20240808 ECO Frauen und der ukrainische Arbeitsmarkt Wehrschütz Mod
Berichtsinsert: Christian Wehrschütz aus der Ukraine
Kamera: Nenad Dilparic; Schnitt: Mica Vasiljevic
Insert1: Zorjana Senischin, Gründerin des Unternehmens Milla Nova in Lemberg
Insert2: Anja (22), Freiwillige bei den ukrainischen Streitkräften
Insert3: Natalja Bilozka, Personalberaterin in Kiew
Insert4: Gerhard Bösch, Generaldirektor der Privatbank in der Ukraine
Insert5: Mariana, LKW-Lenkerin bei einer Spedition in der Ukraine
Insert6: Mariana, LKW-Lenkerin bei einer Spedition in der Ukraine
Insert7: Andrij Epischow, Direktor der Spedition „Translogistik“ in der Ukraine
Insert8: Ruslan Ilitschow, Generaldirektor des Arbeitgeberverbandes der Ukraine
Gesamtlänge: 8’ 36
Diese Großschneiderei in Lemberg verkörpert die Klischees, die über die Arbeit von Frauen weit verbreitet sind. 650 Personen sind hier beschäftigt, vor allem Frauen. Exportiert werden die Hochzeitskleider trotz des Krieges in die ganze Welt. Doch dieser Betrieb zeigt auch, dass weibliches Unternehmertum in der Ukraine schon lange vor dem russischen Großangriff zielstrebig und erfolgreich sein konnte, denn gegründet hat diesen Betrieb vor 20 Jahren eine Frau:
20240618 Zorjana Senischin office Milla Nova Lviv
14'1 - 2000 Dollar Startkapital vom Vater – (25)
"Ich wollte mich selbständig machen und hatte etwas Ahnung vom Schneidern von Hochzeitskleidern. Mein Vater gab mir 2000 Euro als Startkapital; damit kaufte ich die erste Nähmaschine, mietete ein Geschäftslokal, das wir herrichteten und Stoffe. So begannen meine Schwester und ich zu arbeiten."
Bei den ukrainischen Streitkräften ist die Präsenz von Frauen jedoch erst seit der russischen Annexion der Halbinsel Krim und dem Krieg in der Ostukraine vor zehn Jahren sichtbar und spürbar angestiegen. Massiv zugenommen hat diese Präsenz seit dem russischen Großangriff Ende Februar 2022. Ein Beispiel ist die 22-jährige Anja; sie studierte Jus in Kiew und meldete sich freiwillige zum Kriegsdienst; der Umgang mit der Kalaschnikow und die Bewegung im Gelände stehen am Beginn der Ausbildung. Ihre Familie regierte auf die Meldung mit gemischten Gefühlen:
5‘20 Anja Reaktion der Eltern (30)
„Ich habe meine Eltern etwa ein halbes Jahr darauf vorbereitet. Im ersten Monat haben alle gelacht, alle außer meinem Vater. Er fand es nicht lustig, weil er nicht wusste, was ich tun könnte. Ein bis zwei Wochen bevor ich begann, meinen Rucksack zu packen, lachte niemand mehr; alle haben versucht, mich davon abzuhalten; das ist klassisch, Mädchen, was willst du dort, dort sind nur Jungs; aber wenn man etwas wirklich will, bleibt man dran.“
Etwa ein Fünftel der Streitkräfte bilden bereits Frauen; sie sind stark im Sanitätsdient vertreten, dienen aber auch im Kampfeinsatz an vorderster Front. Doch nicht alle Frauen sind von patriotischem Geist beseelt; das zeigen medizinische Berufe. Krankenhäuser werden nicht regelmäßig beschossen, doch diese Kinderklinik in Kiew zeigt, wie verheerend die Folgen sein können. Zum Mangel an medizinischem Personal führt weniger der Beschuss als vielmehr die Möglichkeit, zum Militär eingezogen zu werden:
7'00 - Defizit bei medizinischen Berufen - 7'35'5 Bilozka Natalija (33)
„Da Frauen auch befürchten, dass es im Jahr 2026 oder 2027 gesetzliche Änderungen geben könnte, verlassen sie das Land vorzeitig. Das betrifft alle medizinischen Mitarbeiter, weil alle, die eine medizinische Ausbildung haben, grundsätzlich wehrpflichtig sind, unabhängig davon, ob sie Männer oder Frauen sind. Aus Angst vor einer möglichen Mobilisierung verlassen Frauen ebenfalls das Land. Daher besteht derzeit ein erheblicher Personalmangel.“
Keine wirklichen Probleme hat bisher die Privatbank, größte Bank der Ukraine. Mehr als 65 Prozent der 18.000 Mitarbeiter sind Frauen; im Topmanagement ist ihr Anteil sogar noch höher. Die Sicherung und Bewachung von Geldtransporten war bisher eine Männerdomäne; wie Videos der Bank zeigen, ändert sich das schrittweise, und Frauen sind auch bei der Belieferung der mehr als 1000 Filialen im Einsatz. Trotzdem bleibt der Arbeitskräftemangel in vielen Sektoren der ukrainischen Wirtschaft bestehen:
Gerhard Bösch 22'24'8 - Größtes Problem - 22'58'7 (34)
"Ich glaube, dass größere Problem ist, tatsächlich, dass zurzeit einige Millionen Frauen nicht mehr in der Ukraine sind. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen auch vor dem Krieg war schon sehr hoch; also es gibt keinen sehr, sehr großen Pool an Frauen, die in der Vergangenheit zu Hause geblieben wären, und die jetzt neu auf den Arbeitsmarkt kommen. Insgesamt hat die Tatsache, dass Frauen geflohen sind, das Arbeitskräfteangebot massiv reduziert."
