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Reportage aus Lugansk und Umgebung

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Berichte Ukraine
Fast zwei Jahre nach dem Beginn des Krieges herrscht in der Ostukraine noch immer kein Frieden. Die Feuerpause entlang der 500 Kilometer langen Waffenstillstandslinie wird immer wieder gebrochen, einmal mehr, einmal weniger. Aus dem Bewegungskriegs des Jahres 2014 wurde ein Stellungskrieg mit Feuergefechten von Artillerie, gepanzerten Fahrzeugen und Schusswaffen. Die Feuerpause ist somit brüchig, während in der weißrussischen Hauptstadt Minsk mit nur mäßigem Erfolg über eine politische Lösung verhandelt wird. Mehr geschossen wurde auf dem Gebiet um die prorussische Rebellen-Hochburg von Donezk, ruhiger ist es entlang der Waffenstillstandslinie der sogenannten Volksrepublik von Lugansk, ganz im Osten der Ukraine. Während aber Donezk noch über ukrainisches Territorium erreichbar ist, werden die beiden großen Übergänge von Lugansk wieder geschlossen. Die Stadt spürt natürlich die Folgen von Krieg und Ukraine-Wirtschaftsembargo und ist mit russischer Hilfe bestrebt, die Schäden zu beseitigen und die Lebensbedingungen der Bewohner zu verbessern. Gleichzeitig ist die Führung der sogenannten Volksrepublik von Lugansk bestrebt, auch militärische Stärke gegenüber der Ukraine zu demonstrieren. Unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz hat jüngst wieder Lugansk besucht und folgenden Beitrag aus dieser Stadt zwischen Perspektivenlosigkeit und dem Streben nach Normalität gezeichnet:

Im April hielten die Soldaten der sogenannten Volksrepublik von Lugansk wieder ein Manöver ab; zum Einsatz kamen sogar schwimmfähige gepanzerte Fahrzeuge, mit denen ein rascher Flussübergang geübt wurde. Binnen weniger als zwei Jahren wurde aus schlecht ausgerüsteten Landsknechten - wohl auch mit russischer Hilfe - eine disziplinierte Truppe. Am Fluss „Serverskij Donezk“ liegt gegenüber der Ortschaft Stanica Lugansk der wichtigste Übergang entlang der Waffenstillstandslinie. Dieser Übergang wird immer wieder von der ukrainischen Seite gesperrt, angeblich um die Sicherheit von Zivilisten nicht zu gefährden. Auf der prorussisch-kontrollierten Seite der Brücke versieht Nikolaj Kuzmin seinen Dienst am Kontrollposten der Rebellen. Er stammt aus Stanica Lugansk und war vor dem Krieg Förster; die Bedeutung des Übergangs beschreibt er so:

"Bis zu 4.500 Personen passierten hier pro Tag den Übergang von beiden Seiten; das wichtigste dabei war, dass die Menschen aus Lugansk kamen, um ihre ukrainischen Pensionen abzuholen. Das hat der ukrainischen Verwaltung nicht geschmeckt, weil die Bankomaten sogar viermal am Tag nachgefüllt werden mussten, so groß war der Andrang der Pensionisten. Daher kam es von ukrainischer Seite zu einigen Provokationen, auf die wir aber nicht reagiert haben, weil der Übergang für die Zivilbevölkerung so wichtig ist. Trotzdem hat ihn dann die ukrainische Seite geschlossen."

Kuzmin gibt an, dass hier nur die ukrainische Seite ständig die Feuerpause verletzte, eine Behauptung, die sich nicht überprüfen lässt. Der Kontrollposten ist keine 20 Kilometer von

Lugansk entfernt. Die Stadt liegt weiter von der Frontlinie weg als Donezk und daher nicht unter Beschuss. Chefunterhändler der sogenannten Volksrepublik von Lugansk bei den Friedensgesprächen in Minsk ist Viatcheslav Denego; er ist nicht der Meinung, das Minsk keine positiven Resultate gebracht hat; Viatscheslav Denego:  

"Dieser Eindruck, dass gar nichts funktioniert, den kann man bekommen, wenn man sich nur die Zahlen anschaut. Im Februar 2015 als es einen ziemlich heftigen Beschuss gab, hatten wir an der Waffenstillstandslinie zwischen 140 und 200 Fälle pro Tag. Jetzt kommt es zeitweise zu 400 Verletzungen des Waffenstillstandes pro Tag; das gilt für Donezk, bei uns ist es ruhiger. Hauptsächlich passiert das jetzt mit Schusswaffen und mit Granatwerfern; somit ist die Gefahr für die Bevölkerung deutlich gesunken. Dass Minsk überhaupt nicht funktioniert, kann man nicht sagen, denn es ist doch deutlich ruhiger geworden."

