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Eurvision Soncontest im Krieg

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Weltjournal
Berichte Ukraine
Kiew ist nach 2005 heuer zum zweiten Mal Austragungsort des Eurovision Song Contests. Für die Hauptstad eines Landes, das international kein gutes Image hat und in dessen Osten Krieg herrscht, wäre das eine hervorragende Gelegenheit, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Doch die Vorbereitungen begannen spät, waren von Pannen und Personalquerelen überschattet, und gerieten erst in ruhigeres Fahrwasser als schließlich internationale Experten für die Produktion engagiert wurden. Politisch überschattet wurden die Vorbereitungen auch durch den Streit um die Teilnahme Russlands, das nun zum ersten Mal an einem derartigen Wettbewerb nicht teilnimmt. Wegen eines Auftritts auf der Krim verweigerte Kiew der Russin die Einreisegenehmigung. Hinzu kommt der Krieg in der Ostukraine unter Beteiligung Moskaus, das die prorussischen Rebellen massiv unterstützt.   Trotz des Kriegs im Osten will sich die Ukraine in Europa als Land präsentieren, in dem viele Volksgruppen friedlich zusammenleben. Die „Vielfalt feiern“, „Celebrate Diversity“ , lautet das Motto des Wettbewerbs. Es ist aus mehreren Gründen mit einem Fragezeichen zu versehen. So ist der Song Contest bei LGBT-Gruppen in ganz Europa sehr populär; in der Ukraine stehen sie aber im Kampf um Anerkennung noch am Beginn, weil die Ablehnung von Homosexuellen nicht nur bei Kirchen und nationalistischen Gruppierungen sehr stark ausgeprägt ist. Zu den Feindbildern zählt in der Ukraine auch bei vielen Parteien der Begriff „Gender“. Frauen sind nicht nur in Politik und Wirtschaft stark unterrepräsentiert; den folgenden Beitrag über „Die Ukraine – Eurovision Song Contest im Krieg“, hat unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz gestaltet:



Berichtsinsert: Christian Wehrschütz

Kamera: Sascha Aleksejew, Wasilij Rud

Schnitt: Barbara Katzelmayer



Gesamtlänge: 28‘14



Inserts:



Ruslana, Siegerin des Song Contests 2004



Christer Bjorkman, Produzent des Song Contests



Ola Melzig, Produktionsleiter des Song Contests



Alina Makarets, Ukrainischer Fanklub des Song Contests



Olga Beschmelnizina, Herausgeberin des Fremdenführers  



Marik Djirgudinow, stellvertretender IT-Direktor der Stadt Kiew



Olexandr Litwinenko, stellv. Vorsitzender des Sicherheitsrates der Ukraine



Andrij, Student und ukrainischer Nationalist



Wladimir Trubtschanin, Direktor der Maschinenfabrik



Karl Curin, OSZE-Beobachter in der Ostukraine



Vera Pawlowna, Pensionistin in der Stadt Torezk



Anna Lonova, Gay-Allianz Ukraine



Anna Lonova, Gay-Allianz-Ukraine



Jamala, Siegerin des Song Contests 2016



Olena Suslowa, Expertin für Frauenrechte



Galina Skipalska, Hilfsorganisation zum Schutz von Frauen



Karola Sakotnik, Teamleiterin der „Roten Nasen International“



Vitali Klitschko, Bürgermeister von Kiew



Ruslana – Siegerin des Song Contests 2004



Text:

00’08:

Über Kiew wacht „Mutter Heimat“. Das Denkmal erinnert an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Mit drei Millionen Einwohnern ist Kiew die größte Stadt der Ukraine. Der Mythos besagt, dass sie drei Brüder und eine Schwester Anfang des sechsten Jahrhunderts geründet haben. Der Dnipro bildete 140 Jahre lang die Grenze zwischen Polen und dem zaristischen Russland.



00‘40

Im Zentrum waren bis Ende April Hinweise auf den Song Contest spärlich gesät; ein bekanntes Einkaufszentrum bewirbt den Wettbewerb; so mickrig wie der Stand mit den Fanartikeln wirkt die Selbstvermarktung der Stadt; so gab es bis Ende April nicht einmal einen Werbespot über Kiew, obwohl die Ukraine zwei Siegerinnen aufzuweisen hat.



