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Der Krug geht so lange zum Brunnen

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Kleine Zeitung
Berichte Ukraine

Zwei deutsche Sprichworte beschreiben treffen den politischen Erdrutsch, der am Sonntag in der Ukraine stattgefunden hat: „Der Krug geht solange zum Brunnen, bis er bricht!“ und „Hochmut kommt vor dem Fall!“ Mit etwa 26 Prozent fuhr der 53-jährige Petro Poroschenko die schwerste Niederlage ein, die je ein amtierender Präsident in den 28 Jahren der unabhängigen Ukraine erlitten hat. Nur in einem Bezirk, dem nationalistisch orientierten Kreis Lemberg , lag Poroschenko mit 63 Prozent klar vor Selenskij. In allen anderen Kreisen gewann der politische Kabarettist und Schauspieler, dessen Ergebnisse im Norden, Süden und Osten des Landes, dort wo vorwiegend russisch gesprochen wird, 80 Prozent und mehr an Stimmen erreichte. Im Gegensatz dazu erlitt Poroschenko dort eine vernichtende Niederlage, so erreichte er etwa in den Kreisen von Odessa und Dnipropetrowsk nur jeweils etwas mehr als 10 Prozent der Stimmen. Der Oligarch gestand den auch sehr rasch seine Niederlage ein, will aber weiter in der Politik bleiben. Seine Rede am Sonntag am Abend, war eine Art Kampfansage für die Parlamentswahl, die im Oktober stattfinden wird. Ob dann Poroschenko noch eine politische Rolle spielen wird, ist fraglich; auch ukrainische Abgeordnete sind zu einer sehr schnellen Neuorientierung fähig, wenn es um das politische Überleben geht.

Der flächendeckende Sieg den Selenskij gestern einfuhr, war aber keine Wahl für den populären Schauspieler, sondern eine Wahl gegen Poroschenko, der es dank einer Mischung aus Korruption, Nationalismus und Überheblichkeit zustande brachte, die große Masse der Ukrainer gegen sich aufzubringen. Völlig unter gingen dabei die Erfolge, die Poroschenko als Präsident auch erzielt hat, wie etwa die Dezentralisierung, die Visaliberalisierung mit der EU, oder die Bankenreform. Doch auf diese Erfolge war Poroschenkos Wahlkampf nicht ausgerichtet, sondern er spielte vor allem die nationalistische Karte und dieses Wählerpotential war eben zu wenig.

Wolodimir Selenskij legte den Weg vom Fernsehstar zum gewählten Präsidenten in binnen vier Monaten zurück. Ruhekissen ist das fulminante Ergebnis nicht. Er blieb in seinem Wahlkampf inhaltlich sehr unklar,   eine Umstand, der dieses Ergebnis möglicherweise sehr begünstigte, gerade weil er persönlich keine Angriffsflächen bot. Doch die politische „Schonzeit“ ist nun vorbei, die Amtseinführung wird in etwa in einem Monat stattfinden. Der Präsident in der Ukraine bestimmt den Außen- den Verteidigungsminister, den Generalstabschef, den Generalstaatsanwalt, wichtige personalpolitische Weichen, um nur einige Beispiele zu nennen. Doch die Ukraine hat ein gemischtes politisches System, ein parlamentarisch-politische Staatsform, in der Präsident auf die Zusammenarbeit mit dem Parlament angewiesen ist. Daher waren alle Präsidenten bestrebt, eine parlamentarische Mehrheit unter ihre Kontrolle zu bringen, doch da haben auch die Oligarchen ein gewichtiges Wort mitzureden. Im Wahlkampf wurde Selenskij von Poroschenko stets vorgeworfen, eine Marionette des Oligarchen Igor Kolomojskij zu sein, der durch seine Privatbank den Staat um mehr als fünf Milliarden US-Dollar geschädigt haben soll. Die Bank wurde unter Poroschenko verstaatlicht, ein Beschluss, den zwei Tage vor der Wahl ein Gericht erster Instanz in Kiew für rechtswidrig erklärte. Kolomojskij lebt derzeit vorwiegend in Israel, soll aber neben Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Ukraine, über einen nicht zu unterschätzenden Einfluss im Parlament verfügen. Seine Neuwahl ist für Oktober geplant, erst dann wird klar sein wie sich die Kräfteverhältnisse in der Ukraine gestaltet haben. Wolodimir Selenskij hat jedenfalls stets bestritten, von dem Oligarchen abhängig zu sein, ob das stimmt, werden die kommenden Monate zeigen.

Fraglich ist auch, in welchem Ausmaß der neu gewählte Präsident Wünsche und Versprechungen erfüllen kann, die er der Bevölkerung des Südens und Ostens gemacht hat. Dazu zählt die Aussage, die Pensionszahlungen für die Bewohner der prorussischen Rebellen-Gebiete sollten wieder aufgenommen werden. Sie wurden unter Poroscheno gestoppt, der auch eine Wirtschaftsblockade gegen diese Gebiete verhängte. Welche konkrete politischen Maßnahmen Selenskij hier setzen kann und wird ist fraglich; das gilt auch für sein wichtigstes Versprechen, den Friedensverhandlungen in Minsk wieder neue Dynamik verleihen zu wollen. Dazu müsste Selenskij Punkte der Minsker Vereinbarung innenpolitisch durchbringen, für die es bisher keine Parlamentsmehrheit gab. Außenpolitisch hängt „Minsk“ vor allem von den Beziehungen zwischen den USA und Russland aber auch von den Beziehungen zwischen Kiew und Moskau ab, die weiterhin auf dem Niveau „weder Krieg noch Frieden“ angesiedelt sind. Ob Selenskij in diesem Zusammenhang genug Handlungsspielraum und reale Macht haben wird, eigene Akzente zu setzen, lässt sich zwei Tage nach der Wahl einfach nicht beurteilen.

Sicher ist, dass der 41-jährige Wolodimir Selenskij weder ein Nationalist noch ein Hurra-Patriot ist. Er stammt aus der südukrainischen Industriestadt Krivij Rig, in der Russisch bis heute die dominierende Sprache ist. Selenskij selbst schloss ein Gymnasium in dieser Stadt im Jahre 1995 ab, ein Jahr ehe die erste ukrainisch-sprachige Klasse an dieser Schule eingeführt wurde. Seine Mutter kümmerte sich um die Familie, der Vater ist Professor für Informatik an der Universität. Selenskij spielte schon in der Schule Theater, seine Begabung zeigte sich bereits in sowjetischer Zeit, trotzdem studierte er zunächst Jus, doch als Jurist war er niemals tätig. Selenskij ist um 12 Jahre jünger als Poroschenko, der im heutigen Moldawien geboren wurde. Im Gegensatz zum abgewählten Präsidenten, ist Selenskij zwar auch für westliche Verhältnisse gut betucht, ein Oligarch ist er aber nicht. Daher könnte seine Amtszeit nicht nur von einem völlig anderen Politikstil sondern auch davon geprägt sein, dass persönliche und politische Interessen deutlich stärker getrennt werden als in den vergangenen fünf Jahren.

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