Das stimmt, und das zeigt sich auch in den Straßen von Lugansk, das während des Krieges eine Geisterstadt war. Der Verkehr hat deutlich zugenommen, immer mehr Restaurants und Kaffees haben geöffnet; am Markt im Zentrum herrscht reges Treiben, Schulen und Universitäten sind wieder in Betrieb. Zur Bevölkerungsentwicklung sagt der Bürgermeister von Lugansk, Manolis Pilawow:

„Die Menschen kehren wirklich zurück; das zeigen Kindergärten und Schulen; seit Beginn des Schuljahres am 1. September haben wir 300 Schüler mehr; somit sind etwa 300 Familien zurückgekehrt. Bei den Kindergärten haben wir einen Zuwachs von etwa 400 Kindern. All das spricht für eine stätige Rückkehr. Vor dem Krieg lebten in Lugansk 465.000 Einwohner; jetzt sind es etwa 430.000. Das heißt aber nicht, dass nur 30.000 Mitbürger fort sind. Ich schätze diese Zahl auf etwa 70.000; doch wir haben eine Zuwanderung aus anderen Gebieten; daher haben wir jetzt in Lugansk wieder etwa 430.000 Einwohner. Auf diese Zahl kommen wir auch durch die statistische Daten über den Verbrauch von Brot pro Tag.“  

Ein Wecken Brot kostet in Supermärkten zwischen 7 und 30 Rubel, also zwischen 10 und 40 Eurocent. Grundnahrungsmittel stammen vielfach aus lokaler Produktion; alles weitere kommt fast nur mehr aus Russland und Weißrussland. Ukrainische Waren sind fast verschwunden, bezahlt wird nur mehr mit russischem Rubel, beides ein Ergebnis der Wirtschaftsblockade, die Kiew über die Rebellengebiet verhängt hat. Diese Blockade und die Zerstörungen durch den ukrainischen Beschuss lasten massiv auf Lugansk; dazu sagt Bürgermeister Manolis Pilawow

„In der Stadt haben wir 98 Großbetriebe. Davon arbeiten heute 71; doch das heißt nicht, dass alles gut ist in der Stadt. Denn einige Firmen arbeiten nur mit 25 Prozent Auslastung, andere mit 15 oder 70 Prozent. Die Auslastung, die wir bis zum Krieg hatten, gibt es heute nicht. Zu den Problemen zählt, dass viele Komponenten von ukrainischer Seite zugeliefert wurden, die wir wegen der Blockade heute nicht bekommen. Somit ist die Blockade zweifellos ein Schlag für unsere Wirtschaft, aber in gewissem Ausmaß auch ein Bumerang für die Wirtschaft der Ukraine.“  

Ein Beispiel dafür bildet die Firma „Marschal“, die Armaturen für Gas- und Wasserleitungen erzeugt. Vor dem Krieg kamen die Rohstoffe aus der Ukraine, jetzt kommen sie aus Russland. Vor dem Krieg arbeiteten in der Fabrik 1.200 Mitarbeiter, jetzt sind es 600 und das nur vier Tage die Woche. Die Löhne sanken von umgerechnet 500 auf 80 US-Dollar im Monat. Vor dem Krieg gingen 25 Prozent der Produkte in die Ukraine; durch die Wirtschaftsblockade ist dieser Markt nun versperrt; 65 Prozent exportierte „Marschal“ nach Russland; doch auch dort wirkte sich die kriegsbedingte, sechsmonatige Schließung des Werks aus, erläutert Generaldirektor Sergej Obrosenko:  

"Diese kriegsbedingte Absenz hat sich auf den Verkauf ausgewirkt. So hat sich der Umfang der Produktion im Vorjahr praktisch halbiert. Das ist aber natürlich auch eine Folge der aktuellen politischen Lage. Unser Ziel ist es daher, heuer wieder voll auf den russischen Markt zurückzukehren."

Marschal produziert dank niedrigerer Löhne billiger als in Russland, daher gibt es realistische Chancen, wobei natürlich ukrainische Ursprungszeugnisse verwendet werden müssen, weil auch Russland die sogenannte Volksrepublik von Lugansk nicht anerkannt hat. Wer bei dieser Firma Arbeit hat, kann sich glücklich schätzen; denn die Arbeitslosigkeit ist hoch, und völlig ungewiss ist, was aus diesen Rebellengebieten werden soll. Auf den Punkt bringt das Gefühl allgemeiner Unsicherheit die Hausfrau Elena:

„Es gibt nur sehr wenig Arbeit. Die Menschen können keine anständige Arbeit finden, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Was sein wird, ist unklar. Ich weiß es nicht.“

Elena arbeitet zu Hause als Näherin: sie lebt mit ihrer achtjährigen Tochter und mit ihrem Mann Vitali in einem sechsstöckigen Wohnhaus, fünf Autominuten vom Zentrum entfernt. Die Familie und ihre Nachbarn lernte ich Anfang August 2014 kennen, als wir ins belagerte Lugansk durchkamen, und Opfer des Krieges suchten. Das Wohnhaus der Familie war durch einen Artillerietreffer schwer beschädigt. Das Dach hat die Stadt mittlerweile repariert; einige Bewohner legten auch selbst Hand an; doch in Elenas kleiner Wohnung ist ein Teil der Decke im winzigen Bad noch immer schwer beschädigt. Dazu sagt ihr Mann Vitali:

„Wenn man mir Baumaterial geben würde, würde ich das selbst reparieren; denn ich bin selbst Bauarbeiter; doch bisher bekam ich nichts.“

Und wie sieht Vitali zwei Jahre nach Beginn des Konflikts das Verhältnis zu Kiew?