01‘08

Jamala gewann im Vorjahr, Ruslana bereits 2004;



01‘18

Ruslana sitzt im Organisationskomitee und tritt auch im Finale des Song Contests auf. Ich treffe sie in ihrem Studio am Standrand von Kiew. Was hält sie vom heurigen Motto des Wettbewerbs „ Die Vielfalt feiern“:



01‘35

"In der Ukraine leben 24 Völkerschaften; „Die Vielfalt feiern“, bedeutet, dass wir alle verschieden sind; doch wir feiern diese Verschiedenheit, weil sie uns vereint; für die Ukraine ist das eine sehr eigene Botschaft."

1‘54

Im Ausstellungszentrum arbeiten seit drei Monaten 800 Personen unter internationaler Führung an den Vorbereitungen. Der Song Contest ist ein Projekt der Superlative; allein die Metallstreben für die Tribünen wiegen 450 Tonnen, 1.800 intelligente Beleuchtungskörper und 19 Kameras sind im Einsatz. Der Song Contest ist ein Energiefresser – 20.000 Liter Diesel werden pro Tag verbraucht, seit Beginn der Proben am 20. April.



02‘28

Fasziniert haben mich die beiden Projektleiter aus Schweden; das größte Fernsehspektakel Europas ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern stets ein politisch und wirtschaftlich sensibles Projekt:



02‘42

"Wenn es in den Beiträgen Symbole gibt, halten wir immer Rücksprache mit der EBU, damit man uns sagen kann, ob das ok geht. Wir überprüfen alles, was sensibel sein könnte. Doch die meisten Inhalte, die wir bekommen, sind harmlos."



03‘04

"Unser größtes Problem sind gewöhnlich Marken und Firmenlogos auf der Bühne. Adidas-Schuhe oder große Yamaha-Logos auf Keyboards und so weiter; all das muss entfernt werden."



03‘19

„Und jetzt hat er zwei Marken zu beseitigen, die Du genannt hast.“



03‘27

Die Fan-Zone liegt in der Krestschatik, der zwei Kilometer langen Flaniermeile Kiews; sie ist eine Hauptverkehrsschlagader, vergleichbar mit der Südosttangente in Wien.



03‘39

Am Maidan treffe ich den ukrainischen Fanklub des Song Contests. Er kritisiert Vorbereitung und Marketing:  

03’49

"Bereits die Auswahl des Austragungsortes erfolgte sehr spät. Spät begann man auch mit dem Kartenverkauf, und die Vorbereitung der Stadt begann erst Mitte April in vollem Umfang. Die Kiewer hat man sehr spät gewarnt, dass das Zentrum zum großen Teil für Autos gesperrt sein wird. Leider wird alles nur in letzter Minute gemacht, doch man kann sagen, dass das in der Ukraine immer so ist."



04‘24

Wie so oft sprangen junge Menschen mit einer Privatinitiative in die Bresche; sie produzierten einen Stadtführer eigens für den Song Contest in englischer Sprache:



04‘37

"Das Einzigartige ist, dass wir Bilder von Kiewern verwendeten, die an einem Wettbewerb teilgenommen haben; die besten sind im Führer. Außerdem haben wir Persönlichkeiten eingeladen im Führer zu Kiew Stellung zu nehmen."



04‘57

„Kiew by locals“ ist sehr lesenswert, die Auflage beträgt aber nur 2.000 Stück, während mehr als 20.000 ausländische Touristen zum Song-Contest erwartet werden.    



05‘13

Für die Sicherheit beim Song Contest sorgen 10.000 Polizisten und die Nationalgarde. Die Polizei wurde besonders geschult, um ja als Freund und Helfer aufzutreten.

Ihr Taktgefühl zeigten Angehörige des Innenministeriums bereits bei einer Veranstaltung zum Thema Verkehrssicherheit im Schewtschenko-Park

Polizisten in der Fan-Zone sollen ausreichend englisch sprechen.



05‘47

4.000 Kameras hat die Stadt im Zentrum installiert; Überwacht werden sie rund um die Uhr. Der stellvertretende Leiter des IT-Zentrums hofft auf europäische Standards beim Überwachungsstaat. Um die Kameradichte zu erhöhen, geht Kiew ungewohnte Wege.



