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Stimmung in Kiew und die politische Lage

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

Winterlich und friedlich präsentiert sich derzeit die ukrainische Hauptstadt; von politischen Spannungen oder von Kriegsgefahr ist auf den ersten Blick nichts zu bemerken. Doch Unsicherheit und Ungewissheit beeinflussen die Stimmungen, die zwischen Angst, Unglauben und Widerstandswillen schwankt. Diesen Willen zeigen etwa Meinungsumfragen. Demnach ist die Hälfte der Befragten bereit, einem russischen Angriff Widerstand entgegensetzen; doch jeder Dritte ist bereit, auch mit der Waffe in der Hand zu kämpfen. 2015 war nur jeder Vierte dazu bereit. Andererseits zeigen Gespräche bei einem Marktbesuch in Kiew, wie groß Angst und Unglauben vieler einfacher Menschen sind. So sagt etwa eine Verkäuferin: "Wir alle haben Angst. Ich habe zwei Brüder, die in Russland leben; der Mann meiner Schwester lebt in Moskau; wie sollen wir da Krieg führen? Wir haben Kinder und Enkel, natürlich fürchten wir uns, und zwar sehr."

Die Frau ist kein Einzelfall; mehr als 50 Autobusse fahren durchschnittlich täglich allein von Kiew nach Moskau. Wegen des Flugembargos bleiben nur Bus und Bahn. Das lange Zusammenleben der beiden Völker hat sich auch in Verwandtschaftsverhältnissen niedergeschlagen; sie haben vielfach unter den politischen Spannungen, der Annexion der Halbinsel Krim und dem Krieg in der Ostukraine gelitten, bestehen aber fort. Manche Familien vermeiden einfach politische Themen, um die Eintracht nicht zu gefährden. In Kiew sind Demonstrationen gegen den russischen Präsidenten Vladimir Putin selten und auch nicht besonders gut besucht; das darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr Putins Politik die Ukrainer erbittert und getroffen hat. Auch dazu findet sich auf dem Markt ein Beispiel, in Nikolaj, der gerade Gemüse einkauft und uns sagt: „Niemand will Krieg. Aber wahrscheinlich ist der Punkt ohne Wiederkehr bereits überschritten, Russland ist ein Angreifer und unser Feind; Mit dem Feind müssen wir auf eine feindselige Art sprechen.“

Diese Einschätzung ist aus derzeitiger Sicht allerdings zu pessimistisch, weil es weiter Chancen gibt, einen großen Krieg zu vermeiden. Denn noch ist die Diplomatie am Wort. Das zeigen die Reaktionen Russlands auf die Beantwortung seiner Forderungen nach Sicherheitsgarantien durch USA und NATO. So betonte Moskau gestern, der wichtigste Punkt sei zwar nicht adressiert, ein weiterer Dialog sei aber möglich. Der Sprecher des Präsidialamts in Moskau, Dmitri Peskow, sagte, es werde einige Zeit brauchen, bis die Regierung das Schreiben analysiert habe. Die Aussage, dass Russlands wichtigste Anliegen nicht akzeptabel seien, lieferten allerdings wenig Grund für Optimismus. Peskow bezog sich dabei offenbar auf die Forderung, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werden darf, wobei die Mitgliedschaft des Landes ohnehin nicht wirklich zur Debatte steht, weil dazu die meisten Länder des Militärbündnisses gar nicht bereit sind. Das zeigt, dass hinter all diesen Forderungen auch andere Motive stecken als nur die reine Sicherheit. Ergänzend sagte Peskow jedenfalls: "Wir können nicht sagen, dass unsere Gedanken berücksichtigt wurden, aber wir werden in unserer Einschätzung nichts überstürzen." Außenminister Sergej Lawrow sagte, bei zweitrangigen Fragen gebe es mit dem Antwortschreiben des Westens Hoffnung, einen ernsthaften Dialog aufzunehmen. Positiv gewertet wurde auch das Treffen von Vertretern Russlands, der Ukraine, Deutschlands und Frankreichs im sogenannten Normandie-Format am Mittwoch. Das Quartett hatte sich nach achtstündigen Verhandlungen in Paris darauf verständigt, das Gespräch in zwei Wochen in Berlin fortzusetzen. "Wer redet, der schießt nicht", sagte Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock im Bundestag. Noch nicht Stellung genommen hat bisher Wladimir Putin, der letzte, politisch noch aktive Unterzeichner des Friedensplans von Minsk, um den es natürlich auch bei den Verhandlungen im sogenannten Normandie-Format geht.

In der Ukraine rechnet seriöse Militärexperten jedenfalls nicht mit einem russischen Angriff vor dem Ende der Olympischen Spiele in Peking, die fast zeitgleich mit den Militärmanövern in Weißrussland enden. Selbst dann ist es aus derzeitiger Sicht fraglich, ob Moskau zu einem Angriff im großen Maßstab willen ist, zu dem bisher auch der logistische Aufmarsch fehlt. Doch selbst wenn es nicht zum großen Krieg kommt, sind verdeckte Angriffe auf die kritische Infrastruktur nach ukrainischer Ansicht nicht auszuschließen, und eine Friedenslösung für die Ostukraine und eine Aussöhnung zwischen den beiden Völkern ist noch lange nicht in Sicht.

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