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20250222 Kleine Zeitung drei Jahre leben im Krieg Wehrschütz

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

Abend und Nacht von Donnerstag auf Freitag sind ein gutes Beispiel für das Leben in Kiew und das Arbeiten in einem Land im Kriegszustand. Um acht Uhr am Abend hatte ich eine Stunde online Albanisch, um meine Kenntnisse für die Reise im März aufzufrischen, als der Fliegeralarm losging. Das Heulen der Sirenen hörte die Lehrerin über Skype nicht, wohl aber dann den Einsatz der Abwehrgeschütze, die den russischen Angriff bekämpften – BUMM-BUMM-BUMM …
In Kiew leben wir nach wie vor zu dritt in der Wohnung im Regierungsviertel, die auch das Büro beherbergt. Wir – das sind der Kameramann, der Fahrer und Produzent sowie ich als Korrespondent. Diese wohl älteste Dreier-Weg Kiews funktioniert nach wie vor sehr gut, und so schauten wir auch an diesem Abend gemeinsam vom Balkon in den Himmel Kiews, doch zu sehen ist nichts und der Geschützlärm der Flugabwehr verklingt. Wir sagen einander „Gute Nacht“ – ein Wunsch, der in der Ukraine eine viel konkretere Bedeutung hat als in Österreich.
BUMM-BUMM-BUMM – es ist halbzwölf und wir werden aus dem Tiefschlaf gerissen. Alarm haben wir keinen gehört, wohl aber den Lärm der Geschütze und Raketen. Einschläge sind nicht zu sehen, wieder einmal Glück gehabt, denn einmal schlug eine russische Drohne nur wenige Hundert Meter vom Büro entfernt in ein Haus ein. Obwohl bis zum Morgen nichts mehr passiert, fühlt man sich in der Früh wie gerädert. Zum täglichen Morgensport muss ich mich regelrecht zwingen, aber es gelingt mir, den „inneren Schweinehund“ zu überwinden.
Das Arbeitspensum ist dieser Tagen besonders dicht. Wegen des dritten Jahrestages haben wir mehrere längere TV-Beiträge zu produzieren. Hinzu kommen Artikel für die Kleine Zeitung – und natürlich das ständige Leben in der Lage, militärisch, politisch, wirtschaftlich – von der Ukraine bis zum Balkan. Das Mobiltelefon wurde zur unersetzbaren Informationsquelle, die „Telegramm-Kanäle“ zum wichtigsten Instrument in der Ukraine. Hinzu kommen die vielen Online-Angebote zur weltpolitischen Entwicklung, gilt es doch, sich so gut wie möglich über die Lage in den USA, in Russland, in China und in der EU zu informieren, die die Ereignisse in der Ukraine beeinflussen. Innere Distanz zu wahren - trotz der vielen menschlichen Tragödien, und trotz des oft zu beobachtenden Heldenmuts und des Widerstandswillens auch vieler Betriebe – ist in diesem Zusammenhang mein grundlegendes Arbeitsprinzip, das täglich gelebt werden muss.
„Alles Verstehen, heißt nicht alles Verzeihen! – Doch ohne Verstehen ist eine Analyse der Akteure des ukrainischen Dramas nicht möglich. Der Begriff „Putin-Versteher“ wurde ein wichtiger Bestandteil des westlichen und ukrainischen Informationskrieges, dem man als Journalist ständig ausgesetzt ist, und den es von beiden Seiten gibt. Diesen „schrecklichen Vereinfachern“, entgegenzuwirken, die der Baseler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt „terrible simplificateur“ genannt hat, ist mein tägliches journalistische Brot, eine Sisiphos-Aufgabe, um der Komplexität des Lebens zu entsprechen, die durch die gewaltige Flut an Quellen und meine umfassenden Sprachkenntnisse nicht leichter wird. Wird es Frieden geben, wenn ja, wann und zu welchen Bedingungen – und was heißt das für die Ukraine und für Europa – das ist die derzeit beherrschende Frage.

Zu den Herausforderungen zählen die vielen Tausenden Kilometer, die wir immer wieder auf den Straßen dieses großen Landes zurücklegen und bereits zurückgelegt haben – mehr als 250.000 Kilometer waren es seit Kriegsbeginn. Belastend kommt die Trennung von der Familie hinzu. Zwar gibt es heute auch die Videotelefonie, doch das ist natürlich kein Ersatz für ein Zusammensein mit meiner Familie! Meine Enkelin wird demnächst neun Jahre alt, ein Pflichttermin in Salzburg, auf den sich ihr Opa schon riesig freut. Die Sorge um ihre Zukunft in einem eher krisenhaften Europa ist ebenfalls nicht leicht zu ertragen, doch das ist ein Thema, das über drei Jahre Krieg hinausreicht.

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