20231205 Kleine Zeitung: Verliert die Ukraine den Krieg? Wehrschütz
Beginnen wir bei der Beurteilung der Frage bei der Ukraine. Viele vermeintliche oder tatsächliche Militärexperten unterschätzen vor und zu Beginn des Krieges Durchhaltefähigkeit und Durchhaltewillen des ukrainischen Volkes. Diese falsche Beurteilung ergänzte eine Überschätzung der russischen Fähigkeiten, wobei Moskau die Lage in der Ukraine ebenfalls falsch beurteilt hat. Die ukrainischen Streitkräfte konnten Kiew halten und der Westen begann (zu) spät aber doch mit Waffenlieferungen. Im März und April 2022 ließen die politische Führung der Ukraine und auch entscheidende westliche Verbündete (Boris Johnson insbesondere) die möglicherweise bestehende Chance auf ein Friedensabkommen mit Russland ungenutzt verstreichen. Die weitere militärische Entwicklung schien diesem Verhalten zunächst recht zu geben. Denn im Herbst 2022 konnten die Ukrainer – nicht zuletzt dank amerikanischer Aufklärung - einen beachtlichen Teil des russisch besetzten Territoriums befreien. In diesem Sinne ist es bereits als ukrainischer Sieg zu werten, dass dieses Land als Staat nicht nur westlich des Flusses Dnipro überlebt hat und überleben wird.
Doch diese Sichtweise teilten und teilen Präsident Volodimir Selenskij, ein wesentlicher Teil der politischen Elite und auch ein großer Teil der Bevölkerung damals und auch heute noch nicht. Sieg bedeutet für sie die Befreiung aller russisch besetzten Gebiete einschließlich der Krim, die nach Aussagen von Präsidentenberatern eigentlich bereits seit Monaten befreit sein sollte. Denn die im Juni begonnene Gegenoffensive scheiterte; unter offenbar enormen Verlusten konnten nur wenige Quadratkilometer zurückerobert werden; vor einem Monat sprach nun auch der ukrainische Generalstabschef Valery Saluschnij in einem Artikel von einer Pattsituation an der Front, die aller Voraussicht nach nicht zu ändern sein werde. Dem widersprach wenig später Präsident Volodimir Selenskij, allerdings ohne Erfolg. Somit setzt sich nun auch in deutschen Leitmedien jene Erkenntnis durch, für die Oberst Markus Reisner und ich immer wieder als „prorussisch“ beschimpft wurden, und die ein deutscher Journalist jüngst so formulierte: „Wir müssen aufhören, uns die Lage in der Ukraine schönzureden“. All das bedeutet nicht, dass die USA und die EU ihre Unterstützung für die Ukraine einstellen sollen! Ändern muss sich aber die Zielsetzung, denn es geht nicht mehr um die Hilfe für den Sieg, sondern die Unterstützung für einen ehrenvollen Frieden und für Grenzen, die die Ukraine dank gelebter westlicher Garantien auch wirklich verteidigen kann. In diesem Sinne bedeutet die staatliche Existenz der Ukraine die rote Linie des Westens, die Russland klar gemacht werden muss.
Doch zum Tango gehören bekanntlich zwei Tänzer; und da ist nun leider fraglich, ob Russland in absehbarer Zeit – jedenfalls bis zur Präsidentenwahl in den USA – bereit sein wird, Verhandlungen über einen Frieden oder einen Waffenstillstand zu führen. Im Gegensatz zum Westen hat Russland seine Wirtschaft auf Kriegsproduktion umgestellt; das Land hat das größere Potential an Rekruten als die Ukraine, die trotz aller teilweisen militärischen Erfolge im Schwarzen Meer und aller industriellen Anstrengungen auf westliche Hilfe militärisch und finanziell angewiesen bleiben wird. Russland hat die Sanktionen bisher überlebt, droht aber immer stärker zum Juniorpartner Chinas zu werden, eine Position, die wohl weit weniger attraktiv sein dürfte als ein Partner des Westens zu sein.
„Krieg ist ein Akt der Gewalt – sein Ziel ist es, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen.“ – formulierte 1832 der preußische General Carl von Clausewitz in seinem Buch „Vom Kriege“ das Wesen des Krieges, den er als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln begriff. Russland hat je nach militärischer Lage seine Kriegsziele geändert, vom „Regimechange“ bis hin zur Ausschaltung der Ukraine als westlicher Bündnispartner. Derzeit sieht es so aus, als wären die russischen Territorialansprüche so umfassend und weit über die Halbinsel Krim hinausgehend, dass sie die Ukraine und der Westen nicht akzeptieren können. Hinzu kommt, dass in Kiew wohl zu Recht jedes Vertrauen in die Paktfähigkeit von Vladimir Putin fehlt, was Verhandlungen zusätzlich massiv erschwert. Somit kann ein Anstoß für Verhandlungen nur von außen, von dritter Seite kommen; das Ziel könnte zunächst ein Waffenstillstand sein, um ein weiteres (demographisches) Ausbluten der Ukraine zu stoppen. Derzeit lehnt Kiew auch derartige Verhandlungen ab, weil ein eingefrorener Konflikt ohne Frieden natürlich auch große Gefahren für die Ukraine mit sich bringt. Doch noch größer könnten eine dominant werdende Ukraine-Müdigkeit im Westen und ein fortgesetzter Abnützungskrieg werden, weil die Zeit insgesamt eher für Russland arbeiten dürfte; sein Potential haben bereits ein Franzose und ein Oberösterreicher sträflich unterschätzt, und dieser Fehler sollten allen Beteiligten ebenso als Mahnung dienen wie die katastrophalen Menschen- und Materialschlachten des Ersten Weltkriegs, die das Ende Europas als Weltmacht eingeläutet haben.