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Erinnerungen an den Kriegsbeginn

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Berichte Ukraine


Zu Weihnachten informierte ich meine Familie über die größte Gefahr für Europa seit der Kuba-Krise des Jahres 1961, ein Jahr, in dem auch ich geboren wurde. Meine Prognose lautete, dass es zum Krieg – wenn überhaupt – erst nach den olympischen Spielen in Peking kommen werde, weil Russland China sicher nicht die „Schau stehlen“ werde. Diese Bewertung spaltete meine Familie! Meine ältere Tochter wollte ihren Geburtstag Mitte Februar auf jeden Fall noch in Kiew feiern, während meine jüngere Tochter und ihr Gatte mit Blick auch auf meine Enkelin einen Flug nach Kiew ablehnten. So feierten meine ältere Tochter, meine Gattin und meine Schwägerin noch Geburtstag in Kiew. Die drei Damen flogen am 13.Februar zurück, während am 14. Februar mit der letzten Maschine aus Belgrad mein Kameramann Nenad noch nach Kiew kam. Mein lokaler ukrainischer Kameramann war nicht bereit, im Krieg zu arbeiten, und meine anderen Kameraleute brauchte ich in ihren jeweiligen Städten. Somit griff ich auf Nenad zurück, mit dem ich kurze Zeit bereits 2014 in Donezk gedreht hatte – ein Glücksgriff, denn er hat die Ruhe weg und versteht sich mit Igor, meinem langjährigen Produzenten und Fahrer sehr gut. Kettenrauchen verbindet, ein Laster, das ich als Großvater doch überwinden konnte.
Dank meiner guten Kontakte zu meinen Kameraden beim Bundesheer war ich über die Stoßrichtungen eines möglichen russischen Großangriffs sehr gut unterrichtet. Daher wollten wir die wahrscheinlichen Brennpunkte vor allem in der Ostukraine noch einmal abfilmen; das führte uns bis auf Sichtweite an die Stadt Donezk heran, wobei wir am 23.Februar dann in der Hafenstadt Mariupol übernachteten. Von dort wollte wir am nächsten Tag zur Demarkationslinie Richtung Halbinsel Krim fahren, doch Putins Großangriff kam uns einen Tag zuvor; erwartet hatte ich ihn schon seit einer Woche, weil in Absprache zwischen Moskau sowie den Separatistenrepubliken von Lugansk und Donezk ein Drehbuch ablief, das über die Anerkennung und die Bitte um „brüderliche Hilfe“ nur mehr die Frage offenließ, ob der Angriff auf das Donezbecken beschränkt sein oder die ganze Ukraine umfassen würde? Ich ging vom Großangriff aus, weil die Sanktionsdrohungen so massiv waren, dass sich für Moskau nur ein großer Ansatz „lohnen“ würde.

Als der Angriff dann am 24. Februar begann, berichtete ich in den frühen Morgenstunden noch einige Male live aus Mariupol, drehten wir noch einige Bilder aus der Hafenstadt, deren Bewohner damals noch nicht wussten, was ihnen bevorstand. Doch mir war klar, dass die Zeit drängte. Mariupol würde eingekesselt werden, war aber kein kriegsentscheidender Ort, während ein Fall Kiews einer Vorentscheidung gleichkäme. Daher mussten wir so schnell wie möglich raus aus der Hafenstadt und zurück nach Kiew, dann unmittelbar nach Kriegsausbruch war unklar, ob und wenn ja wie rasch die ukrainische Hauptstadt in russische Hände fallen würde. Gegen etwa Ein Uhr früh am 25.2. 22 trafen wir im Zentrum auf die letzte Straßensperre der Armee, die uns noch vom ORF-Büro im Regierungsviertel trennte. Die Soldaten überprüften unsere Dokumente mit Staunen und Unglauben, war der Tag doch durch eine Massenflucht aus Kiew geprägt gewesen, während wir in den Brennpunkt des Geschehens zurückkehrten.
Nach einigen Stunden Schlaf – Büro und Wohnung sind im selben Appartement – machten sich zwei strategische Entscheidungen bezahlt, die ich vor Kriegsbeginn getroffen hatte. Das war einerseits der Standort des Büros; wir lagen zwar als unmittelbarer Nachbar des ukrainischen Präsidenten in der „roten Zone“, die als besonders gefährdet galt, andererseits hatten wir so lange Strom, Heizung und Internet, solange auch Volodimir Selenskji darüber verfügt. Zweitens hatten wir Teile der Ausrüstung für das Leben sowie der technischen Ausstattung in die Botschaft ausgelagert, um noch arbeiten zu können, sollte unser Büro im neunten Stock ausgebombt werden. Die Hilfsbereitschaft der Botschaft war unsere Rückversicherung, wobei wir nun Teile der Ausrüstung in unser Büro zurückholten, wo wir nach wie vor und bis dato eine ausgezeichnete Internetverbindung haben. Hinzu kommen zwei Satellitentelefone, mehrere Mobiltelefone, ein Stromgenerator sowie eine Star-Link-Einheit, damit wir noch senden können, wenn sonst nichts mehr geht.

Ein Jahr Krieg ist nun vergangen; wir drei waren mehrmals in Frontnähe, drei Mal in der Stadt Bachmut, einmal wurde unser Hotel in der Stadt Nikopol von russischer Artillerie beschossen. Mehr als 110.000 Kilometer haben wir in der Ukraine zurückgelegt, mehr als 40 Stunden Programm für den ORF produziert; viele Artikel habe ich geschrieben, und mein Buch „Mein Journalistenleben – zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria“ wurde zum Bestseller. Enorm war der Zuspruch von Hörern, Sehern und Lesern, denen ich nur von Herzen danken kann.
Doch Leistung und Erfolg, die ohne mein Team und viele Kolleginnen und Kollegen im ORF nicht möglich wären, haben auch - abgesehen von der Tragödie des Krieges – private Schattenseiten. Ein Jahr hat bekanntlich 365 Tag. Im Vorjahr war ich 238 Tage in der Ukraine und 23 Tage am Balkan. Zur Trennung von der Familie kommen ihre Ängste um mich und mein Team. Wegen der beginnenden russischen Offensive musste ich auch heuer im Februar früher in die Ukraine zurück als geplant; beim ersten Zeugnis, das meine Enkelin erhielt, konnte ich ebenso wenig dabei sein, wie beim Geburtstag meiner älteren Tochter, den wir 2022 noch in Kiew feierten. Zum Abschied waren wir damals im Restaurant Gortschitsa (Senf), das einem Elsässer gehört, der ein sehr netter Wirt ist. Aus Nostalgie, aus Freundschaft und wegen der guten Küche, bin ich hin und wieder dort, wenn wir in Kiew sind, und unsere Dreier-WG nicht kochen will. Im Restaurant hängt ein Bild mit einer Inschrift in französischer Sprache: „Liebe ist ein Traum.“
Wer hätte vor einem Jahr gedacht, wo wir heute, ein Jahr später stehen! Der Mensch hat – den griechischen Göttern und ihrer Mythologie sei Dank – nicht mehr die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Daher bleibt nur die Hoffnung: Möge der Wunsch nach Frieden für die Ukraine und Europa kein Traum bleiben!

 

 

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