06’06:

"Wir haben uns an jeden im Zentrum gewandt, der eine private Überwachungskamera einsetzt, damit wir diese Kameras verwenden können. Das funktioniert sehr gut; wir hoffen, dass wir wirklich 7.000 Kameras im Zentrum zur Verfügung haben werden."

      

06‘27

Einfacher wird die Sicherheitslage, weil Russland nicht teilnimmt. Julia Samojlowa darf nicht einreisen, weil sie ohne Genehmigung Kiews auf der Halbinsel Krim aufgetreten ist und damit ukrainisches Recht verletzt hat.



06‘49

Wie ein Anachronismus wirkt in Kiew der „Bogen der Völkerfreundschaft“. Er stammt aus sowjetischer Zeit und erinnert an die sogenannte Vereinigung der russischen und ukrainischen Brudervölker 1654. Aus diesem Anlass erhielt die Ukraine 300 Jahre später die Oberhoheit über die Krim, die 2014 endete.



07‘15

Für Olexandr Litwinenko vom nationalen Sicherheitsrat führt die Ukraine einen klassischen Unabhängigkeitskrieg:      



7‘23

"Wir wollen von Russland nur die Anerkennung unserer staatlichen Souveränität, unserer territorialen Unabhängigkeit, und das Recht, unser Schicksal selbst zu bestimmen. Russland zwang uns, unsere Wirtschaft umzuorientieren; binnen drei Jahren sank der Warenaustausch drastisch. Wir beseitigen kommunistische Denkmäler und stärken ukrainische Kultur und Sprache. Russland hat diesen Prozess beschleunigt, er ist kompliziert aber unumkehrbar.“



07‘56

Von der Polizei geschützt werden müssen in Kiew einige ukrainische Filialen russischer Großbanken. Sie waren Ziel auch gewaltsamer Proteste ukrainischer Nationalisten; sie fordern den Abbruch aller Beziehungen mit Russland, obwohl der nunmehrige Erzfeind noch immer ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist:



08‘17

"Wir glauben, dass während des Krieges mit Russland, die Institutionen des Besatzers geschlossen werden müssen. Es ist etwas unlogisch, dass wir die ganzen Welt und die EU um Sanktionen bitten, doch wir selbst können derartige elementare Dinge nicht tun, und führen diplomatischen Beziehungen mit dem Aggressor."



08’40:

Aber in dieser russischen Tochterbank arbeiten doch Ukrainer?



08‘44

Ja .... aber das spielt keine Rolle, denn sie arbeiten für den Aggressor. Das ist nicht richtig, wenn ein Ukrainer für den Besatzer arbeitet."



08‘53

Doch wirtschaftliche Vernunft spielt in diesem Krieg keine Rolle mehr.



09‘04

Tausende Tonnen Kohle lagen zu Jahresbeginn in den Rebellengebieten auf Halde, weil ukrainische Veteranen die Verkehrswege blockierten; dann stellten die prorussischen Rebellen ukrainische Betriebe unter Zwangsverwaltung, was einer Enteignung gleichkommt.



09‘23

Darauf antwortete Kiew mit einer totalen Wirtschaftsblockade. Auf Rebellengebiet stehen Großbetriebe still, weil Rohstoffe aus der Ukraine fehlen oder neue Absatzmärkte nur schwer zu finden sind.



09‘37

Andererseits fehlt Betrieben auf ukrainischer Seite Kohle; absurd ist, dass Kohle nun oft über Russland teurer von den Rebellen zugekauft wird; illegaler Handel blüht. Tausende Arbeitsplätze sind betroffen – auf beiden Seiten der Front.



09‘56

Betriebe werden als militärische Stützpunkte genutzt und immer wieder beschossen - auch diese Maschinenfabrik in der Nähe der Rebellenhochburg von Donezk. Den Zusammenbruch der Sowjetunion konnte sie nie kompensieren; in 25 Jahren unabhängiger Ukraine auch nie wirklich auf dem EU-Markt Fuß fassen. Für seine Vortriebsmaschinen sieht der Generaldirektor nun bei allen Problemen eine Perspektive, allerdings nur aus dem Osten:      



10‘24

"Hier hängt das Porträt von Wladimir Putin; mir ist klar, dass wir ohne russische Hilfe niemals überleben können. Daher kann das ein Leben unter dem Patronat Russlands oder ein Leben als Teil Russlands sein, wobei mir das Zweite lieber wäre."



