des Kroatien-Krieges:

„Also ich meine, es leben mehr nebeneinander als miteinander; Unsere Stadt ist schon aufgeteilt – also es gibt Kaffees für die einen und die anderen, es gibt Schulen für die einen und die anderen. Alles ist irgendwie geteilt worden. Manche Plätze sind besetzt von beiden in unserer Stadt, doch meistens ist das irgendwie geteilt. Aber es ist irgendwie Ruhe – kein Mensch tut irgendjemandem etwas, es gibt keine Schlägereien, aber die Leute, die hier in Vukovar leben, die sehen diese Unterschiede schon.“

Doch es gibt auch positive Beispiele. Dazu zählt der lokale Fußballklub Vuteks. Er spielt zwar nur in der vierten kroatischen Liga, doch um den Aufstieg kämpfen Serben und Kroaten gemeinsam, betont der Trainer des Klubs, Zeljko Masar:

„Ich selbst bin Kroate und arbeite in einem Klub, der mehr serbische Mitglieder hat. Doch der Sport bringt wirklich die Menschen näher zusammen, und so haben wir in dieser Mannschaft auch kroatische Spieler, die völlig akzeptiert sind. Im Klub bemerkt man wirklich keinerlei Unterschiede:“

Radio Donau ist ein weiteres Beispiel; der Sender ist das populärste Radio der Stadt, obwohl es Serbisch verwendet und viele Popgrößen aus Serbien spielt. Zum Erfolgsrezept sagt der Direktor von Radio Donau, Branislav Bijelic:

„Man hört uns, weil wir nicht durch Politik belastet sind; außerdem haben die Menschen von politischen und nationalen Konflikten und von Intoleranz genug. Unsere Themen umfassen alles, was die Bürger Vukovars berührt und müht. Unser Glück ist, dass viele, insbesondere die Jugend, diese Art von Musik lieben, und daher haben wir unsere Hörerschaft.“

Doch gerade bei unserem Besuch in der Redaktion strahlt der Sender eine beunruhigende Nachricht aus:

„Junge Menschen in Kroatien wollen keine Serben, Homosexuellen, Roma und Schwarze; das zeigt eine neue Umfrage der Friedrich-Ebertstiftung. Befragt wurden 1500 Junge im Alter von 14 bis 27 Jahren. Nur ein Prozent der Befragten gab an, einen Serben als Ehepartner zu wollen; 15 Prozent würden einen Serben als Nachbar akzeptieren. Die Daten sind schlechter als die Daten einer Umfrage, die 1999, fünf Jahre nach Kriegsende, erhoben wurden.“

Etwa 40 Prozent der jungen Kroaten sind arbeitslos. Nach Spanien und Griechenland hat Kroatien somit die höchste Jugendarbeitslosigkeit in der EU. Die Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt auch, dass auch junge Kroaten einfach nur ein normales Leben führen möchten. Doch die Chancen sind nicht rosig und das begünstige alte und neue Feindbilder, erläutert in Agram der Philosoph Zarko Puhovski:

„Wir haben eine junge Generation, von denen einige in ihrem Leben nie eine Arbeit haben werden; das zu sagen, ist fürchterlich, aber so ist es. Das wissen diese Jungen nicht, doch es gibt das Gefühl, keine Perspektive zu haben. Diese Personen kommen aus Vorstädten und kleinen Orten und aus desillusionierten Familien. So aufzuwachsen, bedeutet eine enorme Belastung. Viele von ihnen sind sogenannte „Looser“ ohne Karriereaussichten; und dann braucht man ein klares Feindbild.“

Um Spannungen abzubauen ist es daher sehr wichtig, dass Kroatien und Serbien ihre Beziehungen weiter verbessern. Der gute Wille ist vorhanden, und bei der Suche nach Vermissten zeigt sich nun Belgrad sehr kooperativ. Und bei der Feier zum EU-Beitritt Kroatiens wird auch die serbische Führung in Agram vertreten sein. Besser zu nutzen gilt es die grenzüberschreitende Zusammenarbeit an der Donau. Davon kann Vukovar nur profitieren, dessen Bewohner die Kriegszeit hinter sich lassen wollen, wie Radio-Direktor Branislav Bijelic betont:

„Die einfachen Menschen wollen nicht in die Vergangenheit zurück, sondern einfach normal mit ihren Nachbarn leben, ganz gleich ob der Serbe oder Kroate ist. Die größte Disco der Stadt gehört einem Kroaten; in der Disco treten auch Sänger aus Serbien auf. In Vukovar geht es nur um das Überleben, das ist die Stadt mit dem niedrigsten Lebensstandard und den höchsten Preisen. Das ist das Problem. Die Menschen haben wirklich begonnen, mehr miteinander zu leben.“

Besser werden soll das Leben nun durch Geld aus der EU, das Kroatien nach dem Beitritt abrufen kann, wenn entsprechende Projekte eingereicht werden. Vukovar setzt jedenfalls auf die EU, um seine Infrastruktur zu verbessern, sagt Bürgermeister Zeljko Sabo:

„Die Stadt hat ein Projekt eingereicht, um durch EU-Fonds eine Kläranlage zu bauen. Dabei geht es um eine Investition von 48 Millionen Euro. Die Umsetzung dieses Projekts soll im kommenden Jahr beginnen. Dann wird das Wasser, das in die Donau rinnt, bald Trinkwasserqualität haben.“

Die Bürger von Vukovar setzten dagegen keine großen Erwartungen auf den EU-Beitritt, wie eine Straßenbefragung zeigt:

Student:

„Überhaupt nichts. Vielleicht wird die Ausbildung besser, doch das braucht Zeit.“

Frau:

„Vielleicht mehr Verkehr auf der Donau, vielleicht neue Arbeitsplätze, ich weiß es wirklich nicht.“

Frau:

„Ich erwarte, dass es besser wird, doch ich bin kein großer Optimist.“

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Kroatien nach dem EU-Beitritt zunächst ein massiver Anpassungsschock mit eher steigender Arbeitslosigkeit bevorsteht, ehe es nach einigen Jahren besser wird. Umso wichtiger ist es, den Frieden zwischen den Volksgruppen in Vukovar zu wahren. Keine 20 Jahre nach Kriegsende ist das bisher gelungen, und das ist der eigentlich positive Eindruck, den dieses Städtchen an der Donau hinterlässt.

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