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Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wird im Oktober das erste Verfahren in der jungen Geschichte dieses Gerichtshofes abgeschlossen. Gleichzeitig hat sich der Gerichtshof wohl auch bereits auf den möglicherweise spektakulärsten Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wird im Oktober das erste Verfahren in der jungen Geschichte dieses Gerichtshofes abgeschlossen. Gleichzeitig hat sich der Gerichtshof wohl auch bereits auf den möglicherweise spektakulärsten Fall, auf den gestürzten libyschen Diktator Muammar Gaddafi, vorzubereiten. Denn grundsätzlich ist mit der Übergangsregierung in Tripolis vereinbart, dass Gaddafi an den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert wird. Gaddafi wäre somit nach dem serbischen Autokraten Slobodan Milosevic und nach dem gestürzten Präsidenten Liberias, Charles Taylor der zweite ehemalige Staatschef, der binnen zehn Jahren vor einem internationalen Gericht zur Verantwortung gezogen wird, nur dass der Milosevic-Prozess eben vor dem Sondertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag stattfand. Unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz hat mit Richtern an internationalen Gerichtshöfen und mit anderen hochrangigen Juristen über die Herausforderungen für die internationale Strafjustiz gesprochen und den folgenden Bericht über die Herausforderungen der internationalen Strafrechtspflege von Milosevic bis Gaddafi gestaltet:

Der in Den Haag ansässige Internationale Strafgerichtshof, auch ICC genannt, ist der erste permanente Strafgerichtshof in der Geschichte der Menschheit. Seine Zuständigkeit haben bisher 117 Staaten anerkannt. Libyen zählt nicht dazu; die Zuständigkeit des ICC für den gestürzten Diktator Muammar Gaddafi schuf der UNO-Sicherheitsrat in einer Resolution zu Libyen. Bisher fanden die laufenden Verfahren vor dem Gerichtshof kaum größere mediale Beachtung in Europa; Gaddafi wird das ändern, sollte er lebend gefasst und tatsächlich an Den Haag ausgeliefert werden. Was passiert, sollte die libysche Übergangsregierung Gaddafi doch in Tripolis vor Gericht stellen wollen, erläutert Christian Wenaweser, derzeit Vorsitzender der Unterzeichnerstaaten des Römer Status des ICC:

"Sie würden vor dem ICC präsentieren, warum, weshalb, und unter welchen Umständen sie Herrn Gaddafi vor den nationalen Gerichten aburteilen wollen. In diesem Fall würde das der Gerichtshof dann überprüfen hinsichtlich Rechtslage in Libyen, judizielle Institutionen usw." Und der ICC und könnte dann eigentlich entscheiden, ja, es ist in Ordnung, dass die Libyer das machen, oder nein, wir sind der Auffassung, dass danach rechtsstaatlichen oder was immer auch für Kriterien nicht möglich ist."

Muammar Gaddafi ist ebenso prominent wie einst Slobodan Milosevic – und beide sind auch fast derselbe Jahrgang. Der serbische Autokrat war 60 Jahre als er ans Jugoslawien-Tribunal überstellt wurde, Gaddafi ist bereits jetzt 69 Jahre alt. Milosevic starb nach vier Jahren Prozess in seiner Zelle in Den Haag ohne Schuldspruch – ein Fiasko für das Tribunal. Diese Gefahr gilt es bei Gaddafi zu vermeiden; doch das erste Verfahren vor dem ICC gegen einen Milizenführer des Kongo, das in einigen Monaten abgeschlossen werden soll, dauert bereits mehr als vier Jahre. Die Verfahren müssten daher kürzer werden, fordert Christian Wenaweser:

"Das ist ein Lernprozess beim Strafgerichtshof; vor allem der allererste Fall, der hat für mich viel zu lang gedauert: Man muss das aber auch verstehen, weil das wirklich der erste Fall war. Ich glaube, das wird in Zukunft schneller gehen, und die Verfahren müssen effizienter werden, das hat natürlich viel mit der Anklageschrift zu tun, wie viele Anklagepunkte gibt es, für welche Verbrechen usw. "

