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Interview Timoschenko

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

20230228 Kleine Zeitung Interview Timoschenko Wehrsch

CW: Wie sieht jetzt die Arbeit des Parlaments unter den Bedingungen des Kriegsrechts aus? Journalisten ist es verboten, die Arbeit Parlaments vor Ort zu begleiten, sogar die Sitzungstermine sind offiziell geheim. Haben unter diesen Bedingungen Oppositionsparteien noch Entfaltungsmöglichkeiten?

12‘54‘6 – 13’29

Es tut mir weh, dass heute die Arbeit des Parlaments nicht öffentlich dargestellt wird, Journalisten dort keinen Zutritt haben, dass das alles in geschlossenen Sitzungen passiert, und dass dort manchmal zutiefst lobbyistische Gesetze verabschiedet werden. Derartige Gesetze dürften auf keinen Fall während eines Krieges, wenn Gesellschaft ihren Willen nicht äußern kann, beschlossen werden. Denn unter solch schwierigen Bedingungen sollten keine zweifelhaften Entscheidungen getroffen werden, die auf die eine oder andere Weise von der Gesellschaft nicht gebilligt werden könnten.“

CW: Was verstehen sie konkret unter Gesetzten, die Lobbys veranlasst haben?

17’07 – Kollektivverträge freiwillig – 19‘07‘6

Ich gebe ein Beispiel aus der jüngsten Parlamentssitzung; die zweite Gesetzesvorlage betraf den Schutz der arbeitenden Bevölkerung; alle unsere Gesetze vor dem Krieg wurden auf der Grundlage internationaler Dokumente erlassen, die von der Internationalen Arbeitsorganisation, die Teil der Vereinten Nationen ist, genehmigt wurden. Es gibt Kollektivverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die eine bestimmte Dauer des Arbeitstages, eine bestimmte Dauer der Arbeitswoche, des Urlaubs usw. garantieren. Da macht das angenommene Gesetz diese Tarifverträge und alle wichtigen Regeln leider fakultativ – und das bedeutet, dass sehr harte Lobbyarbeit betrieben wurde.

Was die Verteidigung der Ukraine betriff, sind sich alle Parteien grundsätzlich einig; aber ich glaube, dass die Arbeit des Parlaments geöffnet werden sollte, Journalisten sollten wieder im Parlament zugelassen werden. Wir sollten wir zu einem offenen und transparenten Parlamentarismus zurückkehren, damit die Gesellschaft die Möglichkeit hat, alle Gesetze zu analysieren.

CW: Ihre „Vaterlands“-Partei ist in der Opposition. Welche Möglichkeiten haben Sie heute als Partei und als Parteivorsitzende, ihre Positionen im staatlichen Fernsehen, in den dominierenden Privatsendern und generell in den Medien zu vertreten?

19.25 Absolut keine. Leider ist heute die Fernsehinformation völlig monopolisiert; bis zu einem gewissen Zeitraum bekam ich dort einmal pro Woche 5-7 Minuten Zeit - unter Kontrolle aber doch. Aber nachdem ich mich gegen die Verstaatlichung von Energoatom ausgesprochen und gesagt hatte, dass es während des Krieges nicht akzeptabel sei, dies hinter dem Rücken der Gesellschaft zu tun, wurde mir das Recht entzogen, auf diesen Kanälen zu erscheinen, und heute bin ich leider tabu.“

CW: Ende Oktober müssten heuer Parlamentswahlen stattfinden. Halten Sie derartige Wahlen auf den von Kiew kontrollierten gebieten für möglich, sind Sie für die Durchführung der Wahlen?

20’20:

JT:Die Zentrale Wahlkommission hat entschieden, dass die Wahlen laut Verfassung am letzten Sonntag im Oktober dieses Jahres stattfinden sollen, aber es wird alles davon abhängen, wie sich die Ereignisse an der Front entwickeln und ob es überhaupt einen Krieg geben wird. Ich möchte, dass die Ukraine gewinnt, dass sie dieses Jahr eindrucksvoll gewinnt, ich denke, dafür gibt es alle Chancen.

CW: Der Verfassung nach ist die Stellung des ukrainischen Präsidenten weit schwächer als die des russischen, obwohl er klar größere Vollmachten hat als der österreichische Präsident. Andererseits hat die Ukraine nun Kriegsrecht, und man hat den Eindruck, dass der Präsident und seine Umgebung die zentralen Faktoren in der Ukraine sind, obwohl es auch Regierung und Parlament gibt. Wie steht es um die Gewaltenteilung?

JT: Die ukrainische Verfassung sieht eine parlamentarisch-präsidiale Struktur vor, doch tatsächlich haben wir eine präsidiale Regierungsform; und diese präsidiale Vertikale ist unkontrollierbar, niemandem verantwortlich, und es gibt keine Gewaltenteilung.  In unserem Land stehen alle Machtstrukturen, Gerichte, auf die eine oder andere Weise unter dem Einfluss der Präsidialvertikale; wenn die Regierung völlig unkontrolliert ist, kann sie auch absolut unmoralisch sein.

CW: Zählt zur Unmoral auch ein Korruptionsskandal mitten im Krieg und noch dazu im Verteidigungsministerium? 

Vor dem Krieg kam es zu keiner umfassenden Institutionenreform, doch der EU und anderen internationalen Organisationen zugutehalten, dass es zu gewissen Änderungen kam. So haben wir:

Die Nationale Agentur für Korruptionsprävention, wir haben das Nationale Antikorruptionsbüro NABU, wir haben ein Antikorruptionsgericht, eine Staatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung, aber solche bruchstückhaften Änderungen lösen das Problem leider nicht; das zeigte jüngst dieser große Korruptionsskandal im Zusammenhang Lebensmittelversorgung der Armee während des Krieges, der nicht durch diese Institutionen aufgedeckt wurde.

Wir müssen jetzt über eine große institutionelle Reform nachdenken, über eine neue Verfassung, die aus den Tiefen der Gesellschaft kommen muss, die ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen den Ukrainern sein muss, und wo man nicht zulässt, dass auch nur ein Zweig der Regierung unkontrolliert gelassen wird. Das Ändern von Nachnamen in Positionen löst absolut nichts; es ist notwendig, das System zu ändern, in dem solche Fälle möglich sind.“

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