10’43:

Das Kriegsgebiet in der Ostukraine ist von Kiew und dem Song Contest 800 Kilometer entfernt; Die Reise dorthin ist beschwerlich; Fahrten im Kriegsgebiet stets spannend; mit Beschuss habe ich immer zu rechnen.



11‘00

In einer Vorpostenstellung musste ich den Kopf dauernd unten halten; Scharfschützen sind völlig unkalkulierbar; die feindlichen Stellungen trennen hier nur wenige hundert Meter. Verletzungen der Feuerpause sind die Regel.



11‘22

Bis zu 30.000 Personen queren pro Tag die 500 Kilometer lange Waffenstillstandslinie; es gibt nur vier Übergänge;



11’31:

im Raum Lugansk ist das eine schwer beschädigte Brücke für Fußgänger. Ukrainische Pensionszahlungen sind ein Grund für den Frontwechsel, Verwandtenbesuche ein weiterer. Hin und wieder werden Übergänge beschossen. Gefährlich ist das Leben für alle die in der Pufferzone leben oder unterwegs sind.





11‘51

In diesem Auto starb Ende April ein OSZE-Beobachter; das Fahrzeug fuhr auf eine Panzermine auf.



12‘02

OSZE-Beobachter leben immer gefährlich; Als wir im November österreichische Beobachter begleiteten, tauchte vor uns ein Schützenpanzerwagen der Rebellen auf und feuerte auf die ukrainische Seite. Wir fuhren sofort zurück; die Antwort der wollten wir nicht abwarten:



12‘36

Die OSZE dokumentiert nicht nur Verstöße gegen die Feuerpause, sondern ist Zeuge der Verelendung einer Region, die schon vor dem Krieg mit veralteten Industrien zu kämpfen hatte:    



12‘49

"Es bleiben zumeist nur die Älteren und Alten in diesen Ortschaften zurück; die Kinder müssen raus, weil sie hier nicht zur Schule gehen können, und die jüngeren suchen sich natürlich Arbeit in den nächstgelegenen Städten; und für die Alten ist es natürlich sehr schwierig, weil Nahrungsmittel werden manches Mal knapp, manches Mal werden Gas-, Wasser- und Elektrizitätsleitungen beschädigt; und dann sind die Leute oft tagelang ohne Strom, also das Leben ist nicht einfach da, vor allem im Winter."



13‘31

Wasser ist wirklich ein zentrales Problem auf beiden Seiten der Front; es ist ein Druckmittel im Krieg, anderseits können Leitungen wegen der Kämpfe oft tagelang nicht repariert werden. Selbst das Wasser in Heizkörpern wurde zum Kochen verwendet; das massenhafte Ablassen gefährdete in der Stadt Torezk die Beheizung der Wohnhäuser; doch in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen:



13‘55

„Zweimal wird das stinkende Wasser abgekocht. Seit drei Uhr früh bin ich hier, damit ich Wasser bekomme.“



14‘07

Der Lebensstandard ist auf beiden Seiten der Front stark gesunken. Die Grundversorgung in den Rebellengebieten decken lokale Erzeuger, doch ohne russische Hilfe könnten diese Gebiete nicht überleben; internationale Hilfe wird kaum zugelassen, ukrainische gar nicht.



14‘25

Russische Hilfskonvois spielen im Propagandakrieg eine wichtige Rolle.



14‘33

Plakate in Lugansk feiern das Ende der ukrainischen Herrschaft: „Du kannst die Zukunft ändern, der erste Schritt ist schon getan“.



14‘45

Die Nachfrage nach Pässen der sogenannten Volksrepubliken ist stark gestiegen, seit Russland diese Dokumente anerkennt. Die Gräben zur Ukraine werden immer tiefer, je länger der Krieg dauert.



15’00 – Musik offen



15’08:

In Donezk werden noch Lieder in sowjetischer Tradition gesungen; dagegen setzt Kiew auf die totale Beseitigung des sowjetischen Erbes.  



