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Vom Westbalkan zum Restbalkan

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Vom Westbalkan zum Restbalkan

Nach Kroatien steht den anderen EU-Werbern Südosteuropas ein dorniger Weg bevor

Am 22. Jänner 2012 fand in Kroatien die Volksabstimmung über den EU-Beitritt statt. Dabei stimmten etwa Zwei Drittel der teilnehmenden Kroaten für die Mitgliedschaft in der EU. Mit 43 Prozent war die Beteiligung an der Abstimmung jedoch gering, und zwar sogar noch geringer als in Ungarn. Dort stimmten beim Referendum am12. April 2003 nur knapp 46 Prozent der Stimmberechtigten ab, wobei damals 84 Prozent für den Beitritt votierten. Selbst wenn man außerordentlich ungeordneten Wählerlisten in Kroatien in Rechnung stellt, so dürfte gerade jeder zweite Kroate an der Abstimmung teilgenommen haben. Dagegen lag die Beteiligung im Nachbarland Slowenien bei 60 Prozent und für die EU stimmten sogar 90 Prozent der Slowenen.

Während die niedrige Beteiligung in Ungarn auch auf die bereits damals nicht rosige Wirtschaftslage zurückzuführen war, macht der Unterschied zwischen Slowenien und Kroatien die unterschiedlichen Rahmenbedingungen deutlich, die zwischen den Jahren 2004 und 2012 liegen. Es sind dies die tiefe wirtschaftliche und finanzielle Krise, die sowohl in der EU als auch in Kroatien herrscht. Angesichts dieser Tatsache lassen sich folgende Gründe für die Zustimmung der Kroaten nennen: der Wunsch der „Rückkehr nach Europa“, die Hoffnung, durch reichliche fließende Mittel der EU die eigene auch hausgemachte Krise überhaupt meistern zu können, die Angst vor einer Herabstufung durch Rating-Agenturen auf Ramsch-Status, die im Falle eines negativen Ausgangs des Referendums wohl unvermeidlich gewesen wäre, und der Mangel an einer vernünftigen Alternative. Hinzu kommt, dass praktisch die gesamte politische Elite des Landes für den EU-Beitritt war. Im Parlament mit seinen 151 Abgeordneten gibt es vielleicht ein, zwei EU-skeptische Abgeordnete, während nach Umfragen zwischen 40 und 50 Prozent der EU kritisch bis ablehnend gegenüberstehen. Da es auch in der Politik kein Vakuum gibt, stellt sich die Frage, ob in der Parteienlandschaft künftig nicht doch auch mit dem Auftreten einer Anti-EU-Partei zu rechnen sein wird?

Auf dem Weg Richtung EU war und ist Kroatien ein Nachzügler. Das hängt mit der nationalistischen Politik von Staatsgründer Franjo Tudjman zusammen, der sein Land nicht nur in die Unabhängigkeit, sondern auch in die politische Isolation führte. Somit ist Kroatien, das am 1. Juli 2013 der EU beitreten soll nach Griechenland (1981) das bisher einzige Land, das allein in die EU aufgenommen wird. Natürlich wird der Beitritt zur EU dazu führen, dass Kroatien gegenüber den anderen Beitrittswerbern nun auch die Regeln der EU (Drittstaaten-Bestimmungen im Warenverkehr etc.) anzuwenden haben wird; das wird die Region aber auch die kroatische Tabakindustrie treffen, die ihre Produkte bisher zollfrei etwa nach Bosnien und Herzegowina exportieren konnte, nun aber 15 Prozent Zoll zahlen wird müssen; trotzdem überwiegen eindeutig die positiven Seiten der Mitgliedschaft. Für die restlichen Länder des Westbalkan (Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Mazedonien, Kosovo und Albanien) ist der kroatische Beitritt aus vielen Gründen von großer Bedeutung, von denen einige genannt werden sollen. So zeigt die Überwindung aller Hindernisse auf dem Weg zur EU, dass

ein Land trotz der schweren Erblast eines Krieges (Flüchtlinge, Vertreibung, Haager Tribunal) die Herausforderungen eines Beitritts meistern kann;

dass sich der Kampf gegen Korruption, Organisierte Kriminalität und für einen Rechtsstaat für das Land selbst bezahlt macht – sprich, dass schmerzliche Reformen auch von der EU anerkannt werden;

dass schwierige bilaterale Probleme auch mit einem EU-Mitglied wie der Grenzstreit mit Slowenien lösbar sind, wenn entsprechender politischer Wille auf beiden Seiten besteht;

dass die Tür der EU trotz aller internen Probleme und aller Erweiterungsmüdigkeit offen steht, obwohl nun mit einem raschen Beitritt weiterer Staaten des ehemaligen Jugoslawien nicht zu rechnen ist.

