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Die Ukraine zwischen IT-Boom und Auswanderung

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Berichte Ukraine

Wahljahre sind in keinem Land besonders gut geeignet für tiefgreifende Reformen. Das gilt auch für die Ukraine, in der gestern die erste Runde der Präsidentenwahl stattfand. Sie trug nicht gerade zur Beruhigung möglicher ausländischer Investoren bei, weil mit dem politischen Kabarettisten Wolodimir Selenskij ein politischer Neuling in Führung liegt, dessen politisches Programm noch ziemlich unklar ist. Hinzu kommt, dass im Herbst auch noch das Parlament neu gewählt wird. Doch bereits unter Präsident Petro Poroschenko, dem Amtsinhaber, machten sich ausländische Investoren rar, weil der Kampf gegen die Korruption massiv zu wünschen übrig lässt und auch noch der Krieg in der Ostukraine das Bild des Landes trübt. Doch die Ukraine ist in so manchen Bereichen besser als ihr schlechter Ruf, das gilt etwa für den IT-Sektor, der in Osteuropa eine führende Rolle spielt. Über seine Entwicklung, seine Rolle in der ukrainischen Wirtschaft sowie über die wirtschaftliche und politische Lage der Ukraine hat unser Korrespondent Christian Wehrschütz den folgenden Beitrag gestaltet:

Die Ukraine ist mit vielen Stereotypen behaftet, die nicht ohne Grund bestehen. Dazu zählen Begriffe wie Oligarchen, Korruption, Rechtsunsicherheit, Krieg und Bürokratie. Hinzu kommt die Bezeichnung ehemalige Kornkammer der Sowjetunion. Tatsächlich ist die Landwirtschaft durch den Krieg in der Ostukraine zum wichtigsten Exportsektor aufgestiegen, weil Teile der Schwerindustrie auf Gebieten liegen, die von prorussischen Rebellen kontrolliert werden. Doch bereits an zweiter Stelle steht der IT-Sektor mit einem Export-volumen von etwa 4,5 Milliarden Euro, das sich binnen sechs Jahren verdoppeln könnte. Ein Beispiel für diesen Sektor bietet die Firma Ciklum, die ihren Sitz in Kiew hat; im ganzen Land beschäftigt Ciklum etwa 3.500 IT-Ingenieure, davon 700 in Kiew. Der Besuch in der Zentrale wirkt zunächst nicht besonders aufregend; junge Ukrainer und Ukrainerinnen sitzen vor Bildschirmen und arbeiten an Computern. Spannend wird es, als der Generaldirektor, der Däne Brian Fink, erzählt, was diese Firma so alles entwickelt:  

"Wir haben für einen Kunden in den USA ein kleines Gerät entwickelt, das die Lebensfunktionen von Babys überwacht, um die Kindersterblichkeit zu senken, und zwar vor allem in Afrika. Dieses Gerät wird auf der Stirn des Kindes befestigt; damit kann eine Krankenschwester zur gleichen Zeit viele Kinder überwachen, und zwar weit mehr als zuvor. Dieser Kunde kam zu uns zunächst mit beschränkten Geldmitteln; das war nur ein kleines Start-up-Unternehmen mit einer Idee, die Welt zu verändern. Wir entwickelten den ersten Prototyp; auf dieser Basis beschaffte das Start-up dann Geld, für weitere Entwicklungen."

Begonnen hat dieser Sektor zunächst damit, dass ausländische Firmen auf die technischen Talente der Ukraine zurückgriffen, und Aufträge für die Entwicklung von Software erteilten. Davon habe der gesamte Sektor profitiert, der aber nun weit mehr sei als nur eine technische, verlängerte Werkbank, betont Brian Fink:

"Die Outsourcing-Industrie begann damit, dass etwa Reisebüros kamen, und hier ihre Software entwickeln ließen. Die Ukraine konnte damit nicht nur Dienstleistungen exportieren, sondern auf diese Weise auch ihre eigenen IT-Talente entwickeln. Damit verbunden waren Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen, doch auch das unternehmerische Denken wurde ebenso entwickelt wie die Innovationskraft. So kaufte Amazon eine ukrainische IT-Firma für etwa eine Milliarde US-Dollar. Das ist ein Wandel, der vor einigen Jahren begann. Nun wird es viel mehr Start-ups in der Ukraine geben, die selbst Produkte entwickeln und nicht nur IT-Services anbieten."