15‘22

Der zerstörte Friedhof beim ehemaligen Flughafen Donezk hat Symbolkraft: verrannte Erde über den Tod hinaus, drohender Verlust der Landeseinheit, Verödung einer Region, mehr als drei Millionen Menschen ohne Perspektive.



15‘55

Für mich ist es immer wieder deprimierend zu sehen, was Menschen einander antun können.      



16‘04

In Donezk erinnert das beste Hotel an den Wohlstand vor dem Krieg; seine Leere symbolisiert auch den Niedergang.



16‘13

Der Pianist, der nun an Wochenenden spielt, spielt im Grunde nur für sich selbst, die Mitarbeiter und eine Handvoll Gäste.



16‘25

Der Pianist liebt die russische Schule – doch sogenannte europäische Werte waren schon vor dem Krieg Mangelware - auf beiden Seiten der Front;



16‘36

das zeigte mir die Bibliothek der Rebellenhochburg von Lugansk. Gesucht habe ich nach Artikeln zum Sieg von Conchita Wurst beim Song Contest im Jahre 2014. Sie war selbst in ukrainischen Regionalzeitungen ein Thema.



16‘58

Ihr „Sieg der Toleranz“ wurde aber mit einem Fragezeichen versehen.



17‘06

So populär der Song Contest bei homosexuellen Gruppen ist – so sehr müssen sie auch in Kiew noch um Toleranz kämpfen.



17‘16

Das Motto des Wettbewerbs, „Die Vielfalt feiern“ gilt für Homosexuelle nicht. Ihre Diskriminierung am Arbeitsplatz ist in der Ukraine zwar verboten, doch die Realität sieht anders aus, erzählt mir Anna Lonova von der Gay-Allianz:              







17‘33

"Bei einem Schaffner wurde seine Homosexualität zufällig bekannt, und die Probleme begannen. Kollegen wollten mit ihm nicht mehr arbeiten, schrieben eine Beschwerde an den Vorgesetzten. Nach zwei Monaten müsste er kündigen. Er bekam nur mehr einen minimalen Lohn oder wurde nur für unangenehme Fahrtstrecken eingeteilt. Man findet immer eine Möglichkeit, jemanden hinauszuekeln."



18‘01

Die GAY-Allianz ist ein Dachverband gleichgeschlechtlicher Gruppen, kämpft für deren Rechte, dokumentiert Fälle von Gewalt und organisiert die jährliche Parade in Kiew. Sie verlief im Vorjahr zum ersten Mal ohne größere Zwischenfälle:  



18’17

"Das ist ein Fortschritt, der mich sehr freut. Als 2012 die Idee einer Parade geboren wurde, sagten alle, das ist eine Provokation, und noch in 20 Jahren wird in der Ukraine keine Schwulen-Parade stattfinden können. Vier Jahre später, in denen wir Drohungen und persönliche Angriffe erlebt haben, hat 2016 gezeigt, dass die Regierung anerkennt, dass Homosexuelle ein Recht auf Versammlungsfreiheit haben. Natürlich gilt das zunächst nur für Kiew, aber die Änderungen sind unumkehrbar."



18‘57

Wie dünn das Eis der Toleranz ist, zeigt dieser unvollendete Regenbogen. Die Stadt Kiew wollte das sowjetische Denkmal der ukrainisch-russischen Brudervölker in einen Regenbogen verwandeln und damit ein Bekenntnis zur Vielfalt abgelegen. Die Arbeiten stoppten ukrainische Nationalisten. Sie kritisierten den Regenbogen als perverses Symbol; das Motto des Song Contests hat für sie einen negativen Beigeschmack.



19‘30

Im Vorjahr siegte die Krim-Tatarin Jamala mit einem Lied, das an die Vertreibung der Krimtataren durch den kommunistischen Diktator Stalin erinnert



19‘45

davon abgesehen ist Jamala durch Stellungnahmen zur Politik nicht bekannt, die in Ukraine von Männern dominiert wird:

19‘56

"Ich glaube nicht, dass es eine öffentliche oder enorme Diskriminierung gibt. Das Problem der Frauen liegt darin, dass man für Freiheit und Emanzipation auch bezahlen muss. Zunächst wollten alle Frauen alle Rechte; als die Männer geschwächt wurden, sagten die Frauen, wir wollen, dass ihr uns die Tür aufhaltet; bringt uns diese Traditionen zurück. Nicht alle Schuld muss man auf die Männer abschieben. Alles beginnt in der Familie. Erzieht eure Söhne so, dass sie Frauen achten und sich ihnen gegenüber als dem schwächeren Geschlecht verhalten.



