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Flüchtlingslager und die Lage der Flüchtlinge

Sonstiges
Europajournal
Berichte Ukraine
Je länger die Gefechte in der Ostukraine dauern und je heftiger sie werden, desto größter wird auch der Flüchtlingsstrom. Das Flüchtlingshilfswerk der UNO hat bereits 15.000 Flüchtlinge registriert, und täglich werden es mehr, wobei die Dunkelziffer noch weit größer ist, weil sich viele Personen gar nicht registrieren lassen. Viele Flüchtlinge sind bisher bei Verwandten in anderen Landesteilen untergekommen, doch es gibt auch bereits Flüchtlingslage, in denen vor allem Bewohner aus der Stadt Slawjansk und anderen umkämpften Gebieten in den Bezirken Donezk und Lugansk Zuflucht gefunden haben. Ihre Nachbarbezirke bereiten sich jedenfalls bereits auf ein massives Ansteigen der Flüchtlingszahlen vor. Eines der Lager hat unser Korrespondent Christian Wehrschütz besucht.‎ Er hat mit Flüchtlingen, Betreuern und Hilfsorganisationen gesprochen und den folgenden Beitrag über diese Hauptbetroffenen der Krise in der Ukraine gestaltet, deren Schicksal bisher in Europa kaum Beachtung gefunden hat, obwohl die Folgen der Flüchtlingswelle der Ukraine noch lange zu schaffen machen werden.

Die 60.000 Einwohner zählende Stadt Kubjansk liegt im Bezirk Charkiw im Grenzgebiet zu den umkämpften Nachbarbezirken Donezk und Luganks. Wenige Kilometer von Kubjansk entfert liegt das Ferienheim Prometej, das im Sommer Waisenkindern der Stadt zur Erholung dient. Darauf mussten die Kinder heuer verzichten, denn seit Anfang Juni sind in Prometej 180 Flüchtlinge aus der Stadt Slowjansk untergebracht. Slowjansk liegt an der Straße, die von Donezk nach Charkiw führt. Vor Beginn der Kämpfe vor einigen Monaten zählte Slowjansk knapp 120.000 Einwohner, die Mehrheit von ihnen ist mittlerweile geflüchtet. Dazu zählt auch Lida Kanezkaja, die nun in Prometej eine sichere Unterkunft gefunden hat. Ihre Lebensumstände in Slowjansk schildert Lida Kanezkaja so:

"Schon fast zwei Monate sind die kleinen Geschäfte bei uns geschlossen, weil ihre Eigentümer Angst vor den Granaten haben. Ein Geschäft in der gefährlichen Zone hatte aber offen. Dort sind wir alle hingegangen. Das Brot hat nicht gereicht, weil die Bäckerei zerbombt wurde und die Zufahrtsstraßen geschlossen sind. Daher musste Brot aus einer anderen Stadt hergebracht werden. Eingekauft habe ich, wenn es ruhig war, meistens für zwei, drei Tage, um so wenig wie möglich aus dem Haus gehen zu müssen.“

Lida floh mit ihrer Tochter Vera und deren kleinen Sohn aus ihrem Haus. Das Mädchen kann weder hören noch sprechen. Mitnehmen konnten die Drei nur einen Koffer. Zurückgeblieben ist in Slowjansk allerdings Lidas Mutter. Dazu sagt Lida Kanezkaja:

"Meine Mutter ist Veteranin des Zweiten Weltkrieges; sie kann nur noch zu Hause herumgehen. Sie wollte nicht fort und hat gesagt, ich werde zu Hause sterben. Ich habe alle Nachbarn, die noch da sind, gebeten, auf meine Mutter zu schauen. Sie steht bereits mit einem Bein im Grab, doch das Kind kann leben, daher bin ich mitgegangen.“

Das Ferienlager Prometej ist ein idyllischer Ort. Es liegt in einem Waldgebiet an einem schönen See, verfügt über ein Kino und Spielplätze. Im Lager gibt es eine Ärztin und das nächste Krankenhaus ist keine zehn Kilometer entfernt. Die Meisten Flüchtlinge sind Frauen mit kleinen Kindern. Für ihre Versorgung ist gesorgt; doch es gehe auch darum, das Warten auf die Rückkehr erträglicher zu gestalten, betont die Ärztin Ljudmila Starawerowa:

"Ein Arzt muss auch Psychologe sein; daher spreche ich viel mit ihnen, beruhige sie, und binde sie auch in die Arbeit ein. So helfen uns die Flüchtlinge in der Küche und natürlich arbeite ich auch mit den Kindern."

