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Mariupol: ukrainischer Vorposten zwischen Krieg und Modernisierung

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Mariupol ist eine ukrainische Hafen- und Industriestadt mit vielen Beinamen – Vorposten der Ukraine im Donez-Becken, Frontstadt gegen die prorussischen Separatisten, „Stadt der Solidarität“. All diese Attribute haben mit dem Krieg in der Ostukraine zu tun; im Jahre 2014 war Mariupol einige Monate in der Hand prorussischer Separatisten, deren Herrschaft aber im Frühsommer durch ukrainische Truppen beendet wurde. Mehrmals selbst Ziel von Angriffen durch Artillerie liegt die Frontlinie nun etwa 20 Kilometer östlich der Stadt. Andererseits war und ist Mariupol auch Zufluchtsort für Binnenvertriebene und Flüchtlinge. Mehr als 100.000 sind registriert, tatsächlich sollen in der Hafenstadt mit ihren 470.000 Einwohnern zwischen 50.000 und 70.000 Binnenvertriebene leben. Das ist eine enorme Herausforderung für die Infrastruktur, vom Wohnbau über die Gesundheitsversorgung bis hin zum Verkehr, denn jahrzehntelang wurde nicht investiert. Doch nun ist Mariupol die wichtigste Stadt der Ukraine im Kreis von Donezk, dessen Rebellenhochburg nicht mehr von Kiew kontrolliert wird. Diese Chance will Mariupol zur Modernisierung nutzen. Eine zentrale politische und wirtschaftliche Rolle spielen dabei die Stahlwerke der Metinvest-Gruppe des wichtigsten Oligarchen der Ukraine, Rinat Achmetow. Jeder zweite arbeitende Bewohner von Mariupol ist bei der Metinvest-Gruppe beschäftigt, die nicht nur in die Modernisierung ihrer Werke, sondern auch in die der Stadt investiert, deren politische Führung ebenfalls aus dieser Gruppe kommt. Aus Mariupol berichtet unser Korrespondent Christian Wehrschütz:



Die Kombinate Ilitscha und Asowstal sind zwei Industriegiganten aus sowjetischer Zeit. Die Stahlwerke und die dazugehörenden Firmen beschäftigen insgesamt 60.000 Mitarbeiter. In Mariupol arbeitet jeder dritte Beschäftigte in der Metallindustrie; de facto dürfte jeder zweite Arbeitsplatz in der Hafenstadt mit der Gruppe Metinvest des Oligarchen Rinat Achmetow verbunden sein. Dieser Konzern hat durch den Krieg in der Ostukraine und den Handelskrieg zwischen der Ukraine und Russland große Probleme; das Russland-Geschäft brach praktisch zusammen, während viele Zulieferbetriebe wie Kohlegruben in Gebieten liegen, die prorussische Rebellen kontrollieren. Dazu sagt in Mariupol der Generaldirektor des Kombinats Ilitscha, Juri Sintschenko:



"Praktisch die gesamte Infrastruktur und Logistik sind nun zerstört oder blieben auf dem Territorium, das nicht von der Ukraine kontrolliert wird. Daher müssen wir etwa Rohstoffe auf einem großen Umweg aus unseren Bergwerken hierher bringen. Das gilt etwa für den Koks für unser Stahlwerk Ilitscha; dieser Zugtransport dauert nun fünf bis sieben Mal so lange. Erzeugt wird der Koks in unserem Kombinat in Avdijevka, das ebenso ständig beschossen wird wie die Stadt selbst."