Zwischen den USA und China besteht ein Weltlauf um die weltweit führende Rolle bei der Entwicklung und Nutzung von „Künstlicher Intelligenz“. In diesem Wettlauf sieht Brian Fink die Ukraine als Mitbewerber, wenn auch nicht immer an führender Front; Brian Fink:  

"Nicht jeder kann nach China oder in die USA gehen, um seine Software entwickeln zu lassen. Die Ukraine liegt vor der europäischen Haustür, zählt zu den TOP-Nationen in Osteuropa was "Künstliche Intelligenz" betrifft. So entwickeln wir als Ciklum bereits Produkte zur Daten-Analyse und für "Deep-Learning", wo wir für Firmen einen echten Mehrwert schaffen. Ein Beispiel: für einen Kunden in Israel haben wir eine Technologie entwickelt, damit er Drohnen, die über Orangen-Plantagen fliegen, das Wachstum jeder Orange auf einem Baum analysieren kann. Damit können etwa der Reifegrad und der Zustand einer Orange analysiert werden. Mit dieser Drohne kann ein Bauer weit größere Flächen überwachen als zuvor. Das ist ein Beispiel für ein Deep-Learning-Programm aus der Ukraine, das anderen Nationen hilft.“

Die Ukraine ist ein Land enormer Kontraste; sie gibt es auch in Kiew. Ein Beispiel dafür ist UNIT-City, ein Hochtechnologiezentrum das auf dem Territorium einer verfallenen Motorenfabrik aus sowjetischer Zeit entsteht. 50 Millionen Dollar haben Ukrainer bereits investiert, mehr als 300 Millionen sind geplant. 1000 Studenten sollen hier kostenlos ausgebildet werden. Sie können bei Firmen ein Praktikum zu machen, die in der UNIT-City angesiedelt sind. Die einzige Bedingung ist, dass die Studenten nach der Ausbildung drei Jahre in der Ukraine arbeiten müssen, weil junge Fachkräfte in Land gehalten werden sollen. Ein Großkonzern hat hier sein Fortbildungszentrum. 90 Firmen haben sich bereits angesiedelt, mehrheitlich aus der IT-Branche. Der Geschäftsführer von UNIT-City ist der 36-jährige Max Jakober; er hat technische Mathematik und Wirtschaft in Kiew studiert. Die Philosophie, die hinter der Architektur der Anlage stecke, sei ganz auf die sogenannte „Generation Z“ ausgerichtet, die um die Jahrtausendwende geboren wurde, erläutert Max Jakober:

"Die Generation Z hat andere Werte; für sie ist wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit zu haben, für sie ist es wichtig, wie Arbeitsplatz und Wohnort aussehen. Gerade diese Generation ist der Träger der Innovation. Ihren Bedürfnissen angepasst wurden Räume geschaffen, die im Westen Innovationsbezirke genannt werden. Sie bestehen aus zwei großen Blöcken; der erste Block beinhaltet die Infrastruktur, wo man arbeitet, sich aufhält und sich erholt; der zweite Block ist das Ökosystem; dazu zählen Schulen, Universitäten, Laboratorien, Orte, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit fördern, Start-ups, Firmen, die Talente suchen. Wir glauben daran, dass die Kombination all dieser Faktoren einen Raum schafft, in dem alle Anwesenden rascher wachsen können als draußen."

Die Ukraine ist ein Land mit enormer Bürokratie, doch wo der Staat nichts regelt gibt es Freiräume, die oft größer sind als in so manchem Land in der EU. Damit kompensieren private Firmen auch die Tatsache, dass der Staat bei Innovationen hinterherhinkt. Das gilt etwa für das Thema der Cluster-Bildung, für die es noch keine staatlichen Finanzierungsprogramme gibt. Ein IT-Cluster steht mitten im Zentrum von Kiew; er finanziert sich durch die Jahresbeiträge, die die 30 Firmen bezahlen, die sich hier angesiedelt haben. Hinzu kommen Mitarbeiter, die als Freiwillige gratis arbeiten, einfach weil sie mithelfen wollen, den Cluster zu entwickeln, erzählt seine Geschäftsführerin Natalja Weremejewa. Tatsächlich sind Volontäre in der Ukraine weit verbreitet. Doch wie steht es um die technische Infrastruktur, die für den IT-Sektor unerlässlich ist. Dazu sagt Natalja Weremejewa:

"Was den IT-Sektor betrifft, so haben wir in der Ukraine eine sehr gute Basis mit dem Breit-Band-Internet. Mehr als 50 Prozent entfällt auf Breit-Band-Internet. Alle großen Städte haben eine gute Internet-Infrastruktur, da gibt es Orte, die besser ausgestattet sind als in Europa, wo die Infrastruktur noch alt ist. Als ich in Deutschland war und versuchte, in einem Internet-Kaffee eine Internet-Verbindung zu finden, war das sehr seltsam. Bei uns können sie in jedes Kaffee gehen und eine Internetverbindung haben. Was WiFi betrifft, so scheint mir die Lage in Deutschland viel schlechter zu sein als in der Ukraine. Auch das mobile Internet wird nun bei uns sehr aktiv entwickelt, und ich hoffe, dass es dort sehr gut sein wird, wo wir noch keine Breitband-Anbindung haben."

