Die Lage der Ukraine aus der Sicht dreier Frauen
Sonstiges
Europajournal
Berichte Ukraine
Am Sonntag wählt die Ukraine einen neuen Präsidenten. Nach allen Umfragen besteht nur die Frage, ob der Oligarch Petro Poroschenko bereits im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit gewinnen wird oder nicht. Denn alle anderen Bewerber liegen weit zurück. Doch auch der Schokolade-Produzent Poroschenko ist ein Beispiel für die enorme Geschmeidigkeit vieler Politiker in der Ukraine. Vom Mitbegründer der „Partei der Regionen“ und vom Minister unter Präsident Viktor Janukowitsch wandelte er sich zum Mitfinanziere der Majdan-Bewegung, die schließlich zu Janukowitschs Sturz führte. Trotzdem hoffen viele Ukrainer, dass gerade der Mann, der mit jedem kann, einen Ausweg aus der tiefsten Krise seit der Unabhängigkeit finden kann. Denn die Ukraine ist heute wirtschaftlich am Rande der Katastrophe, hat die Halbinsel Krim an Russland verloren und ist von der Abspaltung der Bezirke Donezk und Lugansk bedroht. Dort leben fast sieben Millionen Menschen, mehr als ein Siebentel der Gesamtbevölkerung, dort herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände, die regulären Wahlen kaum zulassen. Über die Beurteilung der Krise und über Wege zu ihrer Überwindung hat unser Korrespondent Christian Wehrschütz mit drei Ukrainerinnen gesprochen. Hier sein Bericht:
Mariupol ist im Donbass-Gebiet als Hochburg der griechischen Minderheit und als Standort von drei bedeutenden Industriekombinaten bekannt. Dazu zählt das größte Stahlwerk der Ukraine, das Rinat Achmetow, dem reichsten Oligarchen der Ukraine gehört. Achmetow hat mit der Modernisierung des Werks begonnen, und damit die Umweltbelastung gesenkt. Die Luft in Mariupol ist nicht mehr zum Schneiden, wie das noch vor einigen Jahren der Fall war. Die Wirtschaftskrise zeigt auch der Hafen, wo kaum jemand arbeitet. Das Asowsche Meer macht den Eindruck einer Gloake, trotzdem nutzen es Bewohner zum Baden und Fischen. Die Unzufriedenheit mit Kiew ist groß; in der 500.000 Einwohner zählenden Stadt gibt es seit Monaten kein Insulin und auch Medikamente zur Krebsbehandlung sind knapp. Gefechte zwischen prorussischen Aufständischen und ukrainischen Truppen forderten acht Tote und hinterließen massive Spuren im Zentrum. Gegen Kiew ging auch die 47-jährige Valeria auf die Straße. Ihr Mann arbeitete lange im Stahlwerk; er leidet an seinem schwachen Herzen und den Folgen der harten Arbeit. Der Herzschrittmacher kostete umgerechnet 16.000 Euro, doch vier Monate mussten das Paar auf die Fortzahlung des Gehaltes für den Mann warten und von dem Geld leben, dass Valeria als Sozialarbeiterin verdient; das sind umgerechnet 80 Euro im Monat. Zur sozialen Lage sagt Valeria:
"Die Hälfte des Lohns brauche ich für kommunale Dienstleistungen. Die zweite Hälfte bleibt zum Leben, doch die Lebensmittel wurden teurer; ein Kilogramm Fleisch kostet heute fast fünf Euro, ein Liter Milch mehr als 60 Eurocent. Da ich mit meiner Mutter, meinem Sohn und meinem Mann zusammenlebe, versuchen wir, unsere Einkommen zusammenzulegen und dann aufzuteilen. Würde ich allein leben, müssten ich auf den Märkten wahrscheinlich um Almosen betteln."
Valeria sieht in der neuen ukrainischen Führung in Kiew eine Ansammlung von Faschisten und Ultranationalisten. Am Referendum zur Abspaltung von Donezk konnte sie wegen der Krankheit ihres Mannes nicht teilnehmen. Ukrainische Medien nutzt sie kaum, sondern sieht vorwiegend russische TV-Sender. Warum erläutert sie so:
"Diese ukrainischen Berichte sagen uns, dass uns Russland angegriffen hat, und dass unser ukrainische Armee gekommen ist, uns zu retten. Vor kurzen habe ich einen Bericht über das Begräbnis jungen Mannes der Nationalgarde in der Westukraine gesehen. Demnach fiel er bei der Befreiung von Mariupol, doch das waren jene Leute, die auf mich selbst geschossen haben bei meinem Haus am 9. Mai, und um mich herum wurden Menschen getötet. Diese Personen werden bei sich zu Hause nun als Helden verehrt; mit tut es für seine Mutter leid, doch die ukrainischen Medien berichten bis zum Äußersten falsch über unsere Stadt."