Doch diese Erwartung könnte trügen. Die Verfahren des Strafgerichtshofes sind weitgehend dem Verfahren vor dem Jugoslawien-Tribunal nachempfunden. Sein Rechtssystem ist stark von angloamerikanischen Rechtsvorstellungen geprägt, in dem die Rolle des Richters weit passiver ist als im kontinentaleuropäischen Recht. Einen der Gründe für die lange Dauer von Prozessen erläutert der Deutsche Albin Eser, der von 2003 bis 2008 Richter am Jugoslawien-Tribunal war:

"Wenn man jetzt mit bedenkt, dass zunächst immer die Sache der Staatsanwaltschaft verhandelt wird, und zwar von einem Punkt A bis zum Punkt 20 möglicherweise, und erst dann alle Punkte noch ein Mal aufgegriffen werden, von der Verteidigung, das ist natürlich auch schon eine Überforderung des Gedächtnisses der Richter, sich nach eineinhalb Jahren zu erinnern, was wurde denn von staatsanwaltschaftlicher Seite zu einem bestimmten Punkt gesagt, und plötzlich kommt dann die Verteidigung. Deshalb wäre auch mein Vorschlag schon längst dahin gegangen, sich klar zu machen, was sind bestimmte Komplexe, die man leicht absondern kann von anderen, und man klagt zuerst den einen Komplex an und dann den anderen. Dass man jedenfalls in den Fällen, in denen ein Angeklagter schon relativ alt ist, und dem Prozess schon gar nicht mehr so richtig zu folgen vermag, sagen kann, dann machen wir eben Schluss."

Albin Eser ist sich bewusst, dass bei einer derartigen Straffung so manche Verbrechen nicht abgeurteilt werden, eine vor allem für die Opfer unbefriedigende Lösung. Doch sie sei besser als ein Verfahren, dass wegen des Todes eines Angeklagten eingestellt werden müsse, betont Eser. Beim Fall des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Ratko Mladic, der auch wegen des Massakers in Srebrenica an mehr als 7.000 Bosniaken angeklagt ist, soll es nun zu einer Prozessteilung kommen. Im Gegensatz zur Verfahrensordnung des Haager Tribunals tritt Albin Eser auch für eine andere Behandlung der Zeugen ein, die nicht als Zeugen der Anklage oder der Verteidigung auftreten sollten. Albin Eser:

"Für mich wäre wichtig, dass die Zeugen als Zeugen des Gerichts, als Zeugen der Wahrheit, eingeführt werden, und nicht von der einen oder anderen Partei, und dass sie vielleicht auch von den Richtern vernommen werden, damit von vorne herein eine größere Unparteilichkeit gewährleistet wird als das der Fall ist. Dann kommt dazu, dass die Art der Befragung für viele Zeugen sehr unbefriedigend ist. Es wird ihnen gesagt, sie dürfen sagen, ja, nein oder ich weiß nicht. Vor allem Opferzeugen, die waren dann oft sehr unzufrieden damit, und da müsste man zunächst auch eine Verfahrensweise finden, dass die Opfer erzählen können, was ihnen passiert ist. Es ist dann Sache der Parteien, zu hinterfragen, ob das wirklich so war."

