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Die Caritas und ihre Hilfe im Krieg in der Ukraine

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Etwa sechs Wochen sind seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine vergangen; nach Angaben der UNO haben mehr als 4,2 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer bereits ihr Land verlassen. Ebenfalls sehr hoch dürfte die Zahl der Binnenflüchtlinge sein, die die Kriegsgebiete verlassen haben, aber im Land geblieben sind. Eine Anlaufstelle für diese Menschen ist die ukrainische Caritas, die auch von der österreichischen Caritas seit Jahren massiv unterstützt wird. Die Arbeit dieser ukrainischen Hilfsorganisation hat unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz in der Ostukraine verfolgt; hier sein Bericht:

Vor der Caritas in Poltawa herrscht jeden Tag in der Früh großer Andrang; eine lange Schlange von Flüchtlingen warten auf Einlass, um sich zu registrieren, aber auch um Hilfegüter zu bekommen; sie sind im Gang neben und hinter dem Tisch gestapelt, an dem zwei Mitarbeiterinnen die Daten der Flüchtlinge aufnehmen. Auf der rechten Seite des Korridors gibt es drei Zimmer; zwei sind ebenfalls voll mit Hilfsgütern, von Windeln über alle möglichen Hygieneartikel; auf der linken Seite stapeln sich Kartons mit warmer Kleidung, denn auch im Frühling kann es noch sehr kalt in der Ostukraine sein. Den letzten Raum rechts hinten bevölkern zehn Kinder im Alter von drei bis neun Jahren, einige Mütter und Omas sowie eine Pädagogin, die regelmäßig Kinder aus Kriegsgebieten betreut. Dazu zählen die neunjährige Nicole und ihre dreijährige Schwester Eleonora, die von Oma Olga und Mutter Alisa begleitet werden; die 33-jährige Mutter wurde in Russland geboren, lebte aber ihr ganzes bisheriges Leben in Charkiw, das von russischer Artillerie nach wie vor beschossen wird; dazu sagt Alisa:

2'42'3 - Überleben in Charkiw und Lage - 3'17'5 (35)

"Seit dem 24. Februar waren wir immer im Luftschutzkeller und haben dort geschlafen. Wenn es am Tag ruhig war, sind wir nach Hause gegangen, haben gegessen, uns gewaschen und sind wieder in den Keller. Zu Hause war es sehr schlimm; wenn wir mit Artillerie beschossen wurden, wackelten die Wände, und wir suchten Schutz in den Gängen, und haben dort sogar manches Mal geschlafen, wenn wir zu Hause waren. Eines schönen Tages sind wir aufgewacht, entschieden, dass wir hier nicht mehr bleiben können, und fuhren weg."

Alisas Mann blieb in Charkiw und unterstützt dort freiwillige Helfer bei der Verteilung von Nahrungsmitteln und Medikamenten. Nach Poltawa gekommen sind aber noch Freunde und Verwandte; insgesamt 11 Personen leben nun in einer gemieteten Drei-Zimmer-Wohnung. Alisa ist eine zierliche Frau, macht aber einen viel gefassteren Eindruck als Olga, die Oma der beiden Mädchen; ihr kommen bereits bei der ersten Antwort die Tränen, als sie von Charkiw spricht:

Olga Oma 4'49'1 - Schluchzen und Schilderung - 5'07'5 (25)

"Ja, wir leben alle; gut, dass wir zeitgerecht abgefahren sind. ... Wir kommen aus dem Bezirk Severni-Saltow; dort wird nach wie vor geschossen, gibt es Beschuss. Jeden Tag rufe ich jemanden an, der dortgeblieben ist; unsere Garage ist ausgebrannt, zweimal wurde sie getroffen."

Das Haus steht aber noch und ist unversehrt. Und wie verarbeiten die zwei Enkelkinder im Alter von neun und drei Jahren die Erfahrungen des Krieges; Oma Olga antwortet so:

6'24'3 - Reaktion der Enkelinnen - 6'50'4 (20)

"Die Ältere, Nicole, wird hysterisch, wenn sie eine Sirene hört; die Jüngere, Eleonora, ist ruhig; sie versteht, was Krieg ist, will aber nur nach Hause in unseren Garten, wenn der Krieg zu Ende ist. Sie fragt nur, „Wann kann ich nach Hause, ich will in meinen Garten, ich will nach Hause.“

Die Flüchtlingskinder betreut die Pädagogin Tatjana, die seit mehreren Jahren für die ukrainische Caritas arbeitet. Bei unserem Besuch zeichneten die Kinder gerade Bilder; das ist Teil der sogenannten Art-Therapie; aus den Zeichnungen können dann Psychologen auf den Gemütszustand schließen. Wodurch unterscheiden sich Kinder aus Kriegsgebieten von Kindern, die in friedlicher Umgebung leben, frage ich die 38-jährige Tatjana:

4'35'8 - Kinder verschlossener - 5'51'6 (44)

"Kinder sind verschlossener und schweigsamer, die aus Gebieten kommen, in denen schwere Kämpfe tobten, in denen sie ständig Explosionen und Beschuss hörten und im Luftschutzkeller sitzen mußten. Wenn sie reden, reden sie auch mehr über den Krieg als unsere Kinder in Poltawa, die zwar auch die Sirenen hören, doch bisher ohne Beschuss. Dagegen brauchen diese Kinder aus den Kriegsgebieten wohl mehr Zeit, um sich zu erholen, obwohl sich die Psyche eines Kindes ziemlich schnell erneuert. Trotzdem ist das ein großer Stress; von Kindern ganz zu schweigen, die verwundet worden sind; mit ihnen müssen wirkliche Experten arbeiten."