Die Verhandlungen zwischen der EU und Kroatien dauerten fast sechs Jahre. Sie begannen wegen der mangelnden Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal mit einer Verspätung von sechs Monaten und waren durch den Grenzstreit mit Slowenien fast ein Jahr lang blockiert, obwohl auf technischer Ebene natürlich weiter gearbeitet wurde. Anders als bei der Erweiterung im Jahre 2004 galt für Kroatien jedoch das sogenannte „Benchmark-Verfahren. So musste Kroatien für die Eröffnung und die Schließung eines Kapitels Bedingungen erfüllen, und die EU forderte auch zu mindestens den Beginn der Umsetzung von Maßnahmen vor dem Abschluss der Verhandlungen (z.B.: Reform und Entpolitisierung der Ernennung von Richtern und Staatsanwälten) und gab sich nicht mehr nur mit der Ankündigung zufrieden, eine Maßnahme werde nach dem Beitritt dann schon getroffen. Auch diese erstmals angewandte Form der Verhandlungen macht die kroatischen Erfahrungen für die anderen Beitrittswerber so wertvoll, wobei im Falle künftiger Verhandlungen nun die Kapitel 23 und 24 (Grundrechte und Justiz) sofort geöffnet werden sollen. Sie sind besonders schwierig und sensibel, und die Umsetzung der verhandelten Maßnahmen soll von einem regelmäßigen Monitoring der EU-Kommission begleitet werden. Diese Monitoring gilt in abgeschwächter Form auch für Kroatien und zwar bis zum Beitrittstermin.

Nach dem Beitritt Kroatiens stellt sich für die restlichen Staaten des sogenannten Westbalkan und für die EU und ihre Mitglieder zwangsläufig die Frage nach der weiteren Vorgangsweise. Dazu gehört die Grundfrage, ob es weitere Einzelaufnahmen am „Restbalkan“ geben wird, oder ob nun eine Blocklösung angestrebt werden soll. Für die Blocklösung spricht vor allem die Erweiterungsmüdigkeit; dagegen sprechen die doch beträchtlichen Unterschiede in der Entwicklung und in der Problemstellung der verbliebenen Länder und der Umstand, dass eine Abkehr vom sogenannten „Regatta-Prinzip“, demotivierende wirkt, weil der Schnellste und Reformfreudigste auf den Langsamsten warten muss. Gegen das Regatta-Prinzip spricht der Umstand, dass durch die Krise der EU und die Erfahrungen mit Rumänien, Bulgarien und nun auch Griechenland die Erweiterungsmüdigkeit natürlich verstärkt worden ist; eine Block-Lösung hätte daher aus der Sicht der Erweiterungsskeptiker den Vorteil, diesen Prozess noch viel weiter hinauszuschieben. Dagegen sind EU-Kommission aber auch grundsätzliche Befürworter einer Erweiterung unter den Mitgliedsstaaten bestrebt, den Erweiterungsprozess auch vorläufig nicht zum Erliegen zu bringen, eine Absicht, die natürlich auch im Interesse des Balkan liegt.

Ohne den Beschlüssen des EU-Gipfels im März vorgreifen zu können, gibt es de facto nur einen Beitrittswerber, mit dem auch tatsächlich Verhandlungen aufgenommen werden könn(t)en, und das ist Montenegro. Etwa so große wie das Bundesland Tirol ist Montenegro seit 2006 von Serbien unabhängig. Mit seinen 620.000 Einwohnern hat sich das Land in den vergangenen Jahren eigentlich besser entwickelt als das auch von vielen Gegnern der Unabhängigkeit innerhalb der EU erwartet worden ist. Montenegro hat keine gravierenden Probleme mit seinen Nachbarn, obwohl die Beziehungen mit Serbien immer wieder von politischen Spannungen geprägt sind, und etwa die Frage der endgültigen Rechtsstellung der Serben (28 Prozent nach der Volkszählung 2011, 48 Prozent der Bevölkerung gab Serbisch als Muttersprache an) oder der Doppelstaatsbürgerschaft noch nicht geklärt ist. Der eigentliche Grund dieser Spannungen liegt in der montenegrinischen Nationsbildung aber auch in der Tatsache, dass es Serbien nicht gerne sieht, dass der „kleinere Bruder“ bei der EU-Integration vorne liegt, und bereits seit einem Jahr den Status eines EU-Beitrittskandidaten hat. Politisch ist Montenegro (bisher) wohl das stabilste Land des Balkan. Doch gerade diese „Stabilität“ ist auch ein Hemmschuh für die EU-Annäherung, weil die ehemals kommunistische Partei DPS (Demokratische Partei der Sozialisten) unter Milo Djukanovic seit 20 Jahren (mit kleineren Koalitionspartnern) ununterbrochen regiert. Zwar hat sich Djukanovic als Ministerpräsident zurückgezogen, und der auch in Wien an der Diplomatischen Akademie ausgebildete, nur 35 Jahre alte Regierungschef Igor Luksic macht durchaus eine gute Figur; doch trotz formal demokratischer Wahlen sind Partei und Staat weitgehend Eins, und das erschwert zwangsläufig die Unabhängigkeit entscheidender Institutionen von der Justiz bis zur Polizei.

