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Die Ukraine: Zwischen Majdan, Krim-Krise und Krieg

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Geschichte im Zeitraffertempo – das beschreibt die Dynamik der Ereignisse am besten, die sich in der Ukraine in noch nicht einmal einem Jahr ereignet haben. Heute finden vorzeitige Parlamentswahlen statt; dazwischen liegen die Massenproteste in Kiew, der Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch, die Krim-Krise, der Krieg in der Ostukraine; die vorgezogene Präsidentenwahl und der Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeuges. Hinzu kommen Tausende Tote, Hunderttausende Flüchtlinge und Binnenvertriebene in der Ukraine und in Russland, enorme materielle Schäden sowie die stärkste Belastung der Beziehungen zwischen Kiew, Moskau, Brüssel und Washington seit dem Ende des Kalten Krieges vor 25 Jahren.

Mir wird fast schwindlig, wenn ich daran denke, wo ich überall war, und wie ich dort überall hingekommen bin; in der Regel über löchrige Straßen, an vielen Straßensperren prorussischen Rebellen und ukrainischer Truppen vorbei. Wir waren stets zu dritt; Kameramann Wasilij und Fahrer Igor mit seinem ukrainischen Auto, dessen Starter kaputt ist und das nur im zweiten Gang mit Anlauf anspringt. Vier Patschen und einer herausgeflogenen Bremsscheibe zum Trotz ließ uns das Glück nie im Stich. Wenn es brenzlig wurde, hatte das Auto nie Probleme, etwa beim Begleitfeuer durch ein Maschinengewehr bei der Einfahrt nach Donezk oder als die Rebellen auf derselben Straße über uns hinweg Stellungen ukrainischer Truppen beschossen.

Der Weg in den Krieg begann für die Ukraine Ende November des Vorjahres; unter dem wirtschaftlichen Druck Moskaus und leerer Kassen daheim weigerte sich Präsident Viktor Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Diese politische Kehrtwende führte zur Majdan-Bewegung. Ihr Ziel wurde immer mehr Janukowitschs Sturz, dessen „Familie“ an Korruption selbst in der Ukraine alles bisher Dagewesenene in den Schatten stellte; während „Babuschkas“ in den Zeltstädten Demonstranten und militante Fronkämpfer bekochten, finanzierte auch Oligarchen, die sich mit Janukowitsch überworfen hatten, die Bewegung, darunter der Schokolade-König, Petro Poroschenko; der einstige Parteigänger Janukowitsch wurde Ende Mai zu dessen Nachfolger gewählt.

Blutiger Höhepunkt des Majdan waren 88 Tote binnen 48 Stunden, viele davon Opfer von Scharfschützen, deren Auftraggeber bis heute eigentlich im Dunkeln liegen. Doch auch Polizisten ließen ihr Leben, eine Umstand, der vor allem in der Ostukraine Beachtung fand, aus der viele „Berkut-Sonderpolizisten stammten. Von nun an ging es Schlag auf Schlag; 21.Februar, Vereinbarung über einen friedlichen Machtwechsel mit drei EU-Außenministern als Paten. Am späten Nachmittag sind keine Polizisten mehr im Zentrum zu sehen; mir ist klar, diese Gelegenheit werden sich die radikalen Oppositionskräfte nicht entgehen lassen. Am 22. wird Janukowitsch abgesetzt; er flieht über die Krim nach Südrussland.

Der staatsstreichartige Sturz hat Folgen; fünf Tage später übernehmen Moskau-treue Kräfte auf der mehrheitlich von Russen bewohnten Halbinsel Krim die Macht. Der Zug Richtung Anschluss beginnt zu rollen, mit Hilfe einer Propaganda-Welle, Putins „Grünen bewaffneten Männchen“ und Kosaken - und mit Hilfe politischer Dilettanten in Kiew, die durch die schließlich doch nicht erfolgte Einschränkung des Russischen als Regionalsprache zusätzlich Öl ins Feuer gießen. Am 28. Februar lande ich in der Hauptstadt Simferopol. Zum Glück finde ich ein gutes lokales Drehteam; wir berichten rund um die Uhr; nur drei Tage gehören der Familie, weil meine jüngere Tochter am 11. März am Mondsee heiratet. Am 12. gelingt die Rückkehr nur mehr mit dem Nachtzug aus Odessa, weil die Flüge von Kiew nach Simferopol bereits gestrichen sind. Russische Sonderpolizisten filzen streng, die Euros für das Drehteam finden sie nicht, die ich in meinen Socken versteckt habe. Das Referendum am 16. März bringt den Jubel bei der Masse der Bevölkerung, deren Mehrheit auch mit Ja gestimmt hätte, wäre die Abstimmung wirklich demokratisch gewesen. Ein Grund dafür: die Angst vor einem Bürgerkrieg in der Ostukraine.

