20250302 Orientierung Food Truck drei Jahre Krieg und Ukraine Wehrschütz
Berichtsinsert: Christian Wehrschütz aus der Ukraine
Kamera: Nenad Dilparic, Schnitt: Mica Vasiljevic
Insert1: Natalia und Wladimir, Bewohner des Ortes Subovka
Insert2: Julia und Ira, Bewohner des Ortes Slatino
Insert3: Oleh Bibikow, Initiator des Projekts „Foodtruck“
Insert4: Oleh Bibikow, Initiator des Projekts „Foodtruck“
Insert5: Oleh Bibikow, Initiator des Projekts „Foodtruck“
Insert6: Dschamilja, Pensionisten in der Stadt Derkatschi
Insert7: Wjatscheslaw Sadorenko, Leiter der Militärverwaltung von Derkatschi
Insert8: Wjatscheslaw Sadorenko, Leiter der Militärverwaltung von Derkatschi
Insert9: Natalia Schurawlowa, Leiterin des Fonds "Qualität des Lebens"
Gesamtlänge:7’30
Mehr als 1200 Kilometer lang ist die Frontlinie im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Natürlich wird nicht an allen Abschnitten mit derselben Intensität gekämpft, doch Spuren des Krieges sind allgegenwärtig. Das zeigt auch das Dorf Subovka im Landkreis von Charkiw, nur neun Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Nur eine Stunde nach einem russischen Bombenangriff treffen wir an Ort und Stelle ein; wie viele Opfer der Beschuss gefordert hat, ließ sich nicht ermitteln; mindestens zwei Personen wurden schwer verletzt. Eine rationale Erklärung für den Angriff finden wir nicht, dafür einige Bewohner, die noch geblieben sind.
Natalia und Wladimir 0:16
„Wir leiden, verstehen aber nicht wofür. Ist das hier Krieg oder was? Wir sind Zivilisten. Oder ist hier eine Rüstungsfabrik, es gibt doch nichts. Die halbe Straße ist nicht mehr da.“
Einige Kilometer weiter von der russischen Grenze entfernt sind wir dabei, als die Hilfsorganisation „Essen ohne Grenzen“ im Dorf Slatina eine warme Mahlzeit verteilt. Die meisten Bewohner sind Pensionisten, die täglich hier ihr Essen holen. Doch wir treffen auch Julia mit ihrer Tochter Ira. Was hält sie im Dorf:
Julia und Ira 0:46
„Wo sollen wir hinfahren? Wir brauchen eine Unterkunft, um irgendwohin hin zu fahren und dazu braucht man Geld. Ich arbeite im vierten Krankenhaus in Charkiw und mein Gehalt beträgt 6800 Griwna, da sind etwa 170 Euro. Wo soll ich hin mit drei Kindern.“
Die private Organisation „Essen ohne Grenzen“ mit ihrem „Foodtruck“ ist der Hoffnungsträger für so viele Bewohner der Ukraine, die unter diesen Umständen leben, ja überleben müssen. Seit Ende Februar steht der LkW in der Stadt Derkatschi, die knapp 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt ist. Immer wieder ertönt Fliegeralarm, doch nach drei Jahren Krieg ist ein eben auch gefährlicher Gewöhnungseffekt eingetreten. 12.000 Mahlzeiten haben Chefkoch Oleh und sein Team binnen einer Woche bereits gekocht. Im Einsatz sind fünf Köche und drei Küchenbullen. Warum seid ihr gerade hier?
Oleh Dergatschi 0:17
„Wir sind hier, weil es von diesem Ort nicht weit zur Frontlinie, zum Nullpunkt ist, und wir warme Mahlzeiten an die Menschen auch im Dorf liefern, die bedürftig sind.“
Wie gut ausgestattet dieser LkW für seine Hilfseinsätze unter den Bedingungen des Krieges ist, zeigt mir Oleh, der in Friedenzeiten als Chefkoch in einem italienischen Restaurant gearbeitet hat.
Oleh 6:55
„Wir sind vollkommen unabhängig. Wir haben einen Behälter für 1000 Liter Wasser, wir haben ein leistungsfähiges Wasserfiltersystem in der Küche. Wenn es nötig ist, kommt ein Fahrzeug und wir verbinden einen Schlauch, um Wasser zu tanken. Wenn wir keine Möglichkeit haben, uns irgendwo an das Stromnetz anzuschließen, schalten wir unseren Generator ein, der 60 kW Leistung liefert und uns vollständig mit Strom versorgt.
