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Ein Jahr Autokephalie in der Ukraine

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Berichte Ukraine

Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland geht weit tiefer als um die 2014 von Moskau annektierte Halbinsel oder um das Gebiet der Ostukraine, in dem prorussische Separatisten mit Hilfe Moskaus ebenfalls seit fast sechs Jahren quasistaatliche Gebilde geschaffen haben. Vielmehr geht es bei diesem schon jahrhundertealten Konflikt um die Herausbildung einer selbständigen ukrainischen Nation, die Russland immer wieder versucht hat, zu unterdrücken. Eine Teilmenge dieser Auseinandersetzung bilden auch die Kirchen. In der Ukraine dominiert nach wie vor eindeutig die Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die bei weitem größte Kirche des Landes. Alle anderen orthodoxen Kirchen mit nationalistischerer ukrainischer Orientierung galten bis Ende 2018 als schismatisch und wurden von der Weltorthodoxie nicht anerkannt. Das änderte sich mit dem Orthodoxen Weihnachtsfest am 6. Jänner 2019; denn an diesem Tag verlieh im Phanar in Istanbul der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus, der sogenannten Orthodoxen Kirche der Ukraine die Autokephalie, sprich die kanonische Selbständigkeit. Damit verbunden sind aber massive kirchliche Spannungen in der Ukraine und den orthodoxen Kirchen der ganzen Welt. Mehr als ein Jahr später sind etwa 600 Pfarren vom Moskauer Patriarchat in die neue Orthodoxe Kirche übergetreten, das ist weniger als ein Prozent der aller Pfarren des Moskauer Patriarchats. Verringert haben sich auch die religiösen Spannungen durch den politischen Machtwechsel vor einem Jahr. Denn Präsident Volodimir Selenskij nimmt zu kirchlichen Fragen eine weit gemäßigtere Haltung ein als sein Vorgänger Petro Poroschenko, der ganz auf die nationalistische Karte setzte. Wie es um die religiöse und kirchliche Lage in der Ukraine nun bestellt ist, berichtet nun unser Korrespondent Christian Wehrschütz:

In Istanbul, dem früheren Konstantinopel des oströmischen Reiches, wurde die Autokephalie am 6, Jänner 2019, dem Tag des Orthodoxen Weihnachtsfestes, gewährt. Der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus, feierte mit einer Delegation hochrangiger ukrainischer Kirchenfürsten die Heilige Messe. Ebenfalls anwesend war der damalige Staatspräsident Petro Poroschenko. Bei der Messe betonte Patriarch Bartholomäus die historische Rolle Konstantinopels:

Bartholomäus, Ökumenischer Patriarch: (25)

„Ihr wurdet in Christus geboren, doch die Taufe bekamt ihr im Jahre 988 von Konstantinopel. Wir wünschen, dass der kleine Jesus, der Frieden in die Welt brachte, Frieden auch in die Ukraine bringen wird. Ich werde immer für die Ukraine beten, wie ich das auch bis zum heutigen Tag getan habe.“

Diese Verleihung stieß und stößt auf den massiven Widerstand aus Moskau; auch die große Mehrheit der anderen orthodoxen Kirche hat die Selbständigkeit bisher nicht anerkannt. Die neue Orthodoxe-Kirche der Ukraine unter Metropolit Epifanij ist ein Zusammenschluss aus zwei Ukrainisch-Orthodoxen Kirchen, der im Dezember 2018 bei einem Vereinigungssynod in Kiew erfolgte; dabei wurde Epifanij in einer Kampfabstimmung zum Metropoliten gewählt. Den Titel Patriarch gewährte Konstantinopel nicht, das in kanonischen Fragen weiter eine wichtige Rolle in Kiew spielen kann. Massiv die Selbständigkeit vorangetrieben hatte der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko; er nutze den kirchenpolitischen Konflikt zwischen Moskau und Konstantinopel und hoffte mit seinem Einsatz bei der Präsidentenwahl punkten zu können, deren erste Runde am 31. März des Vorjahres stattfand. Sowohl in Istanbul als auch beim Synod in Kiew war Petro Poroschenko massiv präsent und trat als Redner auf.

