Angesagte Palastrevolutionen finden nicht statt
„Angesagte Palastrevolutionen finden nicht statt“ – lautet eine alte politische Weisheit; und so standen entgegen aller Ankündigungen amerikanischer und britischer Geheimdienste und Medien gestern keine russischen Panzer vor den Toren Kiews. Mit Spott und Häme bedachte jedenfalls die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, auf Twitter viele westliche Medien, von denen eine Zeitung sogar auf der Basis angeblicher Geheimdienstberichte die genaue Uhrzeit des russischen Angriffs getitelt hatte: „Eine Bitte an die westlichen Desinformations-Mittel Bloomberg, The New York Times, The SUN usw. – veröffentlicht den Zeitplan unseres Angriffs für das nächste Jahr, wir möchten unseren Urlaub planen.“
„Gut gebrüllt Löwe“, möchte man sagen, doch insgesamt stellt sich das Lagebild derzeit noch weit weniger klar dar. Während Russland und Weißrussland Videos veröffentlichen, die den Abzug der Truppen belegen sollen, und Minsk behautet, alle russischen Soldaten würde das Land nach dem Abschluss des Manövers verlassen, sind westliche Politiker weit zurückhaltender. So haben weder US-Präsident Joe Biden noch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Entwarnung gegeben und einen umfassenden Truppenabzug bestätigt; andererseits wertete Stoltenberg die Dialogbereitschaft Russlands als positiv; dasselbe tat auch Moskau; so begrüßte der Äußerungen von US-Präsident Joe Biden über eine mögliche diplomatische Beilegung der Krise. "Es ist positiv, dass auch der US-Präsident seine Bereitschaft zur Aufnahme ernsthafter Verhandlungen bekundet hat", sagte Putins Pressesprecher Dmitri Peskow. Solche Verhandlungen würden aber "sehr komplex sein und Flexibilität auf beiden Seiten erfordern". Zudem sei Moskau die "Drohungen" des Westens leid, fügte Peskow hinzu. Biden hatte am Dienstag gesagt, er und Russlands Staatschef Wladimir Putin seien sich einig, dass der diplomatische Weg weiter beschritten werden solle. "Wir sollten der Diplomatie jede Chance auf Erfolg geben. Ich glaube, dass es echte Wege gibt, unsere jeweiligen Sicherheitsbedenken anzugehen." Dabei könne es um Rüstungskontrolle, Transparenz und strategische Stabilität gehen.
Beide Aussagen sprechen für langwierige Verhandlungen zwischen Washington und Moskau, die jedenfalls einen großen Krieg auf ukrainischem Territorium schon aus politischen Gründen unwahrscheinlich werden lassen, von der seriösen Bewertung des militärischen Potentials ganz abgesehen. In diesem Zusammenhang wurde in Kiew gestern ein neuer Feiertag, der „Tag der nationalen Einheit“ begangen; er war die Antwort von Präsident Volodimir Selenskij auf die Aussagen westlicher Politiker und Geheimdienste, wonach der 16. Februar ein möglicher Tag für den russischen Angriff sei. Die Gebäude waren beflaggt und viele TV-Sender strahlten Marathonprogramme mit patriotischem Inhalt aus. Selenskij selbst nahm in der Früh am Aufziehen einer ukrainischen Flagge teil.
Geht der russische Truppenabzug tatsächlich weiter, so hat die Ukraine die jüngste internationale Krise zwar überstanden; trotzdem gibt es abgesehen von den wirtschaftlichen Folgen noch weitere klare negative Konsequenzen, nämlich die klare Erkenntnis, dass es eine Perspektive für einen NATO oder EU-Beitritt nicht gibt. Daran haben weder Waffenlieferungen noch alle westlichen Beschwörungen der Solidarität mit der Ukraine etwas geändert. Die Gewinner des Konflikt stehen aber für den ukrainischen Politologen Vasil Filiptschuk auch schon fest: „Der erste Sieger ist Russland, weil es neue Beziehungen mit den USA erreicht hat. Jeder nimmt nun russische Sicherheitsbedenken ernst, alle sind nach Moskau zu Putin gelaufen. Doch der größte Sieger sind die USA und Joe Biden; hätte Russland angegriffen, hätte man gesagt, wie haben davor gewarnt; erfolgt kein Angriff, so können die USA sagen, das war wegen unserer effizienten Diplomatie. Dadurch wird Afghanistan vergessen. "
Weiter ungelöst bleibt das Problem Ostukraine; auch Kiew ist nicht bereit den Friedensplan von Minsk umzusetzen, neue Ideen für eine Friedenslösung sind nicht in Sicht und die Integration der Separatistengebiete in Russland schreitet zügig voran.