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Reportage aus Mariupol

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Berichte Ukraine
In der Ostukraine wird der Waffenstillstand zwischen prorussischen Kräften und ukrainischen Streitkräften weitgehend eingehalten. Ausnahmen davon bilden der zerstörte Flughafen der Rebellen-Hochburg Donezk und die von ukrainischen Truppen gehaltene Stadt Mariupol am Asowschen Meer. In der Stadt selbst ist es zwar ebenfalls ruhig, doch knapp 10 Kilometer östlich von Mariupol liegt ein Dorf, um das beide Konfliktparteien auch weiterhin kämpfen. Massive Zerstörungen blieben der Hafenstadt bisher zwar erspart, trotzdem ist Mariupol auf vielfältige Weise von Krieg betroffen, berichtet aus Mariupol unser Ukraine-Korrespondent Christian Wehrschütz:

Vor dem Krieg war Mariupol eine der wichtigsten Industriestädte des Donezbeckens; ein Drittel der Industrieproduktion des Kreises von Donezk entfiel auf die Hafenstadt; ihr Stadtbild prägen drei Kombinate, die dem Oligarchen Rinat Achmetow gehören. Sie produzieren Stahl und verarbeiten Metall auf nicht gerade besonders umweltfreundliche Weise. Das zweite große Standbein war der Maschinenbau, der vom Krieg noch mehr getroffen ist als die Stahlindustrie; warum – erläutert in Mariupol der Direktor des Instituts für Wirtschaft und Management Roman Tolpeschnikow so:

„Russland führt einen Wirtschaftskrieg gegen ukrainische Erzeuger, denn der Mark ist versperrt. Von 11.000 Arbeitern im Wagonwerk Asowmasch sind nur mehr 1000 tatsächlich beschäftigt; das heißt jeder 11. Somit ist die Arbeitslosigkeit ein großes Problem für die Stadt. Anderseits haben auch die großen metallverarbeitenden Betriebe wegen des Krieges große Probleme mit der Logistik. Der Hauptlieferant von Koks für die Stahlproduktion liegt in der FronTstadt Awdeewka, doch wegen des Krieges ist der Eisenbahntransport sehr kompliziert. Somit ist die Zulieferung von Rohstoffen ein sehr großes Problem.“

Wie in so vielen ukrainischen Städten ist auch in Mariupol die Demographie ein großes Problem. Mehr als jeder Vierte der 470.000 Einwohner ist ein Pensionist, nur jeder siebente Bewohner ist jünger als 18 Jahre. Nach Angaben des Sozialamtes beherbergt die Stadt derzeit 65.000 Binnenvertriebene aus anderen Teilen des Donezbeckens und natürlich aus dem umkämpften Nachbardorf Schirokino. Nur 400 dieser Flüchtlinge leben in Lagern, und zwar auch deshalb, weil es zu wenige Unterkünfte gibt, die die Stadt zur Verfügung stellen kann. Viele Vertriebene sind auf Hilfe angewiesen, die lokale und internationale Organisationen leisten. Die Verteilung organisieren die Sozialämter der vier Bezirke; eines leitet Valentina Olijnik, die die Bedürfnisse der Flüchtlinge so beschreibt:

„Natürlich stehen Lebensmittel an erster Stelle; doch aus Schirokino sind die Menschen nur mit dem geflohen, was sie am Leibe trugen. Daher muss man diese Menschen einkleiden und dann zunächst irgendwo unterbringen, bis sie eine Wohnung gefunden haben oder bei Verwandten untergekommen sind.“

Olijjniks Sozialzentrum liegt im Osten der Stadt; Beim Artilleriebeschuss dieses Bezirks starben Ende Jänner mindestens 15 Personen, mehr als 70 wurden verletzt. Dazu zählt der 26-jährige Wasilij, der durch ein Schrapnell am Fuß schwer verletzt wurde:

„Der schlimmste Moment war, als ich nach der Explosion wieder zu mir kam. Das Bild, das ich dann sah, war für mich wirklich sehr schrecklich. Das zu sehen, wünsche ich niemandem. Da habe ich schon mit meinem Leben abgeschossen. Doch die Rettung kam zur rechten Zeit; wäre sie 15 Minuten später eingetroffen, würde ich das Interview hier wahrscheinlich nicht geben.“

Bei der Verarbeitung des schrecklichen Erlebnisses helfen ihm im Krankenhaus Psychologen, die der Hilfsfonds des Oligarchen Rinat Achmetow zur Verfügung stellt. Wasilij macht am Krankenbett noch immer einen traumatisierten Eindruck. Dabei hatte er noch Glück, denn seine Mutter verlor durch den Beschuss beide Beine. Wasilij wird noch zwei Monate im Krankenhaus bleiben müssen und vielleicht in fünf Monaten wieder im Kombinat Asowstahl arbeiten können. Auch das zeigt, wie hoch – abgesehen vom menschlichen Leid, die sozialen Folgekosten des Krieges für Mariupol und die Ukraine sind und sein werden.

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