Doch es gibt noch weitere große Herausforderungen, die auf dem Weg Richtung EU zu bewältigen sind. Dazu zählen der Aufbau einer Verwaltung, die Beitrittsverhandlungen nicht nur führen, sondern auch den gemeinsamen Rechtsbestand der EU umsetzen und die zu erwartenden finanziellen Mittel sinnvoll einsetzen kann. Außerdem hat Montenegro noch einen weiten Weg vor sich, um etwa die Umweltstandards der EU auch nur annähernd zu erfüllen oder den Kampf gegen Organisierte Kriminalität und Korruption erfolgreich zu führen und die Unabhängigkeit der Justiz weiter zu stärken. Zur erwähnen ist noch eine umfassende Aufarbeitung der Rolle der poltischen Elite unter Milo Djukanovic während der Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien, von der Vertreibung etwa der Bosniaken über die Rolle bei der Belagerung von Dubrovnik bis hin zur Drehscheibe des Zigarettenschmuggels am Balkan in der Ära von Slobodan Milosevic. Das erfordert wohl nicht nur einen schrittweisen politischen Elitenwechsel, sondern auch eine tiefer gehende (juristische) Auseinandersetzung mit der eigenen jüngsten Vergangenheit, die schmerzlich sein wird. Somit hat Montenegro noch einen weiten Weg vor sich, selbst wenn 2012 die Beitrittsverhandlungen tatsächlich beginnen sollten.

Vergleichbare strukturelle Probleme wie Montenegro haben auch die anderen Staaten des W(R)estbalkan, von Albanien über Mazedonien, Bosnien und Herzegowina bis hin zu Serbien und dem Kosovo, dem jüngsten Staat in Europa. Doch abgesehen von Albanien werden diese „technischen“ Probleme noch durch Konflikte mit Nachbarstaaten belastet, die eine EU-Annäherung oder eine Mitgliedschaft in der NATO massiv erschweren. Dazu zählt im Falle Mazedoniens der Namensstreit mit Griechenland, der bereits die Aufnahme in die NATO im Jahre 2008 blockierte und auch ein Hemmschuh für den Beginn der Gespräche über einen EU-Beitritt ist, obwohl die EU Mazedonien bereits vor mehr als fünf Jahren den Status eines Beitrittskandidaten gewährt hat. Dieser Namensstreit zeigt aber auch, wie schwer sich die EU mit Konflikten tut, die ein Mitgliedsstaat mit einem Beitrittswerber hat, obwohl gerade Griechenland innerhalb der EU zweifellos keine starke Stellung besitzt. Selbst wenn dieser Streit im Jahre 2012 gelöst werden sollte, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass der Konflikt dem eigentlichen Ziel der Poltik der EU zuwiderläuft, die in der dauerhaften Stabilisierung des Balkan durch EU-Integration besteht.

Dass die - durch innenpolitische Interessen – geprägte Balkan-Politik so mancher EU-Mitglieder die Stabilisierung des Balkan verzögert und erschwert, zeigt am klarsten das Beispiel des Kosovo. Fünf EU-Staaten haben die Unabhängigkeit des Kosovo nach wie vor nicht anerkannt, und diese Tatsache erschwerte bereits die Entsendung der Polizei- und Justiz-Mission EULEX, die „statusneutral“ zu agieren hat, und deren Effizienz durchaus mit der Beliebtheit unter den Kosovo-Albanern zu vergleichen ist. Die fehlende Einigkeit in der EU erschwert es auch Serbien, sich mit dem endgültigen Verlust der ehemaligen Provinz abzufinden. Während der Kosovo als (eingeschränktes) Protektorat der EU (und der USA) auf dem Weg Richtung EU-Integration noch am Anfang steht, hat der Konflikt im Dezember 2011 bereits die Gewährung des Status eines EU-Beitrittskandidaten an Serbien blockiert. Die Auseinandersetzung zwischen Belgrad und Pristina betrifft insbesondere zwei Bereiche: die Normalisierung der bilateralen Beziehungen unter der Prämisse, dass Serbien nicht bereit ist, die Unabhängigkeit anzuerkennen, und die Frage der Integration des serbisch dominierten Nordens, der bereits seit dem Ende des Kosovo-Krieges im Sommer 1999 ein weitgehend unkontrolliertes Territorium ist, im dem Gruppen dominieren, die eine Mischung aus Nationalismus und Organisierter Kriminalität darstellen.