Doch der LkW dient nicht nur zum Kochen; Duschen und Schlafen ist ebenfalls vorgesehen:
Oleh 6:18
„Hier schlafen zwei Personen und weitere zwei schlafen im Kopf des Lkw. Und wir haben Klappbetten, auf denen wir auch schlafen können. Wenn das Team größer wird, wenn es einen großen Bedarf an warmen Mahlzeiten gibt, 5000, pro Tag, dann mieten wir Hotels zum Schlafen. Wenn das nicht möglich ist, haben wir einen zweiten Bus, der ebenfalls zum Schlafen ausgestattet ist.“
Vor allem in Frontnähe werden Mahlzeiten mehrheitlich ausgeliefert oder abgeholt. Es gilt große Menschenansammlungen zu vermeiden, um den Russen keine Ziele zu bieten. An den meisten Orten stellen sich vor allem Pensionisten an. Ein Beispiel dafür ist in Derkatschi die 62jährige Dschamilja; umgerechnet hat sie etwa 85 Euro Pension:
Dschamilja 1’16
„Man muss Betriebskosten und Kommunalabgaben bezahlen für Strom und Gas. Doch ich muss auch in die Apotheke gehen, um Medikamente zu kaufen, und Lebensmittel brauche ich auch. Das Geld reicht nicht; daher bin ich hier, um Hilfe zu bekommen.“
In Derkatschi ist kriegsbedingt die Zahl der Bewohner von 45.000 auf 27.000 gesunken. Grund dafür ist auch die triste soziale und wirtschaftliche Lage:
Wjatscheslaw Sadorenko 2:26
„Vor dem Krieg gab es viele leistungsstarke Unternehmen, die für europäische Märkte produzierten. Derkatschi ist auch eine Agrargemeinde. Wir hatten eine beträchtliche Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe. Nun sind die Felder vermint, mit Splittern und Blindgängern bedeckt, was es unseren Landwirten unmöglich macht, die Aussaat- und Feldarbeiten durchzuführen. Die Unternehmen, die arbeiteten, haben ihre Produktionsstätten in andere Regionen verlegt, zahlen aber teilweise weiterhin Steuern an die Gemeinde, damit wir irgendwie arbeiten und die Lebensgrundlagen der Stadt aufrechterhalten können, um den Einwohnern Dienstleistungen wie Wasser, Strom usw. anzubieten.“
Völlig zerstört sind die einst guten Beziehungen mit dem russischen Nachbarn:
Wjatscheslaw Sadorenko 5:36
„Tatsächlich hatten viele Menschen vor dem Krieg familiäre Beziehungen zu Menschen, die in Russland leben, bei einigen war es die Mutter, bei anderen der Vater, der Bruder, die Frau. Viele Menschen fuhren zur Arbeit nach Russland. Auch viele Russen kamen in unsere Gemeinde, kauften Lebensmittel, kamen zu kulturellen Veranstaltungen. Niemand wollte glauben, dass im 21. Jahrhundert ein so schreckliches Ereignis stattfinden könnte, dass ein Nachbarstaat mit Waffen kommt und ihre Verwandten, Angehörigen, umbringen, ihre Häuser zerstört. Heute wollen die Menschen nichts mehr mit Russland zu tun haben.“
Das Projekt Foodtruck hat mittlerweile viele auch hochkarätige Unterstützer in der Ukraine. Zu den ersten Sponsoren zählt Natalja Schurawlowa mit ihrem Fonds „Qualität des Lebens“. Selbst ein Flüchtling aus Lugansk bauten sie und ihr Mann nicht nur eine Firma in Kiew neu auf, sondern engagieren sich massiv in der Hilfe für Flüchtlinge und Arme und daher auch bei „Foodtruck“:
Natalja 7:34
„Oleh kam mit seinem Projekt. Es war einfach eine Idee. Ihm wurde ein Auto geschenkt, und er wollte daraus einen Foodtruck machen, um den Menschen Essen anzubieten. Wir haben Erfahrungen mit der Versorgung und wissen, wie wichtig warme Mahlzeiten besonders dann sind, wenn es Zerstörungen gibt.
Und so taten wir alles, was in unserer Macht steht, doch es gibt viele Organisationen, die nun am Projekt Foodtruck beteiligt sind. Und wir möchten weiterarbeiten, umso mehr, weil Oleh die Idee hat, nicht nur ein Auto zu haben, um größere Regionen abdecken zu können.
In seiner Hymne Patmos schrieb Friedrich Hölderlin die Worte: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Das Projekt Foodtruck und die enorme Hilfsbereitschaft vieler Freiwilliger und Unternehmer zeigen, dass in der Ukraine diese vor mehr als 220 Jahren gedichteten Verse weiterhin gültig sind.