Society Magazin Ukraine Stefanischina Interview
Zwischen der Ukraine und der EU bestehen ein Stabilisierungsabkommen und eine Freihandelszone. Wie viele EU-Vorschriften und Standards hat die Ukraine bereits umgesetzt? In welchem Ausmaß erleichtern Abkommen und freier Handel den Weg in die EU?
Wir haben bereits früh festgestellt, fast in den ersten Jahren als wir das Assoziierungsabkommen umzusetzen begannen, dass wir bereits über den Bereich des reinen Freihandels hinausgehen werden. Es war uns wichtig, Teil des europäischen Marktes zu werden und auf dessen Standards umzusteigen. Nach unseren Schätzungen wurden in der ukrainischen Gesetzgebung und Praxis etwa 4-5-mal mehr Akte implementiert, als im Assoziierungsabkommen selbst vorgesehen sind. Das ist ein sehr wichtiger Indikator und liegt daran, dass die Ukraine Teil des Energiemarktes wurde und wir die Verkehrsliberalisierung und die volle Handelsliberalisierung haben. Wir sind ebenso Teil von Zollabkommen- und Verfahren. Das sind alles Dinge, die über das Assoziierungsabkommen hinausgehen. Wir haben einen riesigen Sprung im Bereich der Digitalisierung, Datensicherheit und Datenschutz gemacht. Das wurde möglich, da wir auf der Ebene der EU-Mitgliedsstaaten einen Großteil der rechtlichen Basis implementiert haben. Wir sind weit über das Assoziierungsabkommen hinausgegangen und haben eine Freihandelszone geschaffen, die funktioniert. Und tatsächlich bildeten all diese Errungenschaften die Grundlage dafür, dass unsere Wirtschaft seit Beginn des Krieges standgehalten hat und dass wir die Logistik über die Europäische Union schnell wiederaufgebaut haben, nachdem wir den Meerzugang verloren hatten. Diese Entscheidungen haben uns geholfen, Kandidatenstatus zu erhalten, denn die Mitgliedstaaten bewerteten den Fortschritt der Ukraine neutral und nicht nur mit dem emotionalen Blick darauf, dass wir auf dem Schlachtfeld für die europäische Wahl, für unsere Freiheit kämpfen. Dieser Kampf wurde durch den enormen Fortschritt gestützt, den wir zu Zeiten des umfassenden Krieges und danach erreicht haben.
Die Ukraine ist eine landwirtschaftliche Großmacht. Bereits durch den Krieg und die massiven Angriffe Russlands auf die Häfen am Schwarzen Meer und an der Donau, kann nun viel weniger an die traditionellen Märkte exportiert werden. Bauern in Europa fürchten die ukrainische Konkurrenz. Wie wollen Sie diesen Argumenten entgegentreten?
Das größte Problem liegt tatsächlich in der Logistik und der Regulierung dieses Transitverkehrs. Daher gibt es derzeit keinen direkten Einfluss auf den Wettbewerb auf dem Agrarmarkt. Aber wir haben darauf geachtet, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission in ihrer jährlichen Ansprache an die Europäische Union darauf hingewiesen hat, dass die Agrarpolitik in Richtung modernerer und wettbewerbsfähigerer Strukturen überprüft werden muss. Tatsächlich wurden die Subventionsmaßnahmen und die Agrararchitektur, die heute existieren, geschaffen, um den Markt auszugleichen und zu stärken. Heute ist der Agrarmarkt der Europäischen Union stabil, ausgereift, organisiert, und es besteht die Bereitschaft, in eine neue Phase überzugehen. Die Ukraine ist zweifellos ein großer Spieler, ein agrarischer Riese. Das wird und kann man nicht ändern, denn es ist eine natürliche Kraft der ukrainischen Wirtschaft. Die Europäische Union erhält tatsächlich ein riesiges Umsatzgebiet und gewinnt den größten Markt außerhalb der EU. Daher gibt es große Chancen für Investitionen, die Einrichtung ausländischer Produktionen, gemeinsame Konsortien und die Erweiterung der Exportmöglichkeiten auf externe Märkte durch die Europäische Union selbst.
Im Falle einer EU-Erweiterung um die Ukraine, Moldawien, Georgien und die sechs Länder des Westbalkans wäre die Ukraine der größte Nettoempfänger, wenn man die derzeitigen Regelungen und den bestehenden EU-Haushalt zugrunde legt. Ist die EU überhaupt in der Lage, die Ukraine zu verkraften?
Es gibt natürlich verschiedene Methodologien, dies zu ermitteln und diese werden sich ändern. Wir setzen eindeutig darauf, dass zum Zeitpunkt des Beitritts zur Europäischen Union, oder genauer gesagt, dass der Beitritt zur Europäischen Union nur dann erfolgen sollte, wenn die Ukraine ein stabiles Wirtschaftswachstum verzeichnet, eine stabile makrofinanzielle Situation herrscht und zweifellos eine umfassende Erneuerung unseres Staates beginnt oder sogar abgeschlossen wird. Das ist sehr wichtig für die Stabilität der Europäischen Union selbst und tatsächlich für die Stärkung des gesamten Erweiterungsblocks.
Wie bereitet sich die Verwaltung der Ukraine auf einen Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU vor? Wer soll alles eingebunden werden?
