20231213 Praxis Neuer Kirchenkalender in der Ukraine Wehrschütz Mod
Die Glocken der Kirche des Heiligen Nikolaus in Irpin riefen heuer nicht nur die Gläubigen zum Gottesdienst, sondern sie läuteten im wahrsten Sinne des Wortes auch eine neue Ära ein. Seit erstem September ist auch in dieser Gemeinde, die zur OKU, zur „Orthodoxen Kirche der Ukraine“, der neue Kirchenkalender in Kraft; im Grunde zählte die Gemeinde in Irpin zu den Vorreitern der Umstellung, erläutert ihr geistlicher Hirte, Andri Kluschew:
Pfarre des Heiligen Nikolaus
20231206 Andri Kluschew interview svestenik PCU Irpin
34'2 - zwei Schritte - 1'07'8
"Im Vorjahr haben wir den Heiligen Nikolaus noch am 19. Dezember gefeiert, Weihnachten aber bereits am 25. Dezember. Das war somit der erste Schritt zum Übergang zum neuen Kalender. Heuer ist dann mit 1. September die gesamte Orthodoxe Kirche der Ukraine auf den neuen Kalender umgestiegen. Die Ausnahme bilden vielleicht noch etwa 100 Gemeinden, darunter vor allem Klöster. So ist das eine konsolidierte Haltung, die mir persönlich gefällt."
Gefeiert wurde der Gottesdienst am Nikolaus-Tag bereits um neun Uhr in der Früh; gekommen sind daher vor allem ältere Personen und wiederum vor allem Frauen. Trotzdem ist die Kirche gut besucht; auf die Kalender-Umstellung geht Andri Kluschew auch in seiner Predigt ein:
20231206 Andri Kluschew govor svestenik PCU Irpin
20'3 - Predigt zum neuen Kalender - 1'25'2
"Der sechste Dezember ist ein Datum, an dem unsere Vorfahren vor der Revolution im Jahre 1917 den Tag des Heiligen Nikolaus gefeiert haben. Dann änderten die bolschewistischen Machthaber den Kalender und begannen damit, den Heiligen Nikolaus und alles andere Christliche mit seinen Heiligen zu unterdrücken. Der beliebteste Feiertag wurde dann das neue Jahr, auf das gewartet wurde, aber nicht mehr auf Weihnachten. Schließlich wurde eine Tradition geschaffen und der heilige Nikolaus durch das sagenhafte Väterchen Frost ersetzt. Doch der heilige Nikolaus ist keine sagenhafte, sondern eine konkrete Person, ein Bischof der orthodoxen Kirche, der im vierten Jahrhundert in der heutigen Türkei gelebt hat."
Der Priester erzählt mir, dass es in seiner Gemeinde keine Diskussionen gegeben habe; er habe die Gläubigen gefragt, und sie seien einverstanden gewesen. In der Ukraine gilt die Vorweihnachtszeit auch als Fastenzeit; daher bringt die Kalenderumstellung auch kulinarische Vorteile, erläutert Andri Kluschew:
2'38'1 Dritter Grund Fastenzeit - 3'18'4
"Früher dauerte die weihnachtliche Fastenzeit bis zum siebenten Jänner. Somit fiel Silvester in die Fastenzeit, und da konnte man gewisse Speisen nicht essen. Jetzt ist alles ok, weil nun der 24. Dezember der letzte Fasttag ist."
