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Interview mit Krone Bunt zum Krieg

Zeitung
Kronen Zeitung
Berichte Ukraine

 

NEUERLICHE WENDE IM KRIEG? Nach einem halben Jahr scheint Russland nun wieder in der Offensive (Eroberung von Soledar) – ist das der Beginn einer Wende bzw. wie ist es einzuschätzen bei einer 1.000 km langen Front? Kommt Russland in den nächsten Wochen durch personelle Mobilisierung deutlich in die Überzahl? Oder bremst der Winter?

CW: Kriegswende ist auf jeden Fall zu viel gesagt, weil weder Soledar noch das etwa 10 Kilometer südlich davon liegende Bachmut eine kriegsentscheidende Bedeutung haben. Trotzdem sind beide Städte wichtig. Im Falle von Soledar geht es um zwei Punkte: das ausgedehnte System an Stollen der Salzminen; dort lassen sich nicht nur Munition und Waffen lagern, die von ukrainischer Artillerie kaum bekämpft werden können; sondern Stollensysteme können auch genützt werden, um in den Rücken der ukrainischen Verteidiger zu gelangen, je nach dem Grad des Ausbaus, der geografischen Verzweigung und dem Zustand der Stollen. Zweitens erhöht die wohl erfolgte Einnahme von Solodar die Gefahr der Einkesselung der ukrainischen Verteidiger in Bachmut, einer Stadt, die ebenfalls zwei Bedeutungen hat; eine besteht in der psychologischen Bedeutung für die Kampfmoral beider Truppen, wurde doch viele Monate um diese Stadt gerungen, die der ukrainische Präsident Volodiir Selenskij zur Heldenstadt erklärt und in den USA als Beispiel für die Kraft seiner Soldaten präsentiert hat. Die zweite Bedeutung besteht darin, dass die ukrainischen Verteidiger aus den Ruinen dieser Stadt und aus ihren Stellungen heraus und eine Verteidigungslinie weiter westlich beziehen müssen. Wie gut diese Stellungen ausgebaut sind, wie nahe sie an den drei Städten Slovjansk, Kramatorsk und Druschkowka liegen, kann ich nicht beurteilen. Zweifellos rückt aber die Front näher an diese Städte heran. Zweifellos macht die Lage an diesem Frontabschnitt die Gesamtlage der Ukraine militärisch nicht einfacher.

 

WAFFENLIEFERUNGEN. Machen die Waffen aus Europa einen entscheidenden Unterschied für die Ukraine? Wie sind sie in Relation zu den Lieferungen aus den USA und UK zu sehen? Wo führen die immer neuen Lieferungen hin? Bringen sie die Wende für die Ukraine oder verlängern sie das Sterben?

CW: Die Ukraine leidet militärisch seit dem russischen Großangriff darunter, dass die USA und die Staaten der EU zu wenig (schwere) Waffen liefern, und auch diese nur schrittweise. Der ukrainische Generalstabschef Valerij Saluschnij hat in einem Interview davon gesprochen, dass seine Streitkräfte unter anderem 300 Kampfpanzer brauchen, um eine neuerliche Offensive starten zu können. Die Rede ist derzeit von etwa 50, wobei die zuständige deutsche Firma mitgeteilt hat, dass sie zu Modernisierung und Instandsetzung der Leopard II etwa ein Jahr braucht. Sollte das stimmen, spricht das weder für Deutschland, für die Verteidigungsfähigkeit Europas oder gar für eine massive Unterstützung der Ukraine. Dies zeigen auch Einschränkungen der Reichweite amerikanischer Artillerie, die in die Ukraine geliefert wurde. Hinzu kommt die notorische Schwäche bei Luftabwehr. Bisher hat der Westen nach dem Prinzip geliefert: „Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.“ Sollte der Westen nicht bereit und industriell auch in der Lage sein, viel mehr schwere Waffen viel schneller zu liefern kann das für die Ukraine kritisch werden. Zwar wachsen auch die „Russischen Bäume“ nicht in den Himmel, doch das Potential an Waffen und Menschen ist weit größer, wie das jüngst auch ein gutinformierter Oberst aus Estland klar vorgerechnet hat. Die Bewahrung der ukrainischen Staatlichkeit liegt klar im Interesse der EU, daher gibt es zu Waffenlieferungen an sich derzeit keine Alternative.

 

REALISTISCHE KRIEGSZIELE? Sind Selenskis Ziele realistisch, Russland aus der ganzen Ukraine zu vertreiben und sowohl Krim als auch Grenzen vor 2014 wiederzuerlangen? Wie wird das enden?