Orientierung:

Petro Poroschenko: ( 35)

„Für uns ist nichts unmöglich, wenn wir alle gemeinsam handeln als einige politische ukrainische Nation: das gilt für die Bulle, das Abkommen über die Assoziierung mit der EU, die Visa-Freiheit und die Unabhängigkeit von russischem Gas. So werden wir auch weiter streben nach Dingen, die auf den ersten Blick unerreichbar scheinen – und es wird Ergebnisse geben: der Sieg und der Friede werden kommen und die Ukraine, wird ein erfolgreiches Land, des Glücks und ein Mitglied von EU und NATO sein.“    

Doch Poroschenko verlor die Wahl haushoch gegen den politischen Kabarettisten Volodimir Selenskij, der nun eine ganz andere Kirchenpolitik betreibt. Sie beschreibt Erzbischof Diodor, Vikar der Diözese von Odessa der Ukrainisch-Orthodoxen-Kirche des Moskauer Patriarchats, so:

 

Erzbischof Diodor,

2'46 - Nach der Niederlage von Poroschenko - 4'17 ( 45)

"Nach der Niederlage von Petro Poroschenko im zweiten Wahlgang verlor die religiöse Frage sofort an Bedeutung. Der neue Präsident Volodimir Selenskij und sein Kabinett erklärten sofort, dass die Religion Privatsache der Ukrainer ist, und dass weder der Präsident noch der Staat sich einmischen werden. Selenskij empfing auch alle Religionsgemeinschaften, darunter auch den Vertreter der Ukrainisch-Orthodoxen-Kirche, Metropolit Onufri; dieser sagte, dass wir um keinerlei Bevorzugung oder Sonderbehandlung bitten, sondern nur um eines; dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Davon ausgehend baut Selenskij heute seine Haltung gegenüber der Ukrainisch-Orthodoxen-Kirche."

Der Machtwechsel von Poroschenko zu Selenskij beendete auch den massiven Druck auf das Moskauer Patriarchat und die auch gewaltsame Übernahme von Pfarrgemeinden, betont in Kiew der Sprecher der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, Mikolaj Danilevic:

Protojerej Mikolaj Danilewitsch, (Skype)

Sprecher der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche

18'31 - Kirchenkonflikte und Selenskij - 19'53 (50)

"Durch den Wechsel des Präsidenten wurde es viel leichter; die gewaltsame Übernahme unserer Pfarreien hörte fast auf, nur einige Fälle gab es noch im Vorjahr. Das waren Fälle, die unter Petro Poroschenko begonnen hatten und noch nicht abgeschlossen waren. Doch es gab im Vorjahr nur mehr zwei, drei Fälle pro Monat. Mit der Quarantäne hat das überhaupt aufgehört. Heute sehen wir, dass Präsident Selenskij bestrebt ist, Balance zu halten und nicht die Fehler und die anti-kirchliche Politik von Poroschenko fortzusetzen. Doch in manchen Städten und Gemeinden blieben noch Beamten, die unter Poroschenko eingesetzt wurden, und seine Politik fortsetzen. Wir wenden uns dann an die Gerichte, und die Lage kommt etwas ins Lot."

Ausgesetzt hat der Verfassungsgerichtshof auch Gesetz, dass das Moskau Patriarchat zur Umbennenung in Russich-Orthodoxe-Kirche der Ukraine zwingen sollte, denn die Stellung dieser Kirche ist wegen des Krieges in der Ostukraine heikel. Dem gesellschaftlichen Frieden hat der Politikwechsel in Kiew gut getan; warum Selenskij seine Kirchenpolitik änderte, erläutert der Politologe Konstantin Bondarenko so;

Konstantin Bondarenko (Skype) (29)

5'19 - Warum scheut Selenskij Konflikt mit MP - 5'48

"Präsident Selenskij versteht ausgezeichnet, dass die Ukrainische-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats die Basis jener Gläubigen ist, die in den Regionen leben, die seine Wählerbasis bilden; das sind der Osten und der Süden der Ukraine. Dort ist die überwiegende Mehrheit der Kirchen jene des Moskauer Patriarchats, und Selenskij will keinen Konflikt mit seinen Wählern."