Als der russische Angriff immer näher rückte, begann die ukrainische Caritas in Poltawa bereits vorbeugend mit Kindern zu arbeiten. Als Vorbild dienten dabei Programme israelischer Psychologen, die eine langjährige Praxis darin haben, wie man Kinder auf die Erfahrung eines Krieges vorbereiten kann. Dieses Training beschreibt Tatjana so:

7'34'9 - Spielerische Formen und Gewöhnung - 8'51'0 (55)

"Wir erklären den Kindern auf spielerische Art und Weise, wie man einen Schutzraum sucht, wie man auf die Sirene reagiert, damit beides nicht die Psyche der Kinder belastet. Dazu zählt, dass man spielerisch die Lage in der Wohnung bewertet - wo ist es sicher, wo nicht. Zunächst hatten wir Angst, das mit den Kindern zu üben, doch als der Krieg begann, verstanden wir, dass es richtig war. Mit kleinen Schritten haben wir die Kinder darauf vorbereitet. Jetzt sprechen die Kinder darüber ruhig; und zwar auch über den Krieg. An dieses Wort hat man sich leider ebenso gewöhnt wie an die Sirene. Heute Früh fragte ich einen Buben, ob er die Sirene gehört und wie er reagiert habe. Er antworte: „Ganz normal; das ist eine Warnung wie das rote Licht bei einer Ampel.“ Somit gewöhnen sich auch die Kinder an diese schrecklichen Dinge."

Besonders wichtig sei, dass die Eltern ihre Unruhe und Sorgen vor den Kindern so gut wie möglich abschirmen und versuchen, eine Art von Normalität zu bewahren. Verfallen die Eltern in Panik, färbt das auf die Kinder ab, betont Tatjana.

Geleitet wird die Caritas in Poltawa von Vater Vladimir Rakovetskij, einem Priester der mit Rom unierten Griechisch-Katholischen Kirche. Rakovetskij stammt aus der Westukraine, lebt aber bereits mehr als 15 Jahre in der 300.000 Einwohner zählenden Stadt. Die Caritas habe sich stets um Kinder bemüht, nicht nur um arme, sondern auch um die Integration behinderter Kinder. Ziel war es auch, Kinder durch eigene Tätigkeiten zur Hilfe für andere zu motivieren. Als Beispiel nennt Vater Rakovetskij das Projekt „Soziales Kochen“; bekannt Köche der Stadt haben dabei mit Kindern gekocht, und das Essen dann an arme Kinder zugestellt. Nun konzentriert sich die Caritas aber ganz auf die Flüchtlingshilfe; zehntausend Personen, 7000 Erwachsene und 3000 Kinder, hat man bereits als Flüchtlinge registriert, erläutert Vladimir Rakovetskij.

9'47'7 - Krieg als Gleichmacher und Unsicherheit - 11'14'9 (48)

"In diesem Moment wurden alle Menschen gleich, Arme und Reiche, Gesunde und Kranke; sie alle stehen vor derselben Situation. Menschen, die gestern noch sicher gelebt haben, die stolz auf ihre Familie, auf ihr Einkommen waren, haben heute alles verloren; auch für sie ist das eine großes Trauma, nun Flüchtling zu sein. Doch das Wichtigste ist, dass sie ihre Kinder und Familien schützen konnten und leben. Die große Mehrheit derer, die mit dem eigenen Auto kommt, bringen ihre Angehörigen in Sicherheit; nach der Statistik versucht etwa die Hälfte der Männer, zurückzukehren, um das Eigentum vor Plünderern zu schützen und nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Doch es gibt auch Männer, die hierbleiben."

Und was wird am dringendsten gebraucht? Vladimir Rakovetskij:

15'12'6 - Was wird gebraucht - 16'29'0 (36)

"Wir wollen hier in einem Raum eine große Waschmaschine mit Trockner aufstellen, damit die Flüchtlinge kommen und ihre Wäsche waschen können. Nicht alle haben in ihren Unterkünften heißes Wasser oder Waschmaschinen. Das wird eine unserer Prioritäten sein. Bei Medikamenten gibt es sehr große Probleme mit Erkrankungen der Schilddrüse sowie mit Diabetes. Bei diesen Medikamenten bestehen in Poltawa die größten Engpässe; über Lieferungen würden wir uns sehr freuen, weil wir sehr viele Anfragen haben."

Beschaffen will die Caritas auch einen Klein-LkW für Hilfsgüter, sowie einen Kleintransporter, um Kinder zur Schule oder zum Arzt zu bringen, die nun als Flüchtlinge in Poltawa leben. Benötigt werde wohl auch sommerliche Kleidung, denn mit einem raschen Ende der Flüchtlingsströme rechnet die ukrainische Caritas nicht.

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