Trotz der Kämpfe und der unklaren Machtverhältnisse im Bezirk Donezk bemühen sich die lokalen Behörden so gut es eben geht, einen sicheren Abtransport der Zivilisten aus der Gefahrenzone zu gewährleisten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ukraine gar nicht auf Flüchtlingsströme vorbereitet war und viele Bezirke und Gemeinde auch materiell in einem ärmlichen Zustand sind. Dazu sagt in Kiew der Leiter des UNHCR, des Flüchtlingskommissariats der UNO, Oldrich Andrysek:

„Einige Behörden haben nicht einmal Papier oder genügend Geld, um telefonieren zu können. Daher kaufen wir Telefonwertkarten, stellen Papier und Druckerpatronen den Sozialämtern zur Verfügung, damit sie überhaupt arbeiten und mit uns in Kontakt bleiben können. Das klingt sonderbar, doch in vielen Regionen haben lokale Verwaltungen nicht einmal genügend Mittel für ihre eigenes Funktionieren.“

Das UNHCR berät auch die Bezirke, die sich für einen möglichen Massenansturm wappnen müssen. Recht gut funktioniert das im Bezirk Dnipropetrowsk, der im Norden an Donezk grenzt. Dessen stellvertretender Gouverneur, Boris Filatow, schildert die Vorbereitungen so:

"Wir haben uns mit allen Bürgermeistern getroffen; sie befassen sich damit, mögliche Orte für die Unterbringung von Flüchtlingen zu erfassen. Dazu zählen Pionierlager, Touristen- und Studentenheime sowie leere Häuser. Denn zunächst werden die Menschen ins Zentrum des Bezirks kommen, und dann geht es darum, sie zu verteilen. Derzeit sind aus den Kreisen Lugansk und Donezk etwa 150 Familien zu uns gekommen, also etwa 500 Personen. Durch stärkere Gefechte kann die Zahl der Flüchtlinge ansteigen, und zwar lawinenartig. Kommen jetzt etwa ein Dutzend, so können es binnen zehn Tagen auch schon Tausende sein."

In der Ukraine gibt es keine zentrale Behörde zur Registrierung von Flüchtlingen. Das UNHCR schätzt die Zahl der Flüchtlinge derzeit auf 30.000, erfasst hat es 15.000; etwa zwei Drittel stammen aus der von Russland annektierten Halbinsel Krim; der Rest entfällt auf die Ostukraine, wo die Zahl der Zivilisten ständig steigt, die vor den Kämpfen flieht. Zur ihrer Unterbringung sagt Oldrich Andrysek

„Von den registrierten 15.000 Flüchtlingen lebt die absolute Mehrheit in Sanatorien oder Hotels, die zur Verfügung gestellt wurden. Etwa 30 Prozent sind privat untergekommen, bei Freunden, Verwandten oder Familien. Anders ist die Lage jener, die sich nicht registriert haben. Da schätze ich, dass mehr als 90 Prozent privat untergebracht sind, wiederum bei Gastfamilien, Freunden und Verwandten. Generell wird die Unterbringung aber ein immer größeres Problem, weil jene, die in Sanatorien oder bei Gastfamilien untergebracht sind, dort nicht auf Dauer wohnen können. Diesen Flüchtlingen fehlt eine langfristige Perspektive; viele haben nicht das Geld, um etwas zu mieten. So können Bewohner der Krim ihr Eigentum dort nicht verkaufen, selbst wenn sie wissen, dass sie nicht zurückkehren werden.“

Im Steigen begriffen ist auch die Zahl derer, die aus politischen Gründen aus der Ostukraine abwandert, sprich vor den prorussischen Machthabern flieht. Oldrich Andrysek:

„Die meisten die Donezk verlassen, lassen sich nicht registrieren. Dazu zählen Geschäftsleute, Intellektuelle und viele, die als Anhänger der Ukraine bekannt sind. Das können Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Anhänger der Majdan-Bewegung sein. Eine kleinere Zahl stammt aus dem Bezirk Lugansk. Viele dieser Personen dürften nicht in die Zentral- und Westukraine gezogen sein, sondern in Gebiete, die von keinen größeren Militäraktionen betroffen sind. Diese Menschen haben Verwandte oder ein Wochenendhaus; doch auch diese Gruppe verlässt langsam diese Gebiete je schlechter die soziale Lage wird.“

Und die Lage wird schlechter; in Slowjanks ist wegen der Kämpfe die Wasserversorgung zusammengebrochen, andere Städte leiden zunehmend unter Wassermangel. Bargeld und Treibstoff werden knapp; auch immer mehr Betriebe stellen ihre Arbeit ein. Mit steigenden Flüchtlingszahlen ist zu rechnen, während das UNHCR derzeit nur über ein Budget von einer Million US-Dollar verfügt, weil keine internationalen Geldgeber bereitstehen, und das, obwohl Oldrich Andrysek sehr pessimistisch in die Zukunft blickt:

„Die wahre Krise hat noch nicht begonnen. Wir sind immer noch in der Phase, wo sich die Probleme anhäufen. Ein großes betrifft Personen, die ihre Wohnungen verloren haben und nicht zurückkehren können. Selbst wenn Personen ein halbes Jahr in einem Sanatorium oder Ferienheim leben können, dann liegen diese Gebäude nicht dort, wo man leicht Arbeit finden kann. Ohne Arbeit können diese Menschen nicht auf eigenen Füßen stehen, werden keine Steuern zahlen, sondern nur von öffentlichen Mitteln leben. Das zweite langfristige Problem betrifft die Kinder. Jene, die aus den umkämpften Gebieten kommen, werden lange unter den Traumata leiden; hinzukommt, dass Kinder ihre Ausbildung nicht abschließen können; die Regierung wird Wege finden müssen, um sie in ein reguläres Bildungswesen zu integrieren. Wenn der Konflikt nicht rasch endet, wenn Plünderungen nicht rasch gestoppt und Recht und Ordnung wieder hergestellt werden, wird es Jahre dauern, um diese Folgen zu überwinden.“

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