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„Der Jagdausflug, der die Sowjetunion erlegte“

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„Der Jagdausflug, der die Sowjetunion erlegte“

Vor 30 Jahren zerfiel die Sowjetunion, der flächenmäßig größte Staat der Welt. Für dieses welthistorische Ereignis gab es viele Gründe, die auch mit der kommunistischen Planwirtschaft zu tun haben, die einem modernen Wettbewerb einfach nicht mehr standhalten konnte. Hinzu kamen der erfolglose Versuch von Michail Gorbatschow, das System reformieren zu wollen, der gescheiterte August-Putsch gegen ihn sowie schließlich der Nationalismus der sowjetischen Teilrepubliken. So stimmten in der Ukraine beim Referendum am 1. Dezember 1991 mehr als 90 Prozent für die Unabhängigkeit und wählten Leonid Krawtschuk zu ersten Präsidenten des neuen Staates. Eine Woche später, am 8. Dezember 1991, trafen einander die politische Führung aus Weißrussland, der Ukraine und Russlands in der Beloweschskaja Heide, einem Jagdhaus bei der Stadt Brest, und besiegelten das Ende der Sowjetunion. Wie dieses Treffen abgelaufen ist, wie die Vereinbarung zustande kam und war, darüber hat unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz mit vielen Zeitzeugen gesprochen. Für das kommende Europajournal hat er einen Beitrag über dieses historische Treffen, diesen Jagdausflug gestaltet, die schließlich die Sowjetunion erlegt hat.

Beim Zerfall der Sowjetunion spielte die Ukraine eine wichtige Rolle, weil nicht zuletzt an ihrem Widerstand eine Erneuerung der Sowjetunion scheiterte. Diesem Umstand trug auch der Bericht in der Zeit im Bild vom achten Dezember 1991 über das Treffen in der Beloweschskaja Heide Rechnung, der mit den Worten begann:

ZiB1:

„An diesem Mann scheiterte letztlich der von Gorbatschow geplante Unionsvertrag; der Ukrainer Leonid Krawtschuk war am vergangenen Sonntag zum Präsidenten gewählt worden; gleichzeitig hatte die Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit für einen souveränen Staat Ukraine gestimmt. Bei der Ankunft in Minsk gab er sich noch gesprächig; er wie auch die Präsidenten Jelzin und Schuschkjewitsch nannten den Dreier-Gipfel historisch. Aber Kameras und Journalisten waren bei der möglichen Geburtsstunde für eine Neuordnung der heutigen Sowjetunion ausgesperrt.“

Zu diesem Gipfel reisten die Delegationen aus Weißrussland und Russland am Nachmittag des 7. Dezember gemeinsam mit dem Flugzeug aus Minsk an, weil Präsident Boris Jelzin zuvor in Minsk im Parlament eine Rede gehalten hatte. Russland war neben Jelzin unter anderem durch Igor Gajdar und Außenminister Andrej Kosirew vertreten; die drei zentralen Personen auf weißrussischer Seite waren Stanisalw Schuskewitsch Regierungschef Wjatscheslaw Kebitsch und Außenminister Petr Krawtschenko. Dass dieses als Jagdausflug bezeichnete Treffen die Sowjetunion erlegen sollte, war jedenfalls vor dem Beginn der Gespräche so manchem Teilnehmer nicht klar, erinnert sich Petr Krawtschenko, der im Flugzeug neben Andrej Kosirew saß:

Krawtschenko1

19'02 - Im Flugzeug Gespräch mit Andrej Kosirew – 20‘32‘6

"Wir unterhielten uns über die Familien und das Leben, doch dann sagte Kosirew zu mir, wir müssen eine politische Vereinbarung vorbereiten. Ich lachte und sagte: "Andrej wir fahren auf die Jagd, was für ein Dokument? Du hast ja auch keine Rechtsexperten mit." Doch Kosirew antwortete: " Die Chefs unserer Staaten müssen die aktuelle Lage beurteilen, und dann müssen wir verstehen, um welches Dokument es sich handelt." Mir wurde klar, dass irgendeine Idee in der Luft lag, doch worum es konkret ging, hatte mir niemand erklärt, und auch Kosirew dürfte nichts Genaues gewusst haben."

Faktum ist, dass keine Jagd stattfand, wobei die ukrainische Delegation wenig später in dem Jagdhaus eintraf. Vertreten war Kiew durch Präsident Leonid Krawtschuk, Regierungschef Witold Fokin und zwei Abgeordnete, die im weiteren Verlauf keine Rolle spielten. Beim Abendessen kam es dann zu den üblichen Trinksprüchen, die aber politischen Charakter trugen; Petr Krawtschenko erinnert sich:

Krawtschenko1:

27'10'1 - Toasts Jelzin und Krawtschuk - 28'33

"Boris Jelzin sagte: "Wir sind in dieser tragischen Zeit zusammengekommen; das Land ist im Chaos und am Rande des Zusammenbruchs. Etwas muss getan werden. Wir müssen über einen Staatsaufbau nachdenken, der allen passt." Buchstäblich sofort nach Jelzins Toast stand Krawtschuk auf und sagte: "Lieber Boris Nikolaewitsch! Sie ziehen uns wieder in eine imperiale Höhle. 300 Jahre haben wir uns darin gequält, und wir brauchen nichts. Ich bin Präsident eines unabhängigen Staates; daher: wir werden darüber nachdenken, was wir mit der Wirtschaft tun, aber ich werde nichts unterschreiben."  