Was die Normalisierung der bilateralen Beziehungen betrifft, so haben die Verhandlungen unter Vermittlung der EU zur Lösung technischer Probleme vom Zoll über die Reisefreiheit bis hin zur Anerkennung von Universitätsdiplomen durchaus Ergebnisse gebracht. Erschwert werden all diese Verhandlungen zwangsläufig durch die Statusfrage. Das zeigt sich am deutlichsten bei der Frage über die Art und Weise der Vertretung des Kosovo bei regionalen Konferenzen, die der Stärkung der Zusammenarbeit am Westbalkan dienen soll. Dabei geht es etwa darum, was auf dem Namensschild steht, das vor der Kosovo-Delegation aufgestellt werden sollen. Die serbische Seite beharrte bisher auf einem Hinweis auf die UNO-Resolution 1244, die nach serbischer Lesart die territoriale Integrität Serbiens unter Einschluss des Kosovo festschreibt. Das lehnen EU und Kosovo ab. Selbst wenn bis zum Februar eine Lösung gefunden werden sollte, bleibt noch die Frage des Nord-Kosovo. Die vier serbischen Gemeinden und ihre Institutionen werden von Belgrad aus finanziert, obwohl die lokalen Politiker vorwiegend der nationalistischen Opposition angehören, und damit politische Gegner der Regierung in Belgrad sind. Seit gut einem halben Jahr wehren sich die lokalen Serben mit Straßensperren dagegen, dass an den zwei Grenzübergängen albanische Zöllner und Grenzpolizisten ihren Dienst versehen. Bei Zusammenstößen mit der Friedenstruppe KFOR setzten serbische Demonstranten auch Schusswaffen und Handgranaten ein, und mehrere österreichische und deutsche KFOR-Soldaten wurden verletzt.

Jenseits aller Verbindungen zur Organisierten Kriminalität bleibt aber die Tatsache bestehen, dass sich die Mehrheit der Serben im Nord-Kosovo ein Leben unter albanischer Herrschaft nicht vorstellen kann. Darauf hat die Regierung in Belgrad Rücksicht zu nehmen, und zwar auch deshalb weil spätestens Anfang Mai in Serbien das Parlament neu gewählt wird. Die Wahlen vor vier Jahren gewann die Demokratische Partei unter Staatspräsident Boris Tadic mit der Parole „Kosovo und Serbien“. Diese Parole ist nach den klaren Vorgaben aus Brüssel nicht mehr wiederholbar, doch wirtschaftlich hat die Regierung kaum etwas vorzuweisen. 700.000 der 7,3 Millionen Serben sind arbeitslos, und der brüchige soziale Friede wäre in Serbien wohl ohne die Überweisungen der vier Millionen Auslandsserben kaum aufrecht zu erhalten. Nach Angaben der Nationalbank in Belgrad überwies die Diaspora im Jahre 2010 3,1 Milliarden Euro, das entspricht mehr als einen Drittel der Exporterlöse Serbiens. Die Auslands-Serbien sind daher auch ein unverzichtbarer Devisenbringer. Für die Regierung wäre daher eine neuerliche Verweigerung des Status eines EU-Beitrittskandidaten ein weiterer politischer Rückschlag. Zwar droht in Serbien im Falle einer Wahlniederlage der Regierung keine Abkehr vom EU-Kurs, weil auch die wichtigste Oppositionspartei (SNS) mittlerweile für den EU-Beitritt ist, doch drohen schwierige Regierungsbildung und weiterer Zeitverlust bei den Reformen. Doch selbst wenn der Status gewährt wird, wird das Kosovo-Problem Serbien bis zur EU-Mitgliedschaft begleiten, weil ein Beitritt ohne Anerkennung wohl undenkbar ist, wann immer auch der Zeitpunkt dafür kommen wird. Serbien fallen dabei zwei Versäumnisse auf den Kopf – das Versäumnis der eigenen politischen Eliten, der Bevölkerung den Verlust des Kosovo klar zu machen, und der Fehler des Westens, nach dem Kosovo-Krieg, die Loslösung der Provinz von Serbien zu verkünden. Dann hätte noch Slobodan Milosevic die Last des Verlusts zu tragen gehabt, und nicht die Regierung eines sich nun demokratisierenden Serbien, die erklären muss, warum sie etwas „hergibt“ das Milosevic verteidigt hat.