Anders verhält es sich mit dem Medienkonsum der 31 jährigen Olga. Sie nutzt vor allem das Internet und dabei auch ukrainische Quellen. Olga ist Künstlerin; sie bemalte am Stadtrand von Mariupol an einer ukrainischen Straßensperre die Betonblöcke, auch um der Krise etwas die Schrecken zu nehmen. Olga stammt aus dem Nachbarbezirk Dnipropetrowsk. Dort arbeitete sie ebenso wie ihr Mann in einem illegalen Spielkasino als Gruppier. Die Schließung des Kasinos fiel mit der internationalen Finanzkrise zusammen, die 2008 auch die Ukraine massiv traf. Das Paar übersiedelte daher mit seinen zwei Kindern zu den Eltern des Mannes nach Mariupol. Dort arbeitet der Mann nun in einem Restaurant als Koch, während Olga auf Märkten ihre Bilder und Handarbeiten verkauft. Angaben zu ihren Einkommensverhältnissen macht sie nicht. In ihrer Wohnstraße sei die große Mehrheit für die Abspaltung von der Ukraine und den Anschluss an Russland. Olga denkt anders und hat nicht am Referendum am 11. Mai teilgenommen:
„Ich habe nicht teilgenommen weil ich darin keinen Sinn sehe und zweitens, weil mir völlig unklar ist, was die Volksrepublik von Donezk eigentlich sein soll, wie die Republik aufgebaut sein wird und wie wir leben werden. Nichts ist klar, jeder sieht das auf seine Weise. Konkrete Informationen gibt es nicht. Daher war mir der Sinn der Abstimmung unklar. Ich will, dass meine Kinder eine Zukunft haben, doch wenn die Abspaltung weitergeht, dann werden wahrscheinlich auch meine Enkel hier keine Zukunft haben. Das ist kein Leben mehr, wie kann es dann besser werden. Nein, dann will ich nicht hier bleiben. "
Diese Gedanken bleiben der 19-jährigen Elisaweta erspart. Sie lebt in Kiew und studiert an der philologischen Fakultät. Sie lebt in einem Studentenheim, hat ein Stipendium und wird von ihren Eltern unterstützt, die in der Stadt Melitopol in der Nähe der Halbinsel Krim Geräte für fernöstliche Kampfsportarten herstellen. Insgesamt verfügt die Studentin im Monat über etwa 170 Euro; davon bleiben ihren nach Abzug aller Fixkosten etwa ein Drittel reines Taschengeld. Während Valeria und Olga Russisch als Muttersprache haben, spricht Elisaweta auch fließend Ukrainisch und nutzt vorwiegend ukrainische Medien. Die Studentin zählte am Majdan zu den Demonstranten der ersten Stunde. Sie befürwortet den Einsatz ukrainischer Soldaten in der Ostukraine. Trotzdem sagt Elisaweta:
"Ich glaube, dass man die separatistische Krise in der Ostukraine nicht mit militärischen Mitteln lösen kann. Damit kann man nur die separatistische Bewegung austreten, damit kann man die Städte Slowjansk, Kramatorsk und Mariupol einnehmen. Doch mit militärischen Mitteln kann man nicht die Vertrauenskrise im Volk lösen. Die Bevölkerung dort will, dass eine Person ihres Vertrauens zu ihnen spricht und sagt; in der Ukraine habt ihr es besser, bleibt bei ihr. Wenn ihr nach Russland geht, wird es euch dort nicht gefallen. Wenn Putin auf Lugansk und Donezk verzichtet, werden sie das akzeptieren, doch wenn ihnen der ukrainische Präsident Turtschinow sagt, bleibt hier, und gleichzeitig schicken wir Truppen, dann werden sie das nicht akzeptieren."
Doch wie kann der Konflikt dann gelöst werden? Eine Föderalisierung, sprich die Abgabe von Kompetenzen durch Kiew an die Bezirke, lehnt Elisaweta als ersten Schritt zur Abspaltung ab. Sie hofft, dass der neue Präsident eine Lösung finden wird:
"Man muss einen Kompromiss finden; denn dieses Land mit derart unterschiedlichen Ansichten zu führen, kann man nur mit Hilfe eines Kompromisses. Daher glaube ich, dass Petro Poroschenko bei den Wahlen siegen wird. Er ist persönlich weniger rechts und liberaler orientiert, und kann vielleicht einen Kompromiss finden. Ich glaube, dass alle auf die Wahlen warten, damit der neue Präsident die Krise löst. Denn das ist nicht nur ein Konflikt in der Ukraine, das ist auch ein geopolitischer Konflikt mit Russland. Und diesen Konflikt kann nur der neue Präsident lösen."
Im Gegensatz dazu sieht Valeria nur in der Föderalisierung der Ukraine einen Ausweg, sollte der überhaupt noch gangbar sein.
"Für mich persönlich wäre eine Föderalisierung nichts Schreckliches, sondern annehmbar. Doch wenn man an unsere Adresse verkündet, dass es hier nur Banditen gibt, dann wird die Mehrheit der Menschen hier die Vereinigung mit der Ukraine kategorisch ablehnen. Das ist die Meinung, die ich von meinen Bekannten und Mitarbeitern höre. Ich halte die Föderalisierung für eine gute Sache, wenn wir dadurch unsere Kultur im Rahmen unserer Bezirke bewahren können. Doch wie man Föderalisierung jetzt praktisch umsetzen kann, das weiß ich nicht."
Olga wiederum will sich nicht festlegen. Für sie ist die Sehnsucht nach Russland aber auch eine Frage der Mentalität:
"Viele Nachbarn und Verwandte denken, dass sie in Russland besser leben werden, nach dem Motto: besser stabil und schlecht, als zu versuchen, irgendeinen Weg zu gehen, der aus ihrer Sicht gespenstisch ist. Während ich glaube, dass wir etwas tun können, dass es uns relativ gut gehen wird, glauben sie nicht daran. Besser ist für sie, so wie es war, als dass man versucht, etwas zu ändern."
Unterschiedlich denken die drei Frauen auch über die Europäische Union. Gemein haben Olga und Elisaweta eine gewisse EU-Skepsis, die jedoch unterschiedlich begründet wird. So sