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Der Kampf um den Majdan und seine Deutung

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Berichte Ukraine

Zwei Mal war der Majdan nezalsenosti, der Platz der Unabhängigkeit in Kiew bisher Schauplatz einer Revolution. Im Jahre 2004 demonstrierten und kampierten zehntausende Ukrainer auf diesem Platz, um gegen die Fälschung der Präsidentenwahl zu protestieren, die Viktor Janukowitsch bereits damals hätte an die Macht bringen sollen. Der Versuch scheiterte am Widerstand der Bevölkerung. Im Jahre 2010 bei international anerkannten Wahlen zum Präsidenten gewählt, war Janukowitsch auch Auslöser der zweiten Majdan-Revolution. Denn beim EU-Gipfel am 28. und 29. November in Vilnius weigerte er sich unter russischem Druck das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Diese Abkehr von der EU löste die zweite Majdan-Revolution aus, die von Ende November 2013 bis zum 20.Februar 2014 dauerte. Sie endete in einem Blutbad und mit dem Sturz von Viktor Janukowitsch. Die blutigsten Tage waren der Zeitraum zwischen dem 18. und 20. Februar 2014. Etwa 80 Demonstranten und 13 Polizisten wurden getötet, tausende Demonstranten und hunderte Polizisten wurden verletzt. Doch auch sechs Jahre später sind bisher nur kleine Fische für die Verbrechen am Majdan verurteilt worden; umstritten ist nach wie vor, wer die Schützen und Scharfschützen waren, die vor allem in der Früh des 20. Februar das Feuer eröffneten. Hinzu kommt seit einigen Monaten eine massive Debatte über die Liste der sogenannten „Himmlischen Hundert“, die als Opfer auf dem Majdan geführt werden und auch den Titel „Held der Ukraine“ erhielten. Denn tatsächlich bestehen berechtigte Zweifel, dass nicht alle angeführten Personen auf dieser Liste, um Kampf gegen die Polizei und das System Janukowitsch ihr Leben ließen. Die Bewertung des Majdan ist in der Ukraine nicht einheitlich; für seine Anhänger ist das die „Revolution der Würde“, für die Gegner ein Staatsstreich. Der Kampf um die Deutung des Majdan dauert in der Ukraine somit an; aus Kiew berichtet unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz:

Der Platz der Unabhängigkeit ist das Herzstück von Kiew. Ein Teil des Platzes, ist eine Gedenkstätte für die Demonstranten, die bei den Kämpfen am Majdan getötet wurden. Die Bilder der Toten sind auf Steinplatten eingraviert; etwas oberhalb vom Hotel Ukraina steht eine kleine Kapelle, daneben sind an zwei Wänden die Bilder vieler Opfer zu sehen. Verewigt ist hier auch Vasil Aksenin; Mit seinem Sohn Juri stehe ich vor dem Bild. Das Schicksal des Vaters beschreibt er so:

"Am 20. Februar in der Früh wurde er verwundet. Es gibt ein Video, wie die Männer Molotow-Cocktails werfen und versuchen, den Kordon der Sonderpolizei zu durchbrechen. Die Kugel trat beim Steißbein ein, wo es viele Venen gibt. Unsere Ärzte warnten mich vor dem schlimmsten. Wir haben ihn nach Polen ins Krankenhaus gebracht, doch auch dort, konnte man meinen Vater nicht retten."

Juri glaubt, dass ein Sonderpolizist seinen Vater angeschossen hat; sicher ist er sich aber nicht. Was veranlasste ihn und seinen Vater aus Tschernowitz in der Westukraine nach Kiew zu kommen, und an der Majdan-Bewegung teilzunehmen? Juri Aksenin:

"Die Herrschaft des Rechts war das Leitmotiv, für das mein Vater und die Menschen am Majdan gekämpft haben. Begonnen hat zwar alles mit dem Euro-Majdan der Studenten, die die EU wollten. Nach der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstration durch die Polizei begann die Revolution der Würde. Der große Fehler der Menschen war, daran zu glauben, dass es reicht, Präsident Viktor Janukowitsch los zu werden, und alles wird gut."

Zweifellos zahlten die Demonstranten am Majdan den höchsten Blutzoll; doch auch die Opfer unter der Polizei waren nicht unerheblich. In den drei Tagen Ende Februar wurden 13 Polizisten getötet; fast Tausend sollen verletzten worden sein; mehr als 200 erlitten Schussverletzungen. Als Major der Polizei-Sondereinheit Berkut am Majdan im Einsatz war auch der großgewachsene und kräftige Michail Dobrovolskij; er wurde bekannt, weil er beim befohlenen Sturm auf den Majdan in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar in die Hände der Demonstranten viel; Michail Dobrovolskij erinnert sich:

„Alles brannte, und auf dem Majdan stand das Wasser, weil die Feuerwehr die Brände zu löschen versuchte. Wir bekamen den Befehl, den Majdan zu nehmen. Ich war an der Kreuzung als die Granate explodierte; Feuer, Schüsse, ich fiel und wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, spürte ich weder Hände noch Füße. Meine Kameraden und ich wurden gefangen. Die Menge hasste uns und wollte uns bestrafen; wir hacken Dir Arme und Beine ab, riefen einige."