Statistische Angaben darüber, wie viele Gemeinden der Orthodoxen Kirche der Ukraine beim alten Kalender blieben, sind nicht zu finden. Unklar ist auch, ob alle Altersgruppen gleichmäßig für die Umstellung waren. In diesem Zusammenhang verweist der Pressesprecher der OKU, Vater Michailo, auf seine eigene Gemeinde:
20231124 svestenik Mihailo interview Mihailovski sabor Kiew
6'51'4 - Einstimmigkeit und kleinere Ausnahmen - 8'52'3
"Unsere Kirchgänger sind gemischt, das sind Junge, Alte aber auch Personen mittleren Alters. Als sich bei uns die Frage der Kalenderänderung stellte, haben wir nach dem Gottesdienst darüber gesprochen; dann stimmte unsere Gemeinde einstimmig für den Übergang, und somit waren auch alle Altersgruppen dafür. Grundsätzlich war die Umstellung somit nicht schwer; doch einige Gemeinden blieben dann noch beim alten Stil wie etwa das Kiewer Höhlenkloster, das aber dann vor Beginn der Fastenzeit im Advent ebenfalls umgestellt hat. Das ist somit ein unumkehrbarer Prozess. Die absolute Mehrheit aller Gemeinden übernahm sofort den neuen Julianischen Kalender und nur eine kleine Menge blieb beim alten Kalender; doch das ist ihre gutes Recht, weil die ukrainische Kirche auf ihr ukrainisches Volk hört."
Doch die Kalenderumstellung ist mehr als nur ein kirchlicher Schritt, erläutert Vater Michailo:
20231124 svestenik Mihailo interview Mihailovski sabor Kiew
3'54'8 - Hin zu Europa - 4'24'1
"Das ist ein Schritt, dass wir ein Teil Europas sind; und das war einer der Gründer der ukrainischen Gesellschaft, den Kalender zu ändern, damit wir das Ereignis der Geburt Christi nicht gemeinsam feiern mit der russischen Kirche oder mit der Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine, die noch immer unter den Ukrainern als Parasit existiert."
Diese Wortwahl ist auch ein Zeichen dafür, wie angespannt die kirchlichen Beziehungen in der Ukraine seit Kriegsbeginn vor fast zwei Jahren sind. Dabei ist die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchat in einer sehr schwierigen Lage; in den besetzten Gebieten übernimmt die Russisch-Orthodoxe Kirche ihre Gemeinden, auf Ukrainisch-kontrolliertem Gebiet ist der Druck zum Übertritt massiv, gilt diese Kirche doch vielfach als fünfte Kolonne Moskaus. Während diese Kirche beim alten Kalender bleibt, hat auch die mit Rom unierte Griechisch-Katholische Kirche die Umstellung vollzogen. Sie ist besonders stark in der Westukraine, und daher kann in Lemberg Weihbischof Volodimir Hrutsa mit voller Berechtigung sagen:
20231125 vladika Volodimir Hrutsa Lemberg interview
22'4 - Keine größeren Vorbereitungen - 49'1
"Es ist sehr schnell gelaufen ... würde ich sagen."
Doch nicht nur in der Westukraine, sondern auch in Kiew ergibt eine Straßenbefragung beim Christbaum vor der Sophien-Kathedrale eine klare Mehrheit für die Kalenderumstellung. Herausstechen allerdings zwei Antworten; die erste stammt von Nastia, die mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern zum Platz gekommen ist; sie sagt:
20231209 Nastia jelka vox pops Kiew
32'8 - Es geht um das Herz - 59'5
"Die ganze Welt feiert entweder am 25. Dezember oder am 7. Jänner. Gott muss unter uns und in uns sein. Wenn wir das fühlen, so können wir das an beiden Tagen; das wichtigste ist, wie wir dazu stehen."
Wenige Meter von dieser Familie entfernt stehen zwei Frauen, Veronika und Olja; in den Händen halten sie Plakate mit Bildern von Soldaten, Veronikas Vater und Oljas Ehemann; beide gerieten bei den Kämpfen um Mariupol in russische Kriegsgefangenschaft; seit fast 20 Monaten haben sie keinen Kontakt mehr zu ihnen. Veronika und Olja werden am 25. Dezember Weihnachten feiern, doch schränkt Olja ein:
Olja 5'23'7 - Feiert wegen der Kinder - 5'51'0
"Ich habe zwei Kinder; ich selbst habe kein Bedürfnis Weihnachten, Silvester oder Geburtstag zu feiern; das mache ich nur wegen meiner Kinder. Daher wird es ihretwegen auch Geschenke geben. Ein echter Feiertag wird sein, wenn unsere Männer wieder zu Hause sein werden."
Bleibt zu hoffen, dass diese zweiten auch die letzten Kriegsweihnachten sind, die die Ukraine ertragen muss.