CW: Ich weiß nicht, wie das enden wird. Nach möglichen Offensiven im Frühling werden wir mehr wissen. Ich weiß nicht, ob Selenskis verkündete Kriegsziele auch seine tatsächlichen sind; sollte dem so sein, sind sie nach derzeitigem Stand wohl unrealistisch. Doch auch Vladimir Putin hält offiziell an Maximalzielen offen, die für Kiew unannehmbar sind. Offiziell ist die Diplomatie abgemeldet und es sprechen nur die Waffen und Stimmen, die weiter Öl ins Feuer gießen. Das ist sehr betrüblich, denn wie heißt es so klar: „Wenn die Vernunft schläft, werden Ungeheuer geboren.“

 

MÜSSTEN NICHT LÄNGST VERHANDLUNGEN BEGINNEN? Wieso tut sich nach einem Jahr noch immer nichts Erkennbares? Darf oder muss man mit Putin verhandeln? Wer wird hier aktiv? Erdogan? Wieso setzt man eigentlich keine im Umgang mit Putin erfahrenen ehemaligen EU-Spitzenpolitiker ein, um Gesprächskanäle zu öffnen (wie z.B. Angela Merkel, Jean-Claude-Juncker, Gerhard Schröder).

CW: Vermittler müssen von beiden Parteien akzeptiert sein und auch politisches Gewicht auf die Waage bringen. Damit scheiden all die genannten Ex-Politik aus, und es bleibt nur die Türkei. Doch erstens sehe ich derzeit keine Bereitschaft der Kriegsparteien zu Verhandlungen, und zweitens hat dieser Krieg in der Ukraine eine geopolitische Dimension. Ohne eine Einigung zwischen Washington und Moskau sehe ich deriet keine Chance für Frieden in der Ukraine.

 

STURZ VON PUTIN. Viele hoffen auf einen Sturz von Putin für einen Neustart. Wäre das die Lösung? Namhafte Experten warnen vor einem darauffolgenden möglichen Zerfall Russlands, Radikalisierung (Islamismus im Osten) und einer danach sogar steigenden Bedrohung für Europa (Stichwort Atomwaffen).

CW: Während des Kalten Krieges gab es die „Kremologen“, die Kreml-Astrologen, die meistens in ihren Prognosen und Einschätzungen falsch lagen. Auch ich bin viel zu weit weg, um die Lage in Russland wirklich einschätzen zu können, doch ich halte mich an folgende Weisheit: „Freue Dich nie, wenn Du hörst, dass Dein Chef gehen muss, ehe Du nicht weißt, wer sein Nachfolger wird. Ein Zerfall Russlands kann nicht im Interesse Europas liegen, oder wollen wir einen unabhängigen Staat Tschetschenien oder Gouverneure von Provinzen, mit denen wir dann über den Verzicht auf Atomwaffen verhandeln müssen? Vor 30 Jahren hatten wir das bereits beim Zerfall der Sowjetunion nur in größerem Maßstab.

 

UKRAINE IN DER EU. Selenski äußerte, in zwei Jahren EU-Mitglied sein zu wollen. Ist das zu erwarten (von der Leyen!), und was würde das für Europa bedeuten (Sicherheit, Wiederaufbau … Rivalität zu anderen Beitrittskandidaten am Balkan)?

CW: die Äußerung spricht nicht für die politische Weitsicht des ukrainischen Präsidenten. Abgesehen davon, dass praktisch alle Voraussetzungen dafür fehlen, dauert allein der Ratifizierungsprozess in den EU-Staaten zwei Jahre. Am Balkan würde das kein Land verstehen, das seit Jahren von der EU hingehalten wird. Ich sehe nicht, dass österreichische, deutsche oder gar französische Bauern EU-Mittel mit der riesigen ukrainischen Landwirtschaft teilen werden wollen. Der Wiederaufbau, wann immer er beginnen kann, wird viele Milliarden kosten. Ukraine und EU sollten sich darauf konzentrieren, wie die drohende Korruption bei der Verwendung dieser Mittel auf ein Minimum beschränkt werden kann, statt Utopien das Wort zu reden.

 

ÖSTERREICHS ROLLE? Wie soll sich Österreich verhalten? Im EU-Windschatten fahren, explizite Neutralitätspolitik oder sogar Vermittlungsinitiativen setzen?

CW: Ich sehe keine gelebte Neutralität Österreichs in diesem Krieg, aber zur Innenpolitik nehme ich nicht Stellung. Als Vermittler sind wir zu klein und zu unbedeutend.

 

WIE UND WANN KÖNNTE DER KRIEG ENDEN?

CW: Es gibt zwei Extreme: die totale Besetzung der Ukraine durch Russland, und den totalen Zerfall Russlands. Beide Szenarien sind weder wahrscheinlich noch wünschenswert. Daher bleiben in letzter Konsequenz wohl nur Verhandlungen, die derzeit nicht in Sicht sind. Das „Wann“ muss somit offenbleiben.

 

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