Wohl noch stärker als das Kosovo-Serbien-Problem belastet die Lage in Bosnien und Herzegowina die dauerhafte Stabilisierung des Balkan. Bosnien erinnert an Belgien nur mit drei gravierenden Unterschieden. Belgien ist bereits in der EU, seine Wirtschaft ist in einem weit besseren Zustand, und statt zwei Konfliktpartnern gibt es in Bosnien drei: Bosniaken, Serben und Kroaten sowie zwei Teilstaaten, die zentralistisch organisierte Republika Srpska und die Bosnisch-Kroatische Föderation, die mit ihren zehn Kantonen fast ebenso schwer zu regieren ist wie der Gesamtstaat. So dauerte es in der Föderation fast ein Jahr, ehe eine Regierung gebildet werden konnte, während im Gesamtstaat erst nach 15 Monaten und unter der Drohung einer massiven Finanzkrise eine Regierung gebildet werden konnte. Zwar gibt es auch in Bosnien gewisse politische Lichtblicke wie die Einigung über die Durchführung einer Volkszählung, doch bleibt das Grundproblem bestehen, dass sowohl das Verhältnis zwischen Bosniaken und Kroaten sowie zwischen Bosniaken und Serben auch mehr als 15 Jahre nach Kriegsende massiv belastet ist. Das Grundproblem besteht darin, aus einem ineffizienten Staatswesen, das mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton auch unter westlicher „Hilfe“ geschaffen wurde, einen Staat zu formen, der den Anforderungen von EU-Beitrittsverhandlungen gewachsen sein kann. Die Lösung dieses Problems wird zusätzlich dadurch erschwert, dass das im Dayton-System geschaffen „Gleichgewicht“ durch den massiven Exodus der Kroaten (von etwa 800.000 auf geschätzte 500.000) demographisch immer brüchiger wird, und nach wie vor kein gemeinsames Staatsbewußtsein unter den drei konstitutiven Völkern besteht. Eine Anpassung des Dayton-Systems ist jedenfalls auch deshalb unausweichlich, weil ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine Gleichstellung der „anderen“ Volksgruppen (etwa der Roma) verlangt, und damit auch die Wahl zum drei Personen umfassenden Staatspräsidium reformiert werden muss, Ämter, die derzeit nur Kroaten, Serben und Bosniaken offen stehen.

Trotz der vielen Probleme gibt es allerdings auch am Balkan durchaus ermutigende Signale. Kroatien wird der EU beitreten, 2008 wurden Kroatien und Albanien in die NATO aufgenommen, die regionale Zusammenarbeit nimmt auf allen Gebieten zu, und Serbien konnte schließlich zehn Jahr nach dem Sturz von Slobodan Milosevic die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal erfolgreich beenden. Der grundlegende Pferdefuß des Balkan ist derzeit vor allem die triste soziale und wirtschaftliche Lage; doch ohne ein besseres Leben wäre wohl auch in Deutschland und Österreich eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit nicht möglich gewesen, und Aussöhnung setzt eben auch eine gewisse materielle Sicherheit voraus. Dass Aussöhnung nicht nur am Balkan Zeit braucht, zeigt etwa die Tatsache, dass jenseits des Handschlags von Kohl und Mitterand auf den Schlachtfeldern von Verdun, Angela Merkel erst 90 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als erste deutsche Kanzlerin zu einer Gedenkfeier nach Paris eingeladen wurde. Der Beitritt Sloweniens zur EU erfolgte 14 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens, der kroatische Beitritt wird 23 Jahre danach erfolgen. Für den R(W)estbalkan könnte es 2020 soweit sein, das sind dann 30 Jahre nach dem Beginn der Zerfallskriege, die nicht zu Unrecht als das größte kollektive Versagen von USA und EU seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet wurden. Doch auch dieser „Zeitplan“ wird nur einzuhalten sein, wenn die Politiker der Region erkennen, dass sie immer stärker selbst Verantwortung für das eigene Wohl ihrer Völker übernehmen müssen, und wenn die EU trotz aller ihrer Krisen auf einem klaren Erweiterungskurs bleiben wird.

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