200.000 IT-Ingenieure soll es in der Ukraine geben, etwa 30000 Studenten absolvieren entsprechende technische Ausbildungen jedes Jahr. Der offizielle Durchschnittslohn in der Ukraine liegt bei umgerechnet 300 Euro im Monat. Hinzu kommt eine politisch unsicher Zukunft, die viele Ukrainer zu Arbeitsmigranten werden lässt. Davon sei der IT-Sektor nicht mehr betroffen, betont Natalja Weremejewa:

"Migration ist ein Massenphänomen bei Arbeitern. Im IT-Sektor hatten wir den Höhepunkt im Jahre 2014 als unklar war, wie sich die gesamte Lage im Land entwickelt. Jetzt ist die Auswanderung de facto zum Erliegen gekommen. Denn die Bezahlung im IT-Sektor ist ziemlich hoch. Ein Einsteiger bekommt 1.000 US-Dollar, während Teamleiter und Senior Developer 5000 Euro und 6000 Euro und mehr im Monat verdienen. Der Markt ist sehr überhitzt, weil die Konkurrenz sehr groß ist. Hinzu kommt, dass IT-Mitarbeiter weniger Steuern zahlen, da gilt eine Flattax von fünf Prozent. Somit verdient ein IT-Ingenieur der in der Ukraine 5.000 US-Dollar verdient de facto mehr als sein Kollege in Europa, weil bei uns die Lebenshaltungskosten geringer sind."  

Nach Schätzungen dürften zwischen drei und fünf Millionen Ukrainer im Ausland arbeiten. Ihre Geldüberweisungen waren im Vorjahr mehr als doppelt so hoch als die Exporteinnahmen aus dem IT-Sektor. Abgesehen von den negativen Folgen der Arbeitsmigration für die ukrainische Pensions- und Sozialversicherungen, denen Beitragszahler fehlen, zeigen die Zahlungen der Gastarbeiter auch noch eine andere Schattenseite der ukrainischen Wirtschaft auf. Sie beschreibt in Kiew der Wirtschaftsexperte Oleg Ustenko so:

"Im Jahre 2018 flossen etwa 10 Milliarden US-Dollar als Überweisungen von Ukrainern zurück, die im Ausland arbeiten. Zum Vergleich: die ausländischen Direktinvestitionen betrugen im Vorjahr 1,7 Milliarden US-Dollar, somit sind die Überweisungen der Arbeiter im Ausland etwa sechs Mal höher als die ausländischen Direktinvestitionen. Das passt nicht mit der Rhetorik zusammen, dass sich das Business-Klima und die Lager verbessern und die Reformen greifen. Warum sinken dann die ausländischen Direktinvestitionen. Selbst im sehr schlechten Jahr 2013 betrugen diese Investitionen 4,5 Milliarden US-Dollar; heuer rechnen Prognosen nur mit 1,5 Milliarden US-Dollar."

Dabei hat die Ukraine durchaus Erfolge vorzuweisen; dazu zählen die finanzielle Dezentralisierung, die den Gemeinden mehr Geld brachte, die Gesundheitsreform oder der Kampf gegen die Korruption im Gasmarkt. Weitere Beispiele nennte die ehemalige Finanzministerin Natalja Jaresko:

"Transparenz wurde erreicht bei der öffentlichen Beschaffung mit dem sogenannten "Prozorro"- System. Damit kann jeder mitbieten, wenn es um öffentliche Aufträge geht; auch dadurch wurden viele Möglichkeiten zur Korruption beseitigt. Das Budget wurde transparent durch das elektronische Datensystem, das es jedem Bürger ermöglicht, Einblick zu haben, wie Budgetmittel verwendet werden. Je mehr Transparenz, desto besser, und desto schwieriger wird es auch für jede künftige Regierung, diese Ergebnisse zu beseitigen. Es gibt noch sehr viel zu tun; die Herrschaft des Rechts ist möglicherweise der größte einzelne Bereich, wo noch mehr getan werden muss."

Mehr tun müsste die ukrainische Führung auch, um den massiven Rückstand gegenüber den Nachbarländern aufzuholen, eine Folge der vielen versäumten Reformen seit der Unabhängigkeit vor 27 Jahren. Doch im Gegenteil, dieser Abstand werde eher noch größer, betont Oleg Ustenko:

„Selbst wenn die ukrainische Wirtschaft im Vorjahr um drei Prozent wuchs, ist das nicht genug, um zum Niveau des Jahres 2013, also zum Vorkriegsniveau zurückzukehren. Noch schlimmer ist ein regionaler Vergleich. Die Wirtschaft Polens verdoppelte sich in den vergangenen 20 Jahren, die ukrainische wuchs in diesen 20 Jahren um nur 20 Prozent. Schockiert hat mich die Statistik des Vorjahres. Im dritten Quartal wuchs die ukrainische Wirtschaft um 2,8 Prozent. In diesem dritten Quartal wuchs aber die rumänische Wirtschaft um 7,8 Prozent, im ganzen Jahr dann um 7 Prozent, während die ukrainische Wirtschaft nur um 3 Prozent wuchs."

Der IT-Sektor ist sicher mehr als die berühmte Schwalbe, die auch in der Ukraine noch keinen Sommer macht. Vielmehr zeigt er das enorme auch menschliche Potential eines Landes auf, dessen politische Elite sich leider bisher mehr auf die eigene Bereicherung als auf die Entwicklung der Ukraine konzentriert hat, die für Europa eine Bereicherung und kein Sorgenkind sein könnte.  

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