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Ungewissheit nach dem politischen Erdrutsch

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

Bei der Parlamentswahl hat der Präsident Volodimir Selenskij mit seiner neuen Partei „Diener des Volkes“ den erwarteten Erdrutschsieg eingefahren. Nach übereinstimmenden Nachwahlbefragungen gewann Selenskij etwa 44 Prozent der Stimmen. Mit großem Abstand auf dem zweiten Platz landete eine prorussische Partei, die mit bis zu 13 Prozent rechnen kann. Dahinter folgen mit jeweils mit acht bis neun Prozent die nationalistische Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko und die Vaterlandspartei der früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Ebenfalls den Einzug ins Parlament in Kiew schaffte die Partei „Stimme“ des Rockstars Swjatoslaw Vakartschuk. Noch geringe Chancen auf den Einzug ins Parlament hat die Partei des früheren Geheimdienstchefs Igor Smeschko. Alle anderen Parteien scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde.

So klar die Nachwahlbefragungen auch sind, sie alle gelten nur für die 225 Mandate, die über die Parteilisten vergeben werden. Noch keine Angaben liegen zu den 199 Sitzen vor, die in Einerwahlkreisen gewählt werden. Das Abschneiden der Parteien und der als Unabhängige angetretenen Kandidaten in diesen Wahlkreisen kann noch Einfluss auf die Frage haben, welche Koalition mit welcher klaren Mehrheit gebildet werden kann. Dazu zählt, dass viele unabhängige Abgeordnete immer die Regierung unterstützen, jedenfalls solange diese stark ist, wobei diese Unterstützung natürlich ihren politischen Preis hat. Tatsache bleibt aber, dass nun Präsident Volodimir Selenskij alle Trümpfe in der Hand hält. Bei der Stimmabgabe sprach er sich für einen unabhängigen Wirtschaftsexperten ohne politische Vergangenheit aus. Nach seinem Sieg sagte der 42-jährige ehemalige politische Kabarettist, eine Koalition mit der Partei „Stimme“ des Rockstars Swajtoslaw Vakartschuk sei seine erste Wahl. Der Vorteil dieser Option liegt in neuen unverbrauchten Kräften, die das Machtspiel nicht so beherrschen und möglicherweise teamfähiger sind als die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko mit ihrer Vaterlandspartei. Als Partner nicht in Frage kommen die prorussische Partei und die ukrainischen Nationalisten unter Präsidenten Petro Poroschenko.

Die Auftritte von Selenskij seit seiner Amtseinführung vor drei Monaten erinnern an seine Fernsehserie „Diener des Volkes“, in der er einen einfachen Geschichtelehrer spielt, der von Oligarchen zum Präsidenten gemacht wird, und sich dann emanzipiert. Diese Aufgabe steht dem Politiker Selenskij noch bevor, denn seine Nähe zum Oligarchen Igor Kolomojski weckt Zweifel am kompromisslosen Kampf gegen die Korruption. Kolomojskij soll mit seiner schließlich verstaatlichten „Privatbank“ die Ukraine im mehrere Milliarden Dollar geschädigt haben. In den USA läuft ein Gerichtsverfahren im Staat Delaware gegen ihn; nach Jahren im Exil kehrte Kolomojskij erst nach der Präsidentenwahl wieder in die Ukraine zurück. Verbindungen zu Oligarchen und ihren TV-Sendern haben auch andere Parteien, die den Kampf gegen die Oligarchen auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Die größte Herausforderung für den Präsidenten und den Vorsitzenden seiner Partei Dmitri Rasumkow bildet gerade der Grund, der ihnen den großen Sieg beschert hat. Denn mit völlig neuen politischen Gesichtern sind auch enorme Schwierigkeiten verbunden. Ins Parlament einziehen dürften mehr als 50 Prozent Abgeordnete, die politische Neulinge sind. Das gilt für die Partei „Diener des Volkes“ ebenso wie für die Partei „Stimme“, den möglichen Koalitionspartner. Die Partei „Stimme“ ist aber viel kleiner und verfügt über eine gefestigte nationalistische Grundanschauung, während „Stimme des Volkes“ weit heterogener ist. In ihren Reihen finden sich Politiker, die etwa zur Stellung der russischen Sprache und zur Frage, wie der Krieg in der Ostukraine zu beenden sei, abweichende Positionen vertreten. Die kommenden Monate und die neue Regierung werden zeigen, ob es Selenskij und Rasumkow gelingen wird, dieser Partei und dem Parlamentsklub ein klares Profil und Parteidisziplin zu verleihen. Der Präsident unterscheidet sich in seinem volksnahen Stil völlig vom Amtsverständnis von Petro Poroschenko. Doch ein neuer Stil ist noch kein Garant für eine erfolgreiche Reformpolitik. Einen neuen Stil verkörperte auch der letzte kommunistische Führer der Sowjetunion, „Michail Gorbatschow“, der an der Sysiphos-Arbeit der Reform scheiterte. Die Voraussetzungen in der Ukraine sind andere, die Herausforderungen geringer, ein Zerfall droht nicht, doch als warnendes Beispiel kann Gorbatschow für den „Medienpräsidenten“ Selenskij allemal dienen.

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