Keine Gewalt will auch Metropolit Epifani Dumenko; der 40-jährige leitet nun seit fast eineinhalb Jahren die selbständige Kirche, die Orthodoxe-Kirche der Ukraine heißt. Sie ist nach wie vor nur etwa halb so groß wie das Moskauer Patriarchat, das etwa 12.000 Pfarreien zählt; nur 600 traten zur neuen Kirche über. Dazu sagte Mitropolit Epifanji bei einer Pressekonferenz zum Jahrestag der Selbständigkeit:

Epifani Dumenko:

11'53 - Gründe warum es keine Übertritte gibt -14'50 ( 35)

„Die Prozesse, die wir unmittelbar nach der Erteilung des Tomos gesehen haben, waren aktiver; jetzt wurden sie bis zu einem gewissen Grad ausgesetzt, und dafür gibt es viele Gründe. Leider blockieren einige regionale Verwaltungen die Änderung der Registrierung. Das Moskauer Patriarchat versucht, diesen Prozess durch Gerichtsverfahren zu blockieren; fast jede Gemeinde, die sich unserer Kirche angeschlossen hat, ist mit einer entsprechenden Klage des Moskauer Patriarchats konfrontiert.“

Bescheiden geblieben ist auch die Zahl der internationalen Anerkennungen; neben Konstantinopel haben nur zwei Orthodoxe Kirchen die Autokephalie anerkannt; diese geringe Zahl begründete Epifanij so:

15'30 - Druck aus Russland gegen Anerkennung - 16'34 (38)

„Wir sehen, dass Russland, und insbesondere die Russisch-Orthodoxe Kirche, alles in ihrer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass Kirchen unsere Autokephalie anerkennen. Wir haben dies am Beispiel der hellenischen Kirche und der Hierarchie dieser Kirche gesehen. Trotz dieses Drucks werden im nächsten Jahr definitiv mehrere Kirchen unseren autokephalen Status anerkennen. Ich werde nicht sagen, welche Kirchen das sind, weil ich nicht die Arbeit unserer Gegner nicht erleichtern werde.“

Diese Erwartung ging bisher nicht in Erfüllung. Probleme hat Epifanij auch mit dem früheren Patriarchen Filaret, der die Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats leitete, die durch die Autokephalie der neuen Kirche ihre Rechtsstellung verlor. Filaret erkennt das nicht an und prozessiert dagegen vor Gerichten. Das schwächt auch die Rolle des Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel, der sich somit nicht als Einiger der Ukraine präsentieren kann. Doch was bedeutet dies alles nun für die religiöse Lage in der Ukraine. Die Prognose des Religionswissenschaftlers Igor Koslowskij lautet so:

Igor Koslowskij (novij intervju)

Drugi deo:

7.00 ( 38)

„Ich denke, dass wir in naher Zukunft die Parität aufrechterhalten werden, weil die derzeitige Gesetzgebung des Staates nicht eingreifen, helfen oder behindern wird. Dies bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen in ihren Positionen bleiben wird. Die Hauptsache für den Staat wird sein, zumindestens keine Feindschaft zu schaffen, wenn es schon keinen interreligiösen Dialog gibt. Das heißt, dass Vertreter verschiedener Organisationen im selben Raum existieren und ihre Arbeit tun können. Diese Parität wird ziemlich lange aufrecht bleiben.“

Der Kirchenkonflikt ist somit nur entschärft aber nicht gelöst; denn offizielle Kontakte oder gar einen Dialog zwischen der Orthodoxen Kirche der Ukraine und dem Moskauer Patriarchat gibt es nicht; und auch die Konflikte in der Weltorthodoxie traten durch das Corona-Virus zwar derzeit in den Hintergrund, bestehen aber weiter.

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