Gerettet hat damals den Berkut-Offizier ein Bekannter, der eine führende Rolle am Majdan spielte. Am 20. Februar lag der Major im Krankenhaus. Gerichtlich zur Last gelegt wird dem nunmehr 49-jährigen übermäßige Anwendung von Polizei-Gewalt in drei Fällen. Michail Dobrovolskij:

"Ich habe drei Strafverfahren; das erste betrifft das Festhalten von Aktivisten des Majdan; das zweite stammt noch aus dem Jahre 2010 als wir Aktivisten der Partei "Freiheit" verhaftet und festgehalten haben, die als Hooligans handelten. Das dritte Verfahren betrifft Terroristen. die während des Majdan, Bomben gebaut haben. Sie kamen vor Gericht; es kamen viele Sympathisanten und besetzten das Gericht, um zu verhindern, dass der Konvoi mit diesen Personen abfährt. Wir stellten sicher, dass der Konvoi abfahren konnte. Das lief nicht friedlich ab, wir wurden mit Steinen und Schlagstöcken beworfen."

Kein einziges dieser Verfahren ist abgeschlossen; dieses Schicksal teilen vielfach Polizisten und Demonstranten sowie deren Hinterbliebene. Die Sonderkommission zum Majdan untersuchte 4100 Verbrechen, befragte 20.000 Zeugen und bearbeitete Tonnen an Dokumenten und Videos. An das Gericht weitergeleitet wurden Anklagen gegen 298 Personen; doch abgeurteilt wurden nur 56 Personen, betont Sergij Gorbatjuk, der bis zum Jahre 2019 diese Sonderbehörde leitete:

"Von den 56 Personen bekam die Mehrheit bedingte Haftstrafen, nur 12 wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Das sind vor allem Schlägertrupps, die sogenannten Tituschki; die Höchststrafe betrug viereinhalb Jahre; die Mehrheit dieser Verurteilten hat ihre Strafe bereits abgesessen. Nur etwa ein Fünftel der Verurteilten sind Polizisten; das sind sechs Personen.“

Serhij Gorbatjuk schied im Streit mit der Generalstaatsanwaltschaft aus seinem Amt; sein Nachfolger war zu keinem Interview bereit. Auf die Frage, warum die juristische Aufarbeitung der Verbrechen derart langsam verläuft antwortet Gorbatjuk so:

"Ich habe mehrfach betont, dass bei der Führung der Generalstaatsanwaltschaft, des Innenministeriums und des Geheimdienstes eine Kluft besteht zwischen Worten und Taten. Mit Worten betont man, alles zu tun, um die Verbrechen aufzuklären, doch in der Praxis gibt es Personalkürzungen, und man setzt Taten, die nicht zu einem vollständigen Ergebnis führen können."

Für den Tod von etwa 20 Demonstranten am 20. Februar hält Gorbatjuk eine Spezialeinheit der Sondereinheit Berkut für verantwortlich. Anderseits stand bisher kein einziger Demonstrant wegen des Mordes an einem Polizisten vor Gericht. Politische Interventionen verhinderten ein Verfahren. Hinzu kommt das auch von der UNO kritisierte Amnestiegesetz, das Ermittlungen im Falle erschossener Polizisten erschwert. Stichhaltige Hinweise auf Scharfschützen fand die Sonderbehörde in nur zwei Fällen. Dass aber Scharfschützen im Einsatz waren steht außer Zweifel; dazu gibt es nicht nur viele Berichte westlicher Medien, sondern auch Aussagen von Zeugen und Zeitzeugen. Dazu zählt die Ärztin Olga Bogomolez, die am 20. Februar in der Lobby des Hotels Ukraina ein Behelfsspital leitete; Olga Bogomolez erinnert sich:

"Als wir begangen, dieses behelfsmäßige Lazarett in der Lobby einzurichten, wussten wir nicht, woher geschossen wurde. Dann kam ein Mann des Sicherheitsteams und sagte, aus einem der Fenster über uns feuert ein Scharfschütze auf die Institutska-Straße, dort wo die Barrikaden waren. Dort wurden sie erschossen, und zwar sehr professionell."

Das Hotel war damals in den Händen der Revolutionäre. Die Majdan-Revolution ist in der Ukraine umstritten; doch nur knapp 20 Prozent gaben bei einer Umfrage an, sie würden gerne in die Zeit vor dem Jahre 2014 zurück, wenn die möglich wäre. Doch warum scheut die politische Elite der Ukraine eine umfassende Aufklärung der Ereignisse? Diese Frage beantwortet der Politologe Vasil Filiptschuk so:

"Wenn der Majdan ein Verbrechen von Präsident Viktor Janukowitsch gegen die Ukrainer war, dann ist alles was nach dem Majdan kam logisch und richtig. Wenn der Majdan aber ein Ergebnis von Fehlern beider Seiten war, dann sind jene, die an die Macht kamen nicht legitim, dann kann man sie in Frage stellen, und alles kann zu gefährlichen Diskussion führen; daher will niemand darüber sprechen."

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