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Usbekistans Sicht auf Afghanistan

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Berichte Usbekistan

Zur Person:

Der 61-jährige Ismatilla Igraschew beschäftigt sich seit seiner Studienzeit mit Afghanistan; er spricht die Landessprache und war im sowjetischen Afghanistan-Krieg zwei Jahre im Land im Einsatz. Er ist der Sondergesandte des usbekischen Präsidenten Schavkat Mirsijojev.

KlZ: Die UNO warnt vor einer humanitären Katastrophe in Afghanistan. Unmittelbar vor Beginn der kalten Jahreszeit drohen demnach mehr als der Hälfte der 23 Millionen Afghanen Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Wie beurteilen Sie die humanitäre Lage:

Ismatilla Igraschew: "Gerade vor Beginn der kalten Jahreszeit ist die Lage in Afghanistan äußerst schwierig. Das Volk hungert, es fehlen Lebensmittel. Löhne können nicht bezahlt werden für Ärzte und Lehrer, es gibt keine Arbeit. In dieser Lage dürfen wir als Nachbarn das Volk nicht im Stich lassen, damit es diese sehr schwierige Zeit überleben kann. Afghanistan schuldet uns mehr als 10 Millionen Dollar für Stromlieferungen, und das Land kann elementare Bedingungen des Vertrages nicht erfüllen; doch wir können das einfache Volk nicht ohne Strom lassen, weil das grundlegend für Kochen und Heizen in der Kalten Jahreszeit ist. Daher setzten wir die Lieferungen fort, und die Regierung hat versprochen, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, sobald das möglich ist.“

KLZ: Die afghanischen Devisenreserven sind seit der Machtübernahme der Taliban eingefroren. Usbekistan ist dafür, dieses Geld freizugeben. Außerdem sind Sie für einen Dialog mit den Taliban. Warum?

Ismatilla Igraschew: "Wir haben schon Erfahrungen damit als niemand mit Afghanistan reden wollte. Dadurch wurde ein Vakuum geschaffen, das internationale Terrororganisationen gefüllt haben. Europa ist nicht sehr gut über die Lage in Afghanistan informiert. Daher glauben viele, dass man mit den neuen Machthabern nicht zu sprechen braucht. Man glaubt, dass man nur ständig fordern muss, und erst nach der Erfüllung dieser Forderungen soll man mit den neuen Machthabern sprechen. Doch durch Ultimaten und Sanktionen kann man nur einen negativen Effekt erzielen, so dass dann aus Afghanistan noch mehr Bedrohungen hervorgehen werden, die den Terrorismus und radikale Ideen betreffen. Das Wichtigste ist, dass dadurch auch die soziale Basis dieser terroristischen Organisationen gestärkt wird. Daher muss man jetzt die afghanischen Devisen freigeben, um das Leben des einfachen Volkes zu verbessern und so einen positiven Einfluss auf die neuen Machthaber ausüben, die normale internationale Beziehungen anstrebt. Die Entwicklung der Beziehungen davon abhängig zu machen, dass Forderungen erfüllt werden, die die Gewährleistung fundamentaler Menschenrechte auch der Frauen, und sei es im Rahmen des Schariats betreffen, macht es unmöglich, internationale terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden. All das kann erfüllt werden nur durch einen pragmatischen und konstruktiven Dialog, und den versuchen wir zu führen. Unsere Gespräche haben gezeigt, dass die höhere Führung der Taliban normale Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft wollen, und zwar auf der Basis gemeinsamer Interessen. Die Taliban versprechen, dass von ihrem Territorium aus, keine Bedrohungen durchradikale Ideologien auch für die Nachbarstaaten ausgehen werden.“

KLZ: Konnten Sie bei den hochrangigen Gesprächen mit der neuen afghanischen Führung in der Grenzstadt Termez auch etwas erreichen, was die Menschenrechte betrifft:

Ismatilla Igraschew: "Die Taliban haben an der Nordgrenze zu Usbekistan keine Verbrechen verübt und sich auch nicht an früheren Mitarbeiter staatlicher Organe gerächt. Durch unseren konstruktiven Dialog mit den neuen Machthabern haben wir erreicht, dass in der Nordprovinz Balch die Mädchen von der ersten bis zur 12. Klasse die Schule besuchen. In den anderen Provinzen besuchen die Mädchen nur bis zur sechsten Klasse die Schule. Bei unserem Treffen mit der großen afghanischen Delegation in Termez sagte man uns, dass diese Erfahrung aus Balch auch in weiteren vier Provinzen im Norden umgesetzt werden. Bis Jahresende sollen dieser Schulbesuch in ganz Afghanistan für Mädchen bis zur 12. Klasse erfolgen, was eine große Sache ist."

KLZ: Usbekistan hat die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahre 1951 nicht unterzeichnet und auch nicht die Zusatzprotokolle dazu. Usbekistan war zwar die Drehscheibe beim Transport afghanische Flüchtlinge weiter nach Westen, nimmt aber selbst keine Flüchtlinge auf. Warum?

Ismatilla Igraschew: "Wir sprechen schon sehr lange mit allen politischen Kräften in Afghanistan, und dazu zählen auch die Taliban. Mit allen diesen Kräften haben wir gleichmäßige Beziehungen und bevorzugen niemanden und auch nicht die Regierung. Wir wollten den politischen Dialog in Afghanistan unterstützen, um eine nationale Aussöhnung zu erreichen, weil das die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden ist. Daher haben wir keine Flüchtlinge aufgenommen, die Vertreter politischer Gegner der neuen Machthaber sein könnten. Das würde sich negativ auf unsere Neutralität auswirken. Hinzu kommt, dass Flüchtlinge für uns auch eine enorme soziale und wirtschaftliche Belastung wären."

KLZ: Was waren die Gründe für den raschen Zusammenbruch der vom Westen gestützten afghanischen Regierung? Warum sind die USA und der Westen nach 20 Jahren in Afghanistan gescheitert?

Ismatilla Igraschew: "Man darf eine fremde Ideologie und westliche Standards von Menschenrechten nicht künstlich einem Land auferlegen, das starke eigene Traditionen hat, die jahrhundertealt sind. Das frühere Regime sahen die Taliban und viele einfache Afghanen als Marionette an. Darüber hinaus waren einfache Afghanen wütend, dass praktisch die gesamte Führung des früheren Regimes Personen waren, deren Familien im Westen lebten; das waren Touristen im eigenen Land. Hinzu kam die Korruption, die von oben nach unten das Land durchdrang; sie hat in den vergangenen Jahren die Machthaber in den Augen des Volkes sehr stark diskreditiert. Das Volk hörte auf, seiner Führung zu glauben. Für viele kamen die Ereignisse überraschend, aber nicht für uns, weil wir diese Lage gespürt haben und darüber auch mit unseren Partnern im Westen und in den USA gesprochen haben. Wir sagten, das Regime sei sehr schwach und mache viele Fehler, um zumindestens die Errungenschaften zu bewahren, die in den vergangenen 20 Jahren auf dem Gebiet der Zivilgesellschaft, der Menschen- und Frauenrechte und so weiter erreicht wurden.“

KLZ: Wir danken für das Gespräch; das Interview führte Christian Wehrschütz in der usbekischen Hauptstadt Taschkent.

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