Nichts desto trotz investiert das Kombinat, das zu den größten Stahlwerken der Ukraine zählt; seine Stahlerzeugung wird bis Herbst 2018 mit Ingenieurskunst aus Linz um 150 Millionen Euro modernisiert. Investiert wird damit auch in den Umweltschutz, einem der großen Probleme von Mariupol. Metinvest ist hier aber nicht nur der zentrale wirtschaftliche, sondern auch der zentrale politische Faktor, der die Erneuerung der Stadt vorantreiben wolle, betont Juri Sintschenko:



"Jedes zweite Infrastrukturobjekt ist mit unserer Hilfe erneuert oder gebaut worden. Dabei helfen auch internationale Organisationen. Kein Geheimnis ist, dass die neue Führung der Stadt bis vor kurzem noch in unserem Konzern gearbeitet hat. Wir haben an der Wahl vor einem Jahr teilgenommen, damit die Stadt junge, energische und gebildete Personen verwalten, die etwas bewegen und Reformen umsetzen wollen, die europäischen Werten entsprechen; über sie wird heute sehr viel geredet, verwirklicht werden sie nicht überall im Land. Wir wollen am Beispiel von Mariupol zeigen, dass in einer Stadt in Frontnähe Reformen umgesetzt werden können. Das ist für uns auch wichtig, um den Unterscheid zeigen zu können zwischen dem, wie es bei uns in der Ukraine ist, und der Lage auf der anderen Seite der Waffenstillstandslinie."



Daher wird nun in die Infrastruktur investiert; Die ukrainische Hymne erklang jüngst bei der Inbetriebnahme von sechs neuen Coloniakübelwägen für die Müllentsorgung, die im Vergleich zu den dominierenden uralten Modellen fast einer technischen Revolution in der Ukraine gleichkommen. Mit finanzieller Hilfe von Metinvest und der EU wurde eine Ambulanz renoviert und Metinvest finanzierte auch das Gebäude, in dem Teile der medizinischen Universität von Donezk ihr Exil in Mariupol beziehen können. Auch ohne Krieg wäre die Ausgangslage für die Modernisierung Mariupols schwierig genug; jahrzehntelang wurde nicht in die Infrastruktur der investiert; das dafür vorgesehene Geld fiel oft der Korruption zum Opfer. Den Ist-Zustand listet eine von den USA finanzierte Studie detailliert auf. Demnach liegen die Verluste bei den Wasserleitungen bei 41 Prozent, in Zürich sollen es nur 13 Prozent sein. Hinzu kommen baufällige Straßen, sowie Busse und Straßenbahnen in katastrophalem Zustand. Dazu sagt die stellvertretende Bürgermeisterin Ksenia Suchowa:



"Es ist heute sehr schwierig zu entscheiden, was wichtiger ist, wobei das Geld hinten und vorne nicht reicht. Wir haben analysiert, womit zu beginnen ist und darüber auch mit den Bürgern gesprochen. Die wollen jetzt und sofort etwa eine Asphaltierung schlechter Straßen, doch wir wissen, dass sich unter dem Asphalt eine Kanalisation befindet, die Erneuert werden muss. Das kann man den Menschen aber nur schwer erklären, die rasche Resultate sehen wollen. Somit haben wir sehr viele Projekte und wenden uns damit an alle internationalen Partner, wobei wir bereit sind, gewisse Projekte auch zu einem Drittel mitzufinanzieren."



Für Investitionen hat die Stadt selbst nur umgerechnet 25 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung; andererseits zählt die reine Stadtverwaltung ohne kommunale Betriebe 1.200 Beamte; das soll sich ändern, versichert der Wirtschaftsstadtrat von Mariupol, Juri Kampow:



"Durch Personalabbau wollen wir von der Quantität zur Qualität übergehen. Dadurch wollen wir auch die Beamtengehälter erhöhen, um bessere Mitarbeiter zu bekommen. Wir werden auch Studenten eine Chance bieten, die in der Stadtverwaltung arbeiten wollen, doch hochqualifizierte Experten können wird mit derart niedrigen Löhnen nicht gewinnen. Personalabbau soll uns daher die Möglichkeit geben, Löhne erhöhen zu können." (28)



Zu den langfristig größten Problemen zählt die Demographie; die enorme Überalterung schildert Vizebürgermeisterin Ksenia Suchowa:



"Bis zu 40 Prozent sind Pensionisten. Etwa 250.000 leben in dieser Stadt mit 470.000 Einwohnern und noch zusätzlich 100.000 registrierten Flüchtlingen. Das Altern unserer Stadt hängt aber auch mit der Abwanderung zusammen. Das zeigen unsere Universitäten, die seit Beginn des Krieges viel weniger Studenten zählen. Hinzu kommt das Fehlen von Donezk, das das Zentrum unserer Region war. Daher fehlt heute die Spitzenmedizin. Wir tun alles, damit unserer Bürger dafür nicht in eine andere Stadt fahren müssen. Wir entwickeln hier Einrichtungen zu Krebsbehandlung, für Operationen am Herzen sowie die Urologie. Wir versuchen höhere Lehranstalten aus Donezk anzusiedeln. Diese Projekte finanzieren wir mit, dazu zählen die Juridischen Akademien aus Donezk und Lugansk, die zu einer Donbass-Akademie vereinigt werden, die auch in Mariupol sitzen soll. Ziel ist, dass das intellektuelle Potential nicht abwandert, sondern bleibt und es hier entwickeln." (0'9)



So gut und wichtig all diese Maßnahmen sind, viele werden erst mittel – und langfristig wirksam. Dringend nötig ist humanitäre Soforthilfe, nicht nur für die 50.000 bis 70.000 Binnenflüchtlinge, die tatsächlich in Mariupol leben dürften, sondern auch für die vielen Armen unter der einheimischen Bevölkerung. Formell liegt das Existenzminimum in der Ukraine bei umgerechnet 60 Euro im Monat, doch viele Pensionisten haben nur eine Rente von 40 Euro. Was das für ihr Leben bedeutet, schildert Nadjeschda Astanina, die Leiterin eines Sozialzentrums, so:

                                            

"Es gibt alleinstehende Menschen und Pensionisten, die sich im Monat zwei Kilogramm Buchweizen, zehn Wecken Brot, Sonnenblumenöl, Zwiebel und Karotten kaufen. Das ist alles; mehr können sie sich für ihre Pensionen nicht leisten, von Medikamenten oder Betriebskosten gar nicht zu reden, die diese Menschen ebenfalls bezahlen müssen. Derartigen Menschen versuchen wir zu helfen."



Dazu zählt die Abgabe von Kohle und Kleidung. Besonderes Augenmerk liegt auf der Hilfe für Kinder. … Englisch-Kurse und Nachhilfe, Foto- und Töpferkurse zählen ebenso dazu wie eine kleine Tischlerei und ein Sportplatz. Das Los vertriebener Kinder beschreibt Nadjeschda Astanina so:    



"Viele Kinder verloren ihre gewohnte Umgebung und müssen sich in neuen Gemeinschaften zurechtfinden. Eltern fürchteten sich sogar, ihre Kinder in die Schule zu schicken, weil sie ihnen die Anpassung ersparen wollten und dachten, dass der Krieg schnell endet. Einige Kinder haben daher ein ganzes Schuljahr verloren. Doch jetzt dauert alles schon zweieinhalb Jahre und ein Ende ist nicht absehbar. Daher müssen diese Menschen hier ein neues Leben aufbauen, denn selbst wenn alles gut wird, geht das Leben weiter."



Wohnungsnot und Arbeitsplätze sind die größten Probleme, sogar für viele Flüchtlinge die Arbeit haben, weil das Geld einfach zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. Daher kehren viele in ihre Wohnungen auf prorussische Gebiete zurück. Dort ist vielfach die Lage eher noch schlechter; am schlimmsten ist sie aber für jene Menschen, die an der Frontlinie leben – ohne wirkliche Perspektive, die in Mariupol besser ist. Auf den trotzdem deprimierenden Punkt bringt die Gesamtlage Stephan Schwarz, der für die österreichische Caritas in der Ukraine tätig ist:



"Wir hoffen auf eine Lösung des Konfliktes, aber als humanitäre Hilfsorganisation müssen wir uns damit abfinden, dass wir hier vielleicht für mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in der Gegend hier tätig sein werden müssen."
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