20241111 Kleine Zeitung Trump, die Realität und die Ukraine Wehrschütz
Erstens: der bisher letzte große militärische Erfolg Kiews – die Befreiung der Kreishauptstadt Cherson – liegt schon zwei Jahre zurück. Im Sommer 2023 scheiterte die ukrainische Gegenoffensive und seit damals rücken russische Truppen langsam, aber ständig in der Ostukraine vor; dieser Vormarsch hat sich in den vergangenen Wochen beschleunigt. Der ukrainische Angriff auf russisches Territorium im Raum Kursk brachte zwar einen medialen Erfolg nicht aber die erhoffte militärische Entlastung im Donezbecken. Die Ukraine hat beträchtliche Mobilisierungsprobleme, die demographische Perspektive ist katastrophal, die Zahl der Fahnenflüchtigen hoch, und hinter vorgehaltener Hand bewerten westliche Militärexperten auch das Ausbildungsniveau vieler ukrainischer Truppen als mangelhaft. Natürlich „kochen“ auch die Russen nur mit Wasser, und ein militärischer Zusammenbruch der Ukraine ist nicht zu erwarten, aber eben auch nicht eine Rückeroberung besetzter Gebiete.
Zweitens: der Westen hat seine Wirtschaft nicht auf Kriegsproduktion umgestellt. Das Ausmaß ukrainischer Wünsche nach Waffenlieferungen ist irreal, auch im Falle der USA, die nicht nur die Ukraine, sondern den Nahen Osten, den Indopazifischen Raum sowie den Eigenbedarf im Blick haben müssen. Bei vielen europäischen NATO-Staaten kommt die Nachrüstung nach Jahrzehnten der „Friedensdividende“ hinzu. Den Zustand in Deutschland, der größten Volkswirtschaft Europas, beschrieb jüngst ein Artikel in der NZZ: „Die deutschen Streitkräfte haben nichts mehr, was sie abgeben könnten. Auch für andere Waffensysteme, Ausrüstung und Munition gilt das. Nachschub wurde zwar angekündigt, doch er dauert zu lange.“
Drittens: die westliche Unterstützung erfolgte bisher nach dem Motto: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, und das vielfach zu spät. De facto muss die Ukraine insbesondere durch US-Vorbehalte den Krieg mit „angezogener Handbremse“ führen, ist aber – trotz massiver eigener Anstrengungen – weiter auf amerikanische Unterstützung angewiesen. Diese Politik bietet weder der Ukraine eine Perspektive, die personell, materiell und wirtschaftlich ausblutet, enthält aber ein beträchtliches Eskalationspotential inklusive einer weiteren Destabilisierung europäischer Mittelmächte (Deutschland / Frankreich) durch die zunehmende Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und gravierende innenpolitische Probleme (Migration).
Der neue US-Präsident und sein Team wollen diesen unbefriedigenden Zustand beenden und die USA entlasten. Dabei ist zunächst offen, ob Trump eine umfassende Friedenslösung oder nur einen eingefrorenen Konflikt nach dem Muster Nord- und Südkorea im Blick hat. Unabhängig davon könnten die USA die Gebietsverluste der Ukraine als Tatsache akzeptieren, ohne das Kiew diese Verluste auch völkerrechtlich anerkennen muss. Die Ukraine würde auf ein Streben nach einem NATO-Beitritt langfristig verzichten, an der Front sollte eine entmilitarisierte Zone entstehen, die von einer internationalen Friedenstruppe überwacht werden sollte. Diese Zone sollte nach den Worten des künftigen US-Vizepräsidenten JD Vance auf ukrainischer Seite stark befestigt sein, um Russland von weiteren Angriffen abzuhalten. Diesem Zweck soll auch die weitere Aufrüstung der Ukraine und die Stärkung ihrer eigenen Rüstungsindustrie dienen. Der Wermutstropfen für Europa besteht darin, dass ungenannte Trump-Berater eine personelle und finanzielle Beteiligung der USA an einer derartigen Friedenstruppe ausschließen – Europa wird also deutlich mehr zahlen müssen als bisher. Von Beistandsgarantien für die Ukraine nach dem Muster des Artikels V des NATO-Vertrages ist bisher nicht die Rede, die Stellung der Ukraine in einer europäischen Sicherheitsarchitektur könnte jedoch durch eine bewaffnete Neutralität nach „Schweizer Muster“ definiert werden.
Mit Sicherheit arbeitet das Trump-Team bereits an einem konkreten Plan; sein Inhalt wird auch davon abhängen, wer Verteidigungsminister, Außenminister und nationaler Sicherheitsberater sein wird. Doch die USA sind zwar eine sehr wichtiger, aber eben nur ein Faktor im Krieg in der Ukraine. Ihrem Präsidenten Volodmir Selenskij können die USA zwar mit dem Entzug der Militärhilfe drohen, doch muss Washington auf andere NATO-Staaten Rücksicht nehmen, die weiterhin gegen Verhandlungen mit Russland sind. Hinzu kommen Frankreich und Deutschland, dessen (angeschlagener) Kanzler Scholz die Bildung einer Art Ukraine-Kontaktgruppe vorgeschlagen hat, der auch China, Indien und Brasilien angehören sollen. Diese Länder sind von enormer Bedeutung, damit die USA nicht die Rechnung ohne den „Wirt“, ohne Vladimir Putin, machen. Am Schlachtfeld bestehen derzeit wenig Anreize für größere russische Kompromissbereitschaft; sie ist aber entscheidend für eine diplomatische Lösung, die die Existenz der Ukraine sichern und daher wohl auch bedeuten muss, dass Russland unter anderem auf die (weitere) Annexion ukrainischer Gebiete verzichtet, die in der Verfassung als russisch festgeschrieben sind. Aus ukrainischer und wohl auch aus europäischer Sicht muss jedenfalls so weit wie möglich ausgeschlossen werden, dass eine diplomatische Lösung nur eine Atempause für einen weiteren russischen Krieg auf ukrainischem Territorium darstellt.