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Ukraine und die Demokratie in Kriegszeiten

Fernsehen
ORFIII
Berichte Ukraine

Ukraine und die Demokratie in Kriegszeiten

Seit dem Ausbruch des Krieges vor einem Jahr dominiert in der Ukraine Präsident Volodimir Selenskij das politische Leben völlig. Seine Administration trifft de facto alle wichtigen Entscheidungen in Zusammenarbeit mit Behörden wie dem Nationalen Sicherheitsrat, der ebenfalls vom Präsidenten besetzt wird. Ein Schattendasein spielt nur mehr das Parlament; erstens hat die Partei des Präsidenten dort die absolute Mehrheit; zweitens finden alle Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und auch Journalisten haben keinen Zugang. Über die Möglichkeiten der Opposition in Zeiten des Kriegsrechts hat in Kiew unser Korrespondent Christian Wehrschütz mit Julia Timoschenko gesprochen:

Berichtsinsert: Christian Wehrschütz aus der Ukraine

Inserts: Julia Timoschenko, Oppositionspolitikerin in der Ukraine

Gesamtlänge: 5‘05

Julia Timoschenko ist Vorsitzende der Vaterlandspartei und ein Symbol der ersten prowestlichen Orangenen Revolution, die im Jahre 2004 in Kiew ebenfalls am Maidan stattfand. Seit Kriegsbeginn vor einem Jahr widmet sich Timoschenko auch stark der humanitären Hilfe; dazu zählte die Evakuierung schwerkranker Kinder in die EU. Aus den großen ukrainischen Medien ist die zierliche Politikerin de facto verschwunden; haben sie keinen Zugang?

19.25 Absolut keinen. Leider ist heute die Fernsehinformation völlig monopolisiert; bis zu einem gewissen Zeitraum bekam ich dort einmal pro Woche 5-7 Minuten Zeit - unter Kontrolle aber doch. Aber nachdem ich mich gegen die Verstaatlichung des Energiekonzerns Energoatom ausgesprochen haben wurde mir das Recht entzogen, auf diesen Kanälen zu erscheinen, und heute bin ich leider tabu.“

Das Parlament bietet der Opposition seit Kriegsbeginn ebenfalls keine Bühne; Sitzungen werden nicht mehr im TV übertragen und Journalisten haben keinen Zugang. Dadurch könnten Lobbys Gesetze durchbringen, ohne dass die Öffentlichkeit darüber diskutieren könne, kritisiert Timoschenko; als Beispiel bringt sie einen Gesetzesbeschluss aus einer Parlamentssitzung der Vorwoche: 

17’07 – Kollektivverträge freiwillig – 19‘07‘6

Es gibt Kollektivverträge, die eine bestimmte Dauer des Arbeitstages, eine bestimmte Dauer der Arbeitswoche, des Urlaubs usw. garantieren. Da macht das angenommene Gesetz diese Tarifverträge und alle wichtigen Regeln leider fakultativ – und das bedeutet, dass sehr harte Lobbyarbeit betrieben wurde. Was die Verteidigung der Ukraine betriff, sind sich alle Parteien grundsätzlich einig; aber ich glaube, dass die Arbeit des Parlaments geöffnet werden sollte, Journalisten sollten wieder im Parlament zugelassen werden. Wir sollten zu einem offenen und transparenten Parlamentarismus zurückkehren, damit die Gesellschaft die Möglichkeit hat, alle Gesetze zu analysieren.“

Kritisch sieht Julia Timoschenko auch die Erfolge von Präsident Volodimir Selenskij im Kampf gegen die Korruption. Wegen mehrerer Skandale musste Selenskij mehr als zehn führende Politiker in diversen Ministerien entlassen:

22’25 Vor dem Krieg kam es zu keiner umfassenden Institutionenreform, doch der EU und anderen internationalen Organisationen zugutehalten, dass es zu gewissen Änderungen kam. So haben wir:  Die Nationale Agentur für Korruptionsprävention, wir haben das Nationale Antikorruptionsbüro NABU, wir haben ein Antikorruptionsgericht, eine Staatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung, aber solche bruchstückhaften Änderungen lösen das Problem leider nicht; das zeigte jüngst dieser große Korruptionsskandal im Zusammenhang Lebensmittelversorgung der Armee während des Krieges, der nicht durch diese Institutionen aufgedeckt wurde.

23‘55‘3 Wir müssen jetzt über eine neue Verfassung, die aus den Tiefen der Gesellschaft kommen muss, wo man nicht zulässt, dass auch nur ein Zweig der Regierung unkontrolliert gelassen wird. Das Ändern von Nachnamen in Positionen löst absolut nichts; es ist notwendig, das System zu ändern, in dem solche Fälle möglich sind.“

Gestärkt werden, müsse auch die Gewaltenteilung:

21.35 Die bestehende Verfassung sieht eine parlamentarisch-präsidiale Struktur vor, doch tatsächlich haben wir eine präsidiale Regierungsform; und diese präsidiale Vertikale ist unkontrollierbar, niemandem verantwortlich, und es gibt keine Gewaltenteilung.  In unserem Land stehen alle Machtstrukturen, Gerichte, auf die eine oder andere Weise unter dem Einfluss der Präsidialvertikale; wenn die Regierung völlig unkontrolliert ist, kann sie auch absolut unmoralisch sein.

Und wie sehen Sie die Chancen, dass im Herbst tatsächlich Parlamentswahlen stattfinden?

20’20: Die Zentrale Wahlkommission hat entschieden, dass die Wahlen laut Verfassung am letzten Sonntag im Oktober dieses Jahres stattfinden sollen, aber es wird alles davon abhängen, wie sich die Ereignisse an der Front entwickeln und ob es überhaupt einen Krieg geben wird. Ich möchte, dass die Ukraine gewinnt, dass sie dieses Jahr eindrucksvoll gewinnt, ich denke, dafür gibt es alle Chancen.

Das bleibt abzuwarten, wobei zu berücksichtigen bleibt, dass Parlamentswahlen auch vorbereitet werden müssen, wie auch das Beispiel Österreich zeigt. So endete der Zweite Weltkrieg am 8. Mai, doch gewählt wurde in Österreich erst Ende November 1945.

15‘17‘6 – Invalidengesetz - 17’06

Ich gebe ein Beispiel aus der jüngsten Parlamentssitzung; da gab es zwei Gesetzentwürfe: einen zum Entzug von Arbeitslosengeldern für Menschen mit Behinderungen, zur Befreiung des Staates von seiner Verpflichtung, einen barrierefreien Raum für Menschen mit Behinderungen bereitzustellen. 30 Jahre lang hatten Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, und sie hatten Steuervorteile, in unseren Unternehmen waren sie verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz der Gesamtzahl der Menschen mit Behinderungen zu beschäftigen, und heute sollte all dies gestrichen werden.

Ich habe mich zu Wort gemeldet, und gegen diesen Entwurf gesprochen, den ich unter Hinweis auf die vielen kriegsinvaliden Soldaten für völlig unakzeptabel halte; und es ist mir gelungen, die Abgeordneten von meiner Meinung zu überzeugen, so dass das Parlament dieses Gesetz nicht beschlossen hat.

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