Während die weißrussische Seite schwieg entwickelte sich der Abend zu einer Art Rededuell zwischen Jelzin und Kratwschuk; dieser schlug schließlich gegen 21 Uhr vor, die Delegationen sollten ein Papier ausarbeiten, das dann am nächsten Tag mit klarem Kopf erörtert werden könne. So geschah es denn auch, allerdings ohne Teilnahme eines Vertreters der Ukraine. Zunächst einigten sich die Delegationen Russlands und Weißrusslands auf den Titel, der schließlich nach dem Vorbild des britischen Commonwealth „Gemeinschaft Demokratischer Staaten“ lautete. Die entscheidende Rolle bei der Formulierung des Textes spielten der russische Wirtschaftsminister Igor Gaidar und der weißrussische Außenminister Petr Krawtschenko; er entwarf in den frühen Morgenstunden des achten Dezember auch die Präambel des Dokuments, die in die Geschichte eingehen sollte:

Krawtschenko2:

12'08'8 - Präambel - 13'27

"Die Geschichte hat sich so entfaltet, dass unsere gemeinsame Heimat, die Sowjetunion als Subjekt des internationalen Rechts und als geopolitische Realität ihre Existenz beendet hat. Daraufhin schweigen alle, doch nach wenigen Augenblicken sagte Igor Gaidar: "Meine Herrn Genossen, ich glaube dass Petr es auf den Punkt gebracht hat. Wir sollten diesen Satz noch etwas überarbeiten, doch mir scheint, dass hier das Wesentliche erfasst wurde" Ich habe deshalb auf die Geschichte verwiesen, weil ich betonen wollte, dass wir keine Verschwörer sind, sondern dass wir nur das feststellen, was sich schon ereignet hat. Denn die Sowjetunion gab es nicht mehr."

Beim Rest des 14 Punkte umfassenden Dokuments spielte dann Igor Gaidar die Hauptrolle. Er zog aus seiner Aktentasche den im Dezember 1990 von Russland und der Ukraine geschlossenen Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit hervor, der als Vorbild für die Vereinbarung dienen sollte. Gegen sechs Uhr in der Früh war das Dokument fertig, doch es lag nur in handschriftlicher Form vor. Daher musste Krawtschenko noch den Verwalter des Jagdhauses aus dem Bett holen, der mit seiner Sekretärin kam, die das Dokument auf ihrer Schreibmaschine abtippte. Beim Frühstück verlangte die ukrainische Delegation nur kosmetische Änderungen; so wurde der Titel in „Gemeinschaft Unabhängiger „Staaten“ geändert. Die Unterzeichnung erfolgte dann um 14 Uhr vor laufenden Kameras.

Doch was waren die zentralen Ereignisse, die zum Zerfall der Sowjetunion führten? Darauf Antwortet Petr Krawtschenko so:

Krawtschenko2:

13’28 – Gründe für den Zerfall - 14’27

"Ich kann hier nicht alle Faktoren aufzählen, doch die Sowjetunion zerfiel am 13. Juli 1990 als Boris Jelzin im russischen Parlament das Gesetz durchdrückte, mit dem das gemeinsame sowjetische Bankensystem beseitigt wurde. Das war der erste Todesstoß und im Laufe von etwa mehr als einem Jahr verweste die Sowjetunion einfach und starb. Dazu trugen ergänzend der August-Putsch gegen Gorbatschow, der Austritt der drei baltischen Staaten und die Unabhängigkeitserklärungen der Teilrepubliken bei. Das war der vierte Todesstoß. Die Vereinbarung in der Beloweschskaja Heide war dann nur die juristische Ausfertigung des Zusammenbruchs der Sowjetunion."

Viele Bestimmungen der Vereinbarung blieben toter Buchstabe, doch betont Petr Krawtschenko:

32'33 - Vorteile der SNG Bedeutung des Vertrages - 33'21

"Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gewährleistete eine zivilisierte Scheidung, verhinderte einen unkontrollierten Abfluss der Atomwaffen, die Russland übergeben wurden; und sie verhinderte auch einen militärischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der im Herbst 1991 völlig real gewesen wäre und verhinderte damit, was 2014 geschehen ist. Somit zogen wir zivilisiert aus einer Gemeindewohnung aus und zogen in unsere Einzimmerwohnungen um, die aber selbstständig waren. Darin liegt die einzigartige historische Bedeutung der Vereinbarung als zentralem Ereignis des 20. Jahrhunderts."

Angesichts der derzeit massiven Spannungen zwischen Russland und der Ukraine und eingedenk der Tatsache, dass im Dezember 1991 der blutige Zerfall Jugoslawiens bereits voll im Gange war, kann man rückblickend die Weisheit der Männer wohl nicht hoch genug einschätzen, die vor 30 Jahren das friedliche Ende der Sowjetunion besiegelt haben.

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