Heute gibt es in jedem Ministerium einen stellvertretenden Leiter für Fragen der europäischen Integration, es wurden Abteilungen für Fragen der Eurointegration kreiert. In einigen staatlichen Organen kann ich die Schaffung einer separaten Position initiieren. Ebenso haben wir eine gut strukturierte Arbeit im Parlament. Jeder Ausschuss hat einen Unterausschuss, der sich mit europäischem Recht und europäischen Standards befasst. Und natürlich die Führung des Präsidenten selbst, der gesamten Regierung und des Parlaments. Wir werden Arbeitsgruppen für jedes Verhandlungskapitel einrichten, welche Beamte, Parlamentarier und die Zivilgesellschaft umfassen. Das ist wahrscheinlich eine einzigartige Geschichte, die mit der Ukraine verbunden ist, denn in der Ukraine ist die Zivilgesellschaft, die Expertengemeinschaft, ein vollwertiger Teil der staatlichen Politik. Und tatsächlich gehen wir mit ihnen den Weg, der mit jeder Reform, der Interaktion mit Hauptstädten, der Vorbereitung von Dokumenten verbunden ist. Es ist ein neuer Prozess, welcher eine Änderung der Denkweise und der Arbeitsqualität erfordert. Aber bisher kann ich sagen, dass unsere Bewegung in die EU es uns ermöglicht, die besten Leute zu finden, die fähigsten unter ihnen zu fördern und sie in den staatlichen Sektor miteinzubeziehen.
Gibt es einen Informationsaustausch, eine Zusammenarbeit mit den Staaten des Westbalkan, die schon viel länger mit der EU-Beitrittsverhandlungen führen?
Ja natürlich. Die Kollegen kommunizieren ständig mit allen Erweiterungsländern und den Hauptverhandlungsführern der Westbalkanländer, die mehr Erfahrung haben. Ich möchte den Westbalkanländern, Serbien, Montenegro, Albanien, Bosnien und Herzegowina, danken, denn es gibt Offenheit für den Dialog. Wir übermitteln gerne alle Informationen über getroffene Vereinbarungen. Es ist das Gefühl einer gemeinsamen historischen Mission, wenn wir vereint sind. Natürlich verfolgt jeder vor bestimmten politischen Entscheidungen seine eigenen Ambitionen, aber wir alle verstehen, dass dies strategisch wichtige Entscheidungen für jedes Land sind, die insgesamt mit dem Erweiterungsprozess verbunden sind, und wir sind dankbar für diesen Dialog.
Warum sollte ein Bürger der EU für den Beitritt der Ukraine sein. In Österreich sorgt man sich wohl mehr um die Gasversorgung als um den Beitritt?
Diese offensichtliche Entscheidung ist damit verbunden, dass wir Alle Europa und eine europäische Familie sind. In Bezug auf wirtschaftliche Vorteile hat die Ukraine dies bereits mehrmals bewiesen, und ich weiß, dass für Österreich die Fragen des Gases und des Transitproblems sehr wichtig sind. Diese sind für uns auch politisch und wirtschaftlich sensibel – trotz Gaskrisen, Konflikten, Erpressungen durch die Russische Föderation hat die Ukraine ihre Verpflichtungen nie verletzt. Es gibt keine eindeutige Entscheidung, weder Ja noch Nein. Auf jeden Fall dürfen wir keine Krisen auf dem Gasmarkt oder Bedrohungen für das Gastransportsystem der Ukraine zulassen. Die Ukraine und die Europäische Union müssen eine Lösung finden, die es weder den Bürgern der Ukraine noch den Bürgern der Europäischen Union erlaubt, auf irgendeine Weise Probleme im Zusammenhang mit dem Abschluss des Transitabkommens zu spüren. Die Bürger Österreichs waren immer mit Wärme und Gas versorgt und der Transit wurde von der Ukraine geschützt – unsere Krieger verteidigen selbst jetzt dieses strategische Ziel. Wenn Sie Freundschaft und Einheit schätzen, wenn Sie Europa schätzen, dann ist das nicht verhandelbar.
Wie sinnvoll ist es, über Termine für einen EU-Beitritt zu spekulieren?
Wenn wir im Jahr 2021 über dieses Thema gesprochen hätten, so hätten wir nicht einmal über irgendwelche Terminvorschläge diskutiert, sondern im Allgemeinen über eine Erweiterung nachgedacht. Heute geht es bereits um Fristen, und ich denke, dass die Ukraine diesem Erweiterungsprozess einen neuen Impuls gegeben hat und allen Ländern, insbesondere denen des westlichen Balkans, Klarheit darüber gegeben hat, dass sie tatsächlich Mitglieder der EU werden. Und das Jahr 2030 ist als Zeitpunkt für den Abschluss aller Verfahren der Erweiterungsländer, einschließlich der Reform des Europäischen Union, realistisch. Die Europäische Union hat bereits Vorschläge zur Reform auf dem Tisch. Bei einer so stark positiven Dynamik, denke ich, dass alle daran interessiert sind, 2030 als Termin aufrechtzuerhalten.
Bildtext – Olga Stefanischina und Christian Wehrschütz bei den Fragebögen der EU, die nach Angaben der Ministerin binnen eines Monats beantwortet wurden:
OS: "An diesen Fragebögen haben mehr als 1000 Personen gearbeitet; das waren Vertreter der Zivilgesellschaft aber auch Mitarbeiter der Verwaltung, die unter Beschuss auch in den Luftschutzkellern in allen Gebieten der Ukraine gearbeitet haben. Dazu zählten sogar einige Mitarbeiter aus den besetzten Gebieten, die nicht ausreisen konnten. Geholfen haben uns auch viele Freunde aus europäischen Staaten; das war eine enorme Sache, die möglich wurde, weil in der Ukraine alle zusammengearbeitet haben. Das ist Ausdruck dessen, dass die Ukrainer alles schaffen können."