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Die Ukraine und die EU: Zwischen Signalwirkung und Zauberlehrling

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„Die Ukraine zwischen russischer Hegemonie und westlicher Indifferenz“ lautet der Titel eines prophetischen Aufsatzes, den ein ukrainischer Politologe im Jahre 1993 schrieb. Den zweiten Teil des Titels änderte erst der russische Großangriff am 24. Februar 2022. Bis dahin bestand die EU-Perspektive der Ukraine in einer Integration ohne Mitgliedschaft. Die „geopolitische“ EU-Kommission unter Ursula von der Leyen und Co schlug nun vor, mit der kriegsgeschüttelten Ukraine und dem teilweise von russischen Separatisten gehaltenen Moldawien Beitrittsgespräche zu beginnen.
Ob der EU-Gipfel Mitte Dezember diesem Vorschlag folgt, ist noch nicht klar. Als „Signalwirkung“, als „geostrategisches Bekenntnis, dass die Ukraine zum Westen gehört“, solle diese Einladung verstanden werden; so formuliertes es ein österreichischer Spitzenpolitiker, der nicht genannt werden will, dem Autor dieser Zeilen gegenüber. Bewusst ist sich diese Person des „Dilemmas“, vor dem die Staats- und Regierungschefs mit dieser Entscheidung stehen. Dazu zählt nicht nur aus österreichischer Sicht die Frage, ob durch die Ukraine nicht die sechs Staaten des Westbalkan noch stärker ins Hintertreffen geraten. So will die EU-Kommission Bosnien und Herzegowina noch immer keine Beitrittsgespräche anbieten, das seinen Krieg bereits fast 20 Jahre hinter sich hat, der Ukraine aber schon.
Klar ist nicht nur österreichischen Spitzenpolitiker, dass eine Erweiterung um die Ukraine ohne eine tiefgreifende Reform der EU nicht möglich ist. Doch zweifelhaft ist der Reformwille der EU und ihrer Mitglieder. Dabei geht es etwa ums Geld für Landwirtschaft und Regionalpolitik; denn viele bisherigen Netto-Empfänger in Ostmitteleuropa würden durch den Ukraine-Beitritt wohl zu Netto-Zahlern werden. Gerade diese Länder traten in der Vergangenheit als „Anwalt“ der Ukraine in der EU auf. Dazu zählte Polen, dessen Frächter seit Anfang November gemeinsam mit den polnischen Bauern alle Grenzübergänge zur Ukraine blockieren, um gegen die ihrer Ansicht nach billige Konkurrenz aus der Ukraine zu demonstrieren. Wer die kilometerlangen Schlangen von LkWs gesehen hat, erinnert sich unweigerlich an Goethes „Zauberlehrling“, der seinem Meister am Ende der Ballade zuruft: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“

Ein Zauberer ist in der EU aber nicht in Sicht. Doch geopolitische Überlegungen können nur in die Realität umgesetzt werden, wenn auch die Stimmbürger der EU-Mitglieder mehrheitlich dafür gewonnen werden. Daran darf angesichts der Wahlergebnisse in der Slowakei und in den Niederlanden gezweifelt werden; ein noch klareres Stimmungsbild werden wohl die Wahlen zum EU-Parlament im Juni liefern. Hinzu kommt, dass in Frankreich nach geltender Verfassung vor jedem EU-Beitritt ein Referendum stattfinden muss; auf das Stimmverhalten französischer Bauern darf man gespannt sein.
Umstritten ist, ob ein allfälliger EU-Betritt der Ukraine wirtschaftlich und finanziell verkraftbar ist. Angaben und Studien dazu sind widersprüchlich. Das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ (WIIW) hält einen Beitritt für grundsätzlich „machbar“, stellt aber klare Bedingungen. Dazu zählt die massive Steigerung ausländischer Direktinvestition für Modernisierung und Wiederaufbau. Ernüchternd ist die Bewertung ukrainischer Institutionen. Um das Niveau rumänischer Institutionen im Beitrittsjahr 2007 zu erreichen, werde die Ukraine beim bisherigen Reformtempo zehn Jahre brauchen, prognostiziert das WIIW! Das von einzelnen EU-Spitzen genannte Datum 2030 für eine Ende der Beitrittsgespräche ist somit wohl nur Wunschdenken. Doch all diese Zahlen sind de facto „Kaffeesudleserei“, weil derzeit niemand weiß, wann und wie der Krieg in der Ukraine enden und welche Grenzen das Land haben wird. Ob unter derartigen Voraussetzungen Beitrittsgespräche sinnvoll geführt werden können, ist eine Frage, die Brüssel bisher nicht schlüssig beantwortet hat. Nicht gerade vertrauensbildend wirkt das Verhalten der EU-Kommission. Sie veröffentlichte bisher keine Berechnungen präsentieren sollen, was ein Beitritt der Ukraine bedeuten könnte. Hinzu kommt der Misstrauensvorschuss, den sich die Kommission durch ihren „Leistungsnachweis“, bei der Beschaffung von Impfstoff gegen die Corona-Pandemie verdient hat.
Abgesehen von allen finanziellen Prognosen geht es um die politischen Folgen eines Beitritts. Erstens würde sich das „politische Kräfteparallelogramm“ in der EU massiv nach Osten verschieben; dazu zählt die Stimmverteilung im EU-Parlament. Zweitens dürfte der Einfluss der USA auf die EU dadurch noch stärker werden, die als entscheidender Waffenlieferant in der Ukraine noch höher im Kurs stehen als vor einigen Jahren. All diese Themen sollten bereits jetzt diskutiert werden, obwohl betont werden muss, dass es bei der Ukraine nicht um einen Beitritt, sondern um den Beginn von Verhandlungen geht! Klarheit sollte darüber herrschen, dass ein Beitritt – wenn überhaupt – erst nach Kriegsende erfolgen kann.
Die EU hat dank ihrer Mitglieder ein beachtliches Ausmaß an Frustration bei Beitrittswerbern ausgelöst. Dazu zählen alle Staaten des Westbalkan, die seit Jahren mit dem „leeren Löffel gefüttert“ werden; und dazu zählt insbesondere die Türkei, die seit 1963 eine EU-Perspektive hat, aber wohl niemals Mitglied werden wird. Die Ukraine hat wie kein anderes Land für eine EU-Perspektiv gekämpft, ein Kampf, der auch mit dem Blut ihrer Soldaten bezahlt wurde und bezahlt wird. Trotz aller negativen Seiten, die ihre politische Führung in Kiew zum Teil aufweist, verdient die ukrainische Bevölkerung gerade deshalb eine ehrliche Antwort auf ihr Streben nach einer Mitgliedschaft in der EU. Für den Balkan gilt seit Jahren: „Wir tun so, als wollten wir uns reformieren – und ihr tut so, als wolltet ihr uns aufnehmen!“ Diese Praxis muss gegenüber dem Balkan enden – gegenüber der Ukraine darf sie gar nicht einreißen, dazu steht für Europa, Österreich und seine Bürger zu viel auf dem Spiel!

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