„Ich will nicht die Westukraine generalisieren; teilwiese waren das normale Menschen; doch die Mehrheit ist gegen uns, weil wir nicht Ukrainisch sondern Russisch sprechen, nur deshalb mögen sie uns nicht.“

Diese Stimmung ist kein Einzelfall; die Artillerieangriffe, die dominanten russischen Medien und die Blockade durch Kiew haben die Abneigung weiter verstärkt. Generell ist Lugansk bestrebt, so unabhängig wie möglich von der ukrainischen Seite zu werden; ein Beispiel nennt Bürgermeister Manolis Pilawow:

"Früher bekamen wir etwa 70 Prozent des Wassers von der ukrainischen Seite; jetzt sind es weniger als 30 Prozent. Wir haben unsere Quellen erneuert, die vor dem Krieg geschlossen waren. Im Herbst wollen wir unsere Filterstation eröffnen, dann sollte die Wasserversorgung rund um die Uhr gesichert sein. Derzeit leiden unter Wasserknappheit der Osten und Teile des Zentrums; dort haben wir Wasser nur jeweils vier Stunden in der Früh und am Abend."

Umgangen wird auch das ukrainische Finanzembargo, und zwar mit Hilfe der von Georgien abtrünnigen Provinz Südossetien; dazu sagt Manolis Pilawow:

"Das Bankensystem ist eines der wichtigen Probleme; doch die Volksrepublik von Lugansk hat Südossetien anerkannt, und über deren Bank arbeiten wir. Das ist natürlich sehr schwierig und unangenehm, weil es nur eine Bank gibt. Doch es gibt eben einen Ausweg, weil man Geld nicht mit Koffern transportieren kann. Diese Bank ist heute unsere Rettung, wobei wir Pensionen und Sozialhilfen heute über Bank und Post auszahlen."

Völlig klar ist, dass sich Lugansk und Donezk gegenüber der Ukraine ohne massive Hilfe aus Russland nicht behaupten könnten. Diese Hilfe reicht vom Baumaterial über Lehrbücher, humanitäre und finanzielle Hilfe wohl auch bis zur Militärhilfe. Doch Russland hat selbst wirtschaftliche Probleme und trotz auch internationaler Hilfe etwa durch das Rote Kreuz ist die Lage in vielen Spitälern triste; und noch trauriger ist sie außerhalb von Lugansk. Ein Beispiel ist das Kreisspital von Novosvetlovska, etwa 20 Kilomater entfernt. Im Krieg wurde es durch Gefechte schwer beschädigt, die medizinischen Geräte zerstört oder geplündert. Das Gebäude ist nun wieder weitgehend aufgebaut; die Abteilung für verlassene alte Menschen und für Waisenkinder ist wieder in Betrieb; die neurologische Abteilung arbeitet bereits seit acht Monaten; ihre Lage beschreibt der medizinische Leiter der Neurologie Alexander Majutschufsin so:

„Den Medikamentenbedarf können wir zu etwa 50 Prozent decken; bei der Versorgung mit Essen haben wir keine Probleme, doch es gibt praktisch keine medizinischen Apparate zur Behandlung. Dazu zählen Geräte zur Rehabilitation ebenso wie einfache Bette und Bettzeug; vieles von all dem wurde beim Beschuss zerstört.“

Geschossen wird derzeit nur an der Waffenstillstandslinie. Die Menschen im Hinterland müssen zwar nicht mehr viele Tage und Nächte in Kellern verbringen, doch der tägliche Kampf um ein normales Leben, um Normalität ohne klare Perspektive ist auch schwer genug. Diesem Wunsch nach Normalität tragen Theater und Kinos Rechnung, die wieder geöffnet sind; dazu zählt auch die Wahl zur Miss Universität Lugansk, die Mitte April zum ersten Mal wieder stattgefunden hat. Der Eintritt kostete umgerechnet 30 Eurocent; 300 jugendliche Zuschauer kamen, neun Bewerberinnen traten an. Schließlich siegte die 17-jährige Julia Tscherkasowa:  

"Ehrlich ich denke gar nicht an eine Karriere als Modell; ich möchte, dass mein ganzes Leben mit Sport verbunden ist. Ich möchte Fitnesstrainerin werden, das ist mein großer Traum."

Die Sportstudentin hat noch fünf Jahre Universität zu absolvieren, doch ein Fitnessstudio gibt es bereits wieder in Lugansk. Der Traum des Mädchens sollte erfüllbar sein; in welchem Staat Julia Tscherkasowa dann Trainerin sein wird, ist derzeit völlig offen. Denn in Minsk haben sich die Konfliktparteien noch nicht einmal auf die Durchführung von Lokalwahlen in Donezk und Lugansk einigen können, die aber auch viel schwieriger zu organisieren sind als eine Miss-Wahl in Lugansk.  

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