20‘32

Diese Erziehung war bisher offenbar nicht flächendeckend genug. „Mutter Heimat“ dominiert in Kiew zwar das Stadtbild, doch Frauen wird nicht der rote Teppich ins Parlament ausgelegt; nur 12 Prozent aller Abgeordneten sind Frauen. Die Wirtschaft dominieren Männer;



20‘50

Frauen arbeiten oft in schlechter bezahlten Berufen, oder verdienen weniger nur weil sie Frauen sind. Durchschnittlich sind ihre Einkommen um ein Drittel niedriger als das der Männer. Andererseits leben Frauen deutlich länger als Männer – sind daher aber auch länger arm, könnte man sagen.



21‘13

„Gender“ ist in der Ukraine für viele fast ein Schimpfwort. Trotzdem sieht Olena Suslowa, Expertin für Frauenfragen, auch positive Trends:

      

21‘23

"In jedem Ministerium, in jedem Kreis, ist für Gender-Politik jetzt eine Person wenigstens formell zuständig. Es gibt ein Gesetz über die Bekämpfung der Gewalt in der Familie, eine Quotenregelung im Wahlgesetz sowie die Änderung im Arbeitsgesetz; dort wurde der Begriff Frauen ersetzt durch die Person mit familiären Verpflichtungen."



21‘52

Beim Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt liegt die Ukraine aber Lichtjahre hinter Standards zurück, die für die EU gelten müssen. Nur fünf Frauenhäuser gibt es im ganzen Land mit insgesamt etwa 50 Plätzen. Zum Vergleich: In Österreich gibt es 760 Plätze, obwohl die Bevölkerung fünf Mal geringer ist:  

22‘14

"Oft halten unsere Klientinnen eine Beziehung mit Gewalt für eine normale Beziehung. wenn ihnen der Mann auf den Kopf haut, sie anschreit, das Geld wegnimmt und sie aus der Wohnung wirft. Parlamentsabgeordnete debattierten im Fernsehen kürzlich über Gewalt gegen Frauen; da zeigten die Politiker, dass sie nicht verstehen, was diese Gewalt bedeutet, und das man etwa eine Frau nicht schlagen kann, weil sie Borschtsch nicht richtig zubereitet. Hier spielen Stereotype eine große Rolle. Hinzu kommt der Krieg im Osten; dadurch ist das Aggressionsniveau viel höher als vor drei, vier Jahren. "  



22’57

Kinder sind die wehrlostesten Opfer des Krieges: Die Roten Nasen International arbeiten mit vertriebenen Kindern, die auf Ukrainisch kontrolliertem Territorium leben. traumatisiert durch Beschuss und Flucht, belastet durch den täglichen Überlebenskampf ihrer Eltern.



23‘19

Die Clowns versuchen auch therapeutisch zu wirken:    



23‘26

„Diese ureigene Geschichte des Clowns – der hat die ganze Zeit einen Konflikt und kann ihn lösen; in der Regel löst er den sehr liebevoll und im Team, was ein großes Thema ist bei Krieg, dass es nicht nur eine Lösung durch Aggression und Gewalt gibt, sondern, dass man sich auch auf Dinge einigen kann. Wir trauen uns immer, an eine Lösung zu glauben. Das ist gerade für Binnenvertrieben, für Menschen, die wenig Vision haben, wo sie zurück hingehen können, und ob es dort eine Zukunft gibt, wo sie gerne sein würden, macht das relativ große Hoffnung.“



24‘02

Im Gegensatz dazu ist das Zentrum von Kiew eine Insel; in den Fan-Zonen werden Besucher von der ukrainischen Lebensrealität nur sehr wenig mitbekommen, obwohl auch der Weg Kiews zu einer modernen europäischen Stadt noch sehr weit ist. Behinderten-gerechte Zugänge sind eine Seltenheit; Barrierefreiheit auf dem Weg nach oben gibt es nicht.



