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48 Tote in Odessa und weiter keine Aufklärung

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Der zweite Mai 2014 ist der bisher blutigste in der Geschichte des ukrainischen Hafenstadt Odessa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. An diesem Tag vor genau einem Jahr starben bei Zusammenstößen zwischen prorussischen und proukrainischen Demonstranten 48 Personen. Die meisten von ihnen kamen beim Brand im sogenannten Haus der Gewerkschaften neben dem Bahnhof um, wo auch die größte Zeltstadt der prorussischen Demonstranten angesiedelt war. Die Ereignisse in Odessa beflügelten auch die prorussischen Bewegungen in der Ostukraine, in den Bezirken Donezk und Lugansk, die vor einem Jahr bereits weitgehend von prorussischen Kräften kontrolliert wurden. Bis heute spielen die 48 Toten in Odessa auch im Medienkrieg zwischen der Ukraine und Russland eine wichtige Rolle. In Odessa ist unser Korrespondent Christian Wehrschütz, der den folgenden Bericht zu Ursachen, Hintergründen und dem Stadt der Ermittlungen im Fall Odessa gestaltet hat:

Etwa 20 Meter vor dem ausgebrannten Haus der Gewerkschaften erinnern Bilder, Blumen und ein kleines Kreuz an die Opfer, die hier am Abend des 2. Mai zu Tode kamen. Der Platz ist von der Polizei gesperrt, doch Verwandte und Freunde dürfen passieren, um der Toten zu gedenken. Ihren Ausgang nahmen die Ereignisse aber nicht hier am Kulikowo Pole, sondern im Zentrum, wo es am Nachmittag das erste Todesopfer gab. In Odessas Hauptstraße, der Derebasowskaja Ulica, wurde ein 27-jähriger proukrainischer Aktivist erschossen. Amateurvideos zeigen, dass prorussische Demonstranten, von der Polizei ungehindert auf proukrainische Demonstranten feuerten. Sie waren am 2. Mai sehr stark in Odessa vertreten, weil an diesem Tag das Fußballspiel zwischen Tschornomorez Odessa und Metalist Charkiw stattfand, dessen Fanklub proukrainisch eingestellt ist. Insgesamt starben durch Schüsse sechs Personen, zwei proukrainische und vier prorussische Aktivisten. Die Ausschreitungen verlagerten sich dann zum Haus der Gewerkschaften, zur Zeltstadt der prorussischen Anhänger, die von ihren Gegnern gestürmt wurde. Etwa 300 Personen flüchteten in das Gebäude, das – vermutlich durch Molotow-Cocktails – in Brand geriet. 34 Personen starben im Gebäude, weitere acht stürzten in den Tod. Völlig versagt habe die Feuerwehr, betont die Journalistin Tatjana Gerasimowa:

„Die Feuerwehr kam es nach 45 Minuten, obwohl sie gerade fünf Minuten zu Fuß von hier entfernt ist. Ihr früherer Chef sagte, er konnte kein Feuerwehrauto schicken, weil hier geschossen wurde. Doch hier waren viele einfache Bürger, die Menschen rettenden und auch die Rettung kam. Sie alle hatten Angst, wussten aber, dass etwas getan werden musste. Nur Feuerwehr und Polizei blieben tatenlos und erfüllten ihre Pflicht nicht.“

Tatjana Gerasimowa koordiniert die Gruppe „2. Mai“. Sie umfasst 13 Personen, proukrainische und prorussische Journalisten sowie ehemalige Polizisten und Gerichtsmediziner, die versuchen, die Ereignisse des 2. Mai lückenlos aufzuklären. Die Gruppe „2. Mai“ hat im Internet viele Videos und Dokumente zusammengetragen, während Polizei und Justiz auch bei der Tatortsicherung weitgehend versagten. Tatjana Gerasimowa:

„Völlig unverständlich ist, warum das Haus der Gewerkschaften weiter zugänglich blieb. Der Zaun wurde erst einen Monat später errichtet, und so lange konnte jeder hinein und Beweismittel mitnehmen. Auch die anderen beiden Tatorte waren in den ersten drei Tagen völlig frei zugänglich. Die grundlegenden Beweismittel wurden so einfach vernichtet.“

Völlig unbefriedigend verläuft auch die juristische Aufarbeitung; der ehemalige Polizeichef ist flüchtig, der frühere Chef der Feuerwehr noch nicht zur Verantwortung gezogen. Keiner der proukrainischen Todesschützen steht bisher vor Gericht, vor dem sich bisher nur 20 prorussische Demonstranten wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verantworten müssen. Dabei sprechen die Opferzahlen eine klare Sprache; zwei getöteten proukrainischen Demonstranten stehen 46 prorussische Todesopfer gegenüber. Warum es die Behörden mit der Strafverfolgung proukrainischer Demonstranten in Odessa nicht besonders eilig haben, begründet in Odessa der Politologe und Historiker Artem Filipenko so:

"Für viele proukrainische Bürger Odessas bezeichnet der zweite Mai einen Sieg durch den verhindert wurde, dass Odessa zu einem zweiten Donezk wurde. Daher würden alle Versuche, proukrainische Aktivisten abzuurteilen, negative Reaktionen hervorrufen. Denn es gelang, die separatistische Seuche zu stoppen. Daher ist das nicht nur eine strafrechtliche Frage, sondern auch eine Frage nach der moralischen Verantwortung dieser Personen. Jenseits aller nötigen Untersuchungen ist das Land von einer militärischen Intervention eines Nachbarn betroffen; hinzu kommt ein ernsthafter Konflikt zwischen Bürgern, und in diesem Konflikt muss es einen Sieger geben."

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