Andererseits eröffnen sich nun Frauen auch in anderen Männerdomänen Job-Perspektiven, die es vor dem Krieg nicht gab. Dazu zählen das Fahren von Traktoren in der Landwirtschaft ebenso wie das Lenken großer LKWs; Mariana hatte schon viele Jahre eine C-Führerschein, fand aber keine Arbeit bei einer Spedition. Ihr Mann ist Mechaniker, ihre Kinder erwachsen; daher kann die 50-jährige nun ihren Traum auch leben:
5’42 Mariana, Liebe zum Auto (25)
„Ich mag es, rund um die Uhr Auto zu fahren. Fahren, schlafen, fahren, schlafen. Ich kann nicht in geschlossenen Räumen, im Büro sein. Das ist für mich wie ein Käfig. Ich sehe, wie sich jeden Tag das Bild hinter dem Lenkrad ändert. Jede Minute ändert sich etwas, wenn du fährst. Aber im Büro ist es immer dasselbe. Das mag ich nicht.“
Eine Schlafkoje hat Marianas LKW, aber eine Waschgelegenheit gibt es nicht. Duschen für Frauen, getrennt von männlichen Waschräumen, sind in der Ukraine jedoch eine Seltenheit:
2’43 Mariana Arbeit und Hygiene (30)
„Wenn wir auf der Basis sind, ja. Bei Tankstellen auch aber nicht an allen. Ansonsten ist es etwas schwierig, besonders jetzt im Sommer. Die Männer denken sich etwas aus, sie arbeiten schon lange und behelfen sich mit Kanistern und so weiter. Es gibt noch keine Einrichtungen für Frauen. Ich habe gehört, dass es im Ausland überall Duschen gibt. Hier noch nicht; aber wo ein Wille, da ein Weg; ich finde etwas, wenn ich es brauche.“
200 LKW hat Marianas Arbeitgeber; etwa 20 Autos stehen still; einerseits wurden Fahrer mobilisiert, andererseits können sich diese Ukrainer nur 90 Tage pro Jahr in der EU ohne Visum aufhalten, weil sie keinen Flüchtlingsstatus in der EU haben. Durch Stipendien versuchte die Firma vor allem Frauen zu gewinnen, doch nur zwei traten schließlich in die Firma ein:
Andrij Epischow 10'24'6 - Probleme mit Frauen - 11'07'6 (33)
„Wir hatten wohl etwa hundert Frauen, die diese Ausbildung absolviert haben, aber niemand blieb. Die meisten Frauen ließen sich für den Fall ausbilden, dass sie den C-Schein brauchen können. Vielleicht werde ich nicht als Fahrerin arbeiten, aber ich möchte den Führerschein haben. Und dann kommt die Frage im Vorstellungsgespräch: „Ich werde doch um 18 Uhr zu Hause sein, und kann mich um meine Familie kümmern.“ Aber das ist unmöglich, wenn man in diesem Beruf arbeitet.“
Doch es sind bei weitem nicht nur die Arbeitsbedingungen oder die Flucht von Frauen ins Ausland, die einem massiven Einsatz weiblicher Arbeitskräfte entgegenstehen. Ein wesentlicher Faktor ist die Einberufung zu den Streitkräften; dadurch verloren Betriebe Mitarbeiter, deren Ausbildung Jahre dauerte:
Ruslan Ilitschow 10'33'1 - Arbeitskräfte und Mobilisierung - 11'30'5 (35)
„Nach unserer Analyse sind der größere Teil davon qualifizierte Arbeitskräfte, Ingenieur- und technische Berufe, die generell nicht so schnell ersetzt werden können. Dass sind vor allem männliche Berufe. Zweitens ist ein hohes Qualifikationsniveau erforderlich, das viele Jahre der Vorbereitung benötigt. Man kann heute nicht jemanden in drei Monaten als Fräser oder zu einem Glasofen-Operator ausbilden; daher ist dies tatsächlich ein sehr ernstes Problem.“
Unternehmen beschreiten verschiedene Wege; dazu zählt die Anwerbung ganz junger Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, die in der Ukraine nicht einberufen werden. Hinzu kommt die verstärkte Automatisierung, die jedoch Investitionen erfordert. Alle diese Maßnahmen werden nur greifen, wenn die Ukraine ein Minimum an Stromversorgung sichern kann; eine stärkere Unterstützung der Luftabwehr durch den Westen ist somit eine wesentliche Überlebensfrage auch für die ukrainische Wirtschaft, denn diese Gefahr können Frauen weder in den Streitkräften beseitigen noch als Lenkerin von Traktoren, LKWs oder anderen Fahrzeugen, die bisher Männer dominiert haben.