Lugansk und Donezk, wo ich 22 Jahr zuvor einen Russisch-Kurs absolvierte, werden die neuen Brennpunkte im ukrainischen Drama. Aus Protesten, werden Zusammenstöße, am Ende steht das Wort Krieg! Die prorussischen Kräfte werden immer sichtbarer aus Russland und von Russen unterstützt. Im Juni drehe ich meine erste Flüchtlingsgeschichte; das menschliche Elend wird immer größer, gemildert von der enormen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und der warmen Jahreszeit.

Am 17. Juli erreicht mich in Kiew die Meldung, dass ein malaysisches Passagierflugzeug über der Ostukraine abgestürzt ist; sofort wird über einen Abschuss der MH 17 spekuliert. 30 Stunden später bin ich am Absturzort; überall liegen Leichen und menschliche Überreste, Verwesungsgeruch liegt in der Luft. Die 298 Toten führen zu einem Medienkrieg ungeahnten Ausmaßes, der bis heute von allen Seiten mit allen Mitteln (Bildfälschung, facebook, Twitter, youtube) geführt wird.

Nach dem Abtransport der Leichen beginnt die ukrainische Sommer-Offensive; Donezk und noch viel mehr Lugansk werden zu Geisterstädten; zwei Mal fahren wir in die umkämpfte Stadt. Kein Wasser, kein Strom, immer weniger Lebensmittel, immer mehr Ausgebombte. Aus Lugansk flieht die Hälfte der 450.000 Bewohner; Ende August führt das militärische Eingreifen Russlands zum Zusammenbruch der Offensive. Anfang September wird in Minsk der Waffenstillstand unterzeichnet; seitdem sind mehr als 350 Todesopfer durch Beschuss und Kämpfe zu beklagen. Die Zeche zahlen Zivilisten; Pensionisten pendeln mit Kleinbussen auf ukrainisches Territorium, um Renten von 70 Euro abheben zu können, weil der Zahlungsverkehr eingestellt ist. Ein Großteil der Wirtschaft ist zusammengebrochen; die Ukraine muss Kohle importieren; die EU, die Janukowitsch die kalte Schulter zahlte, wird mit dem IWF wohl auch die Gasrechnungen übernehmen müssen, damit es auch bei uns warm bleibt.

Der Winter naht, eine friedliche Lösung ist nicht in Sicht. Fraglich ist, ob die Parlamentswahl den Reformen und dem Kampf gegen Korruption neuen Schwung verleihen wird, selbst wenn der Block von Präsident Poroschenko führende Kraft einer Koalitionsregierung werden sollte. Gerüchte besagen, dass aussichtsreiche Listenplätze zwischen 5 und 9 Millionen Dollar kosten; derartige Investitionen wollen durch „parlamentarische Arbeit“ zurückverdient sein. Oligarchen finanzieren Parteien und Kandidaten in Einer-Wahlkreisen, Wahlbetrug dürfte wohl wieder eine große Rolle spielen. Und welche Rollen spielen Akteure von einst; Julia Timoschenko wird wieder ins Parlament einziehen; ihre Glanzzeit ist längst vorbei. Vitali Klitschko ist Bürgermeister von Kiew und Koalitionspartner von Petro Poroschenko, eine politische Lichtgestalt ist der ehemalige Boxer nicht, der in Deutschland stets populärer war als in der Ukraine; und Viktor Janukowitsch sitzt wohl weiter im russischen Exil; ob und wie sehr er die prorussischen Kräfte in Donezk weiter finanziert ist offen. Unter seinem Nachfolger ratifizierten Brüssel und Kiew das EU-Abkommen, wie rasch es die ukrainische Wirtschaft nutzen kann, wird sich zeigen. Bleibt der Majdan – als Schöpfungsakt und Mythos für eine Nation, deren Schwäche sie weiter zum Spielball der Großmächte macht. Meine vorläufige Ukraine-Bilanz lautet daher: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.“ (Goethe Faust I)

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