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Reportage von einem Dorf an der Frontlinie

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Berichte Ukraine
500 Kilometer lang ist die Waffenstillstandslinie in der Ostukraine. Sie trennt Familien, Felder, das Wirtschaftsleben, teilt einen Teil des Landes, wo es nie eine Grenze gab. Doch es gibt entlang dieser Linie auch sieben Ortschaften, wo diese Linie nicht mit den Grenzen von Ortschaften zusammenfällt; für die dortigen Bewohner bedeutet das noch zusätzliche Gefahren für ihr Leben, das unter den Bedingungen fast ständiger Verletzungen der Feuerpause und wegen der enorm schwierigen sozialen Lage ohnehin beschwerlich genug ist. Eine dieser Ortschaften hat unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz jüngst im Kreis Donezk besucht; hier sein Bericht:



Lebt die Schule, lebt das Dorf –hört man oft in der Ostukraine. Die Schule des Ortes Granitne war auch am Höhepunkt des Krieges nicht geschlossen. Drastisch gesunken ist aber die Zahl der Schüler seit Kriegsbeginn vor fast drei Jahren – von 300 auf 145. Sieben Schüler und zwei Lehrer haben täglich einen lebensgefährlichen Schulweg. Denn Granitne liegt 70 Kilometer von der Hafenstadt Mariupol entfernt am Fluß Kalmius, der die Waffenstillstandslinie bildet. Doch der Ortsteil Stara Mariwka liegt auf der anderen Seite des Flusses, gehört aber zum Gebiet das die Ukraine kontrolliert. Keine der zwei Lehrerinnen wollte ein Interview geben; doch die Leiterin des Kindergartens und Gemeinderätin in Granitne, Marija Tschurman,  schildert, was dieser Schulweg bedeutet:



"Die Brücke ist zerstört, und es gibt nur einen kleinen Übergang, der nur für Fußgänger, Fahrräder und Mopeds reicht, nicht aber für größere Transporte. Dorthin müssen auch die Schüler etwa einen Kilometer gehen. Das ist sehr gefährlich, weil sie der Waffenstillstandslinie entlang gehen müssen, die am Fluß verläuft. Es gab Augenblicke, wo sie sich in Deckung werfen mussten. In Stara Marikwa gibt es auch Kinder, die in den Kindergarten gehen sollten, doch das lassen die Eltern nicht zu.“



Der Ortsteil Stara Marikwa liegt praktisch im Niemandsland; der letzte Kontrollposten der Ukraine liegt am Ortsrand von Granitne in der Nähe des Flusses Kalmius; der erste Posten der prorussischen Kräfte ist etwa drei Kilometer entfernt von Stara Mariwka, wo noch etwa 150 Personen wohnen. Ihre Bewegungsfreiheit ist besonders eingeschränkt, doch Probleme haben auch die übrigen Bewohner von Granitne, die Marija Tschurman so beschreibt:



"Die Menschen können ihre Felder nicht bestellen, weil ein Teil davon vermint oder von Blindgängern überseht ist. Ein anderer Teil ist militärisches Sperrgebiet. Zwar gibt es auch Felder, die entmint werden könnten, doch das tut niemand, und die Menschen selbst können es nicht. Hinzu kommt, dass auch die Haustiere nicht auf die Weide können, weil die Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist; der Viehbestand ist daher schon drastisch gesunken. Denn man kann auch kein Gras schneiden, um Futter und Stroh zu haben."



Vor Kriegsbeginn zählte Granitne insgesamt 4000 Bewohner; am Höhepunkt des Krieges waren es weniger als die Hälfte, jetzt sind es wieder knapp 2900; praktisch jeder Dritte ist ein Pensionist, die Rente beträgt nur umgerechnet 45 Euro im Monat. Noch härter ist das Los behinderter Menschen, betont Marija Tschurman:



"Invalide brauchen vor allem Rollstühle; doch wir brauchen auch Gehilfen und vor allem Windeln für alte, bettlägerige Menschen; Medikamente sind ein Dauerproblem."



In Granitne gibt es eine Ambulanz mit zwei Ärzten; der zweite Stock der Ambulanz weist starke Kriegsschäden auf und ist weitgehend verschimmelt; ein weiteres großes Problem ist die Versorgung mit sauberem Trinkwasser und das Fehlen von Arbeitsplätzen. Internationale Organisationen wie das UNHCR leisten Wiederaufbauhilfe; andere Organisationen bringen Medikamente und Lebensmittel. Am schlimmsten ist aber wohl das Fehlen jeglicher Perspektive, denn ein dauerhafter Frieden ist in der Ostukraine nicht in Sicht.









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