Trotz aller Kritik sieht Eser in den Tribunalen von Jugoslawien und Ruanda einen Meilenstein des internationalen Rechts, der die Bildung des Internationalen Strafgerichtshofs erst ermöglicht hätte. Doch es gibt noch einen weiteren Ad-Hoc-Gerichtshof, der ein gutes Beispiel für die Weiterentwicklung des internationalen Rechts bietet. Es ist dies der Sondergerichtshof für Sierra Leone, der die Hauptverbrecher des Bürgerkrieges abzuurteilen hat. Prominentester Angeklagter ist Charles Taylor, der frühere Staatschef Liberias. Taylor wird beschuldigt, in den Bürgerkrieg in Sierra Leone eingegriffen und Kriegsverbrechen begangen zu haben. Die Anklage wurde erhoben also Taylor noch Staatspräsident war. Seine politische Immunität schütze Charles Taylor nicht; warum nicht, erklärt die Österreicherin Renate Winter, die als Richterin am Berufungsgericht des Sierra Leone-Tribunal tätig ist:

"Das ist bestimmt ein Problem, das ist auch ein Problem in der Wahrnehmung, das ist auch ein Problem in der Praxis; man muss einfach ganz klar sehen, wo da die Verantwortung liegt, und die liegt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Wenn man Libyen und Syrien nimmt, das sind alles Staaten, die nicht Vertragsparteien sind, in welchen der Gerichtshof deshalb keine Gerichtsbarkeit hat; d.h., die einzige Art wie Gerichtsbarkeit ausgeübt werden kann, ist, wenn der Sicherheitsrat etwas entsprechendes beschließt, was er im Fall Libyen getan hat, im Fall Syrien nicht. Die selektive Gerechtigkeit, wenn man diesen Begriff verwenden will, die hat ihren Ursprung dann im Sicherheitsrat der UNO, das ein politisches Gremium ist, und nicht im Gerichtshof, und das ist sehr wichtig."

Ebenso wichtig ist ein weiterer Schritt zur Stärkung der internationalen Herrschaft des Rechts, der im Juni 2010 in Kampala gelang. Unter der Führung von Christian Wenaweser einigten sich Delegationen aus etwa 100 Staaten auf die Definition des Verbrechens der Aggression, das ab 2017 ein weiter Tatbestand des internationalen Strafrechts sein wird. Ihn wird der ICC nach einer zwar komplizierten Prozedur selbst ohne Zustimmung des UNO-Sicherheitsrates anwenden können. Zur Bedeutung der Einigung sagt Wenaweser:

„Das Gewaltverbot ist ja der Kern der UNO-Charta, das ist die Idee der Vereinten Nationen, aber wir haben im Grunde nie die Frage gelöst, was heißt das dann, illegale Gewaltanwendung. Es ist klar, wenn der Sicherheitsrat sagt, das ist legal, und autorisiert eine Gewaltanwendung, dann erübrigt sich die Frage. Aber in allen anderen Fällen haben wir es eigentlich erst jetzt geklärt, und ich glaube, das wird mittelfristig einen enormen Effekt haben."

Bleibt als Wermutstropfen die Tatsache, dass Großmächte wie die USA, China oder Russland den Internationalen Strafgerichtshof nach wie vor nicht anerkennen. Hinzu kommt die Frage, warum sich etwa nur Muammar Gaddafi und nicht auch der syrische Staatschef vor dem ICC verantworten soll, der ebenfalls schwerer Verbrechen gegen sein eigenes Volk beschuldigt wird. Ist diese selektive Form der Gerechtigkeit nicht ein Problem? Christian Wenaweser:

„Das ist bestimmt ein Problem, das ist auch ein Problem in der Wahrnehmung, das ist auch ein Problem in der Praxis; man muss einfach ganz klar sehen, wo da die Verantwortung liegt, und die liegt beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Wenn man Libyen und Syrien nimmt, das sind alles Staaten, die nicht Vertragsparteien sind, in welchen der Gerichtshof deshalb keine Gerichtsbarkeit hat; d.h., die einzige Art wie Gerichtsbarkeit ausgeübt werden kann, ist, wenn der Sicherheitsrat etwas entsprechendes beschließt, was er im Fall Libyen getan hat, im Fall Syrien nicht. Die selektive Gerechtigkeit, wenn man diesen Begriff verwenden will, die hat ihren Ursprung dann im Sicherheitsrat der UNO, das ein politisches Gremium ist, und nicht im Gerichtshof, und das ist sehr wichtig."
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