24‘31

Auch auf die Verkehrsmittel trifft das Motto des Song Contests nicht zu – die „Vielfalt feiern“. Radfahrer sind fast so selten wie ein Lotto-Sechser;

24‘42

Für mehr Radwege warb im April ein privater Verein im Park vor dem Parlament. Eine mächtige Lobby sind die Radfahrer jedenfalls nicht.



24‘54

Dem Anlass entsprechend gestylt ließ sich dabei auch Bürgermeister Vitali Klitschko blicken. In seiner Stadt gibt es derzeit 20 Kilometer Radwege, in Wien sind es mehr als 1.300.



25‘07

Für Kiew hat der Bürgermeister große Pläne:      



25‘11

"Kiew soll zu einem wahren Mekka für Touristen werden; dazu bestehen alle Voraussetzungen, historische Gebäude, viele Museen, schöne Inseln. Kiew ist sehr attraktiv für Touristen. Der Song Contest ist somit eine Möglichkeit, unsere Stadt zu bewerben."



25‘31

Diese Möglichkeit hätte wohl viel besser genutzt werden können, ja müssen, zumal viele Ausländer nicht wissen, dass Kiew vom Kriegsschauplatz 800 Kilometer entfernt ist. Klitschko soll sehr oft im Ausland sein; vielleicht ist das mit ein Grund für die spärliche Selbstvermarktung seiner Stadt.



Die Hoffnung der Ukraine dürfte wirklich in ihrer Jugend liegen, wenn sie im Land bleibt und den Weg an die Spitze des Staates schaffen sollte. Auch die Sängerin Ruslana hofft auf die Jugend. Sie unterstützte die Revolutionen am Maidan und ist eine vehemente Kämpferin für eine europäische Ukraine:      



26’13

"Junge Politiker sammeln jetzt Erfahrung. Das sind alles Politiker, die auf dem Maidan gestanden haben nach dem Maidan ins Parlament gekommen sind. Sie denken bereits anders, doch das System lässt sie noch nicht. Früher oder später wird diese Generation aufsteigen, und sie wird die Ukraine ändern."



26‘38

Besser wäre früher, heute als morgen; Zeit hat die Ukraine wahrlich schon mehr als genug verloren. „Zeit“ heißt auch das Lied der Gruppe OTorvald; sie vertritt heuer die Ukraine beim Song Contest:    



27‘08

Eine Zeile lautet: „Es ist Zeit – einen Platz gegen Gewalt zu finden.“



27’25:

Nicht einmal die ukrainische Fangruppe des Song Contests rechnet mit dem Sieg ihrer Band; zweimal hintereinander will sich wohl niemand die Ukraine noch dazu ohne Russland antun.



27‘43

Höchste Zeit wäre es, dass der Krieg in der Ostukraine endet; im Frieden stünden auch die Chancen viel besser, dass viel mehr Touristen das sehenswerte Kiew und die wunderschöne Ukraine besuchen – auch nach dem Song Contest.    



Musikliste:

„Mein Kiew“, Version Voice – 36 Sekunden

„Mein Kiew“, Version Erica – 26 Sekunden

Ruslana, 2004, 12 Sekunden

Samojlowa: Russische Kandidatin – 29 Sekunden

Straßenmusiker: „Spjat kurgani temnije“ – 26 Sekunden

Jama, 2016 (1944) – 29 Sekunden

OTorvald – Time) – 41 Sekunden



Liste Fremdmaterial:

01’13 – 01’25 – Ruslana, 2004, Song Contest, EBU

06’23 – 06’48 – Samojlowa – Startervideo Song Contest 2017

11’51 – 12’02 – Video prorussischer Rebellen OSZE

18’10 – 18’17 – Gay-Parade in Kiew, Reuters (7103)

18’38 – 18’51 – Gay-Parade 2016 in Kiew (AP, 4039917)

19’26 – 19’48 – Song Contest 2016, Jamala siegt

26’06 – 26’13 – Ruslana, Maidan

26’46 – 27’21 – Otorwald Eurovision Video, 2017



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