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Hohe Siegeserwartung und Ukrainisierung

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Berichte Ukraine

20230225 FJ7 Hohe Siegeserwartung und Ukrainisierung Wehrsch Mod

Ein Jahr Krieg in der Ukraine hat zwangsläufig auch die Denkweise der Bevölkerung der Ukraine beeinflusst und verändert. Das zeigen Umfragen, die verschiedene Meinungsforschungsinstitute durchgeführt haben. So haben Nationalstolz und das Bewusstsein Ukrainer zu sein, Höchstwerte erreicht, die es bis zum Kriegsbeginn nicht gab; ablesbar wird aus der Meinungsforschung auch eine Abkehr vom Russischen, das verstärkt als die Sprache des Aggressors und der Besatzungsmacht angesehen wird; groß ist auch die Zuversicht der Bevölkerung, dass die ukrainischen Streitkräfte siegen werden, berichtet aus Kiew unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz:

Umfragen waren und sind in der Ukraine immer mit gewisser Vorsicht zu bewerten gewesen; das betrifft die Methode der Erhebung ebenso wie den Umstand, dass mit Umfragen natürlich auch Politik gemacht wird, ein Faktor, der gerade in Kriegszeiten noch bedeutsamer ist. Doch in einem Punkt stimmen all diese Befragungen überein, und zwar in der enormen Siegeserwartung der Bevölkerung; in einem Fall liegt sie bei mehr als 80 Prozent, bei einer anderen Umfrage noch höher; bei dieser ist erstaunlich, dass unmittelbar nach dem 24. Februar die Befragten damit rechneten, dass der Krieg nur wenige Wochen dauern würde; nun liegt die Erwartung bei sechs Monaten bis zu einem Jahr; diesen Wandel erklärt eine Mitautorin der Umfrage, die Psychologin Mariana Tkalitsch, so:

20230224 Mariana Tkalitsch psiholog Kiew interview

16'34'5 - Siegeserwartung - 17'16'4 (36)

„Das war Wunschdenken im ersten Augenblick, weil man wollte, dass der Krieg so rasch wie möglich endet; das war somit weniger eine realistische Erwartung. Heute besteht eine realistischere Einstellung zur möglichen Dauer des Krieges, doch der Glaube an den Sieg liegt bei mehr als 90 Prozent, und die gegenteilige Ansicht liegt im Bereich der statistischen Fehlerquote.  Dieser Glaube an den Sieg hilft den Menschen psychologisch durchzuhalten, denn wir sind mitten im Krieg, und das ist somit auch eine Form des Selbstschutzes."

Doch was verstehen die Befragten unter dem Begriff „Sieg“; dazu sagt Mariana Tkalitsch:

17'34'8 - Sieg heißt 1991 - 18'39'5 (46)

"Die Mehrheit der Ukrainer denkt, dass ein Sieg die Rückkehr zu den Staatsgrenzen des Jahres 1991 bedeutet.  Es gibt auch weiterführende unterschiedliche Gedanken, wie man dann mit Russland umgehen soll; weil viele denken, dass mit der Rückkehr zu diesen Grenzen der russische Feind weiter bleibt. Doch physisch heißt Sieg die Rückkehr zu den Grenzen von 1991 inklusive der Halbinsel Krim. Bis zum Kriegsbeginn gab es da unterschiedliche Vorstellungen; doch jetzt nach so vielen Opfern und Zerstörungen, die unser Land erlitten hat, ist die Meinung weit verbreitet: "Wir wollen alles zurück", inklusive der Krim als Genugtuung."

Nach Ansicht der Meinungsforscherin ist die ukrainische Gesellschaft derzeit nicht bereit, einen territorialen Kompromiss wie etwa den Verzicht auf die Halbinsel Krim, als einen möglichen Preis für einen Friedensschluss zu akzeptieren.  Diese Einstellung sowie die hohe Siegeserwartung könnten noch zum Problem bei allfälligen Friedensverhandlungen werden, solle das Glück auf dem Schlachtfeld der Ukraine doch nicht so hold sein, wie von der Bevölkerung erhofft.

20'01'3 - Kompromiss und Butscha - 20'46'3 (32)

"Umfragen mehrerer Agenturen zeigen, dass die Gesellschaft zu keinem territorialen Kompromiss bereit ist; gäbe es derartige Wünsche, so würde die Gesellschaft heute derartige Kompromisse nicht akzeptieren.  Diese roten Linien wurden bereits im Frühling überschritten als die russischen Verbrechen in Butscha und Irpin enthüllt wurden. Da blieb nur mehr wenig, um zu einem Kompromiss zurückzukehren, und mit jedem Kriegstag wird diese Möglichkeit geringer."

44 Jahre alt, studierte Psychologie

Direktor des Forschungszentrums Rating Club

2'41'6 - Starker Anstieg der Identität - 3'42'5

4'40'4 - Abkehr vom Russischen - 5'37'4

8 Millionen im Ausland, 5-7 Millionen Binnenvertriebene

9'05'2 - Geänderte Mediennutzung - 9'44'0

10'18'4 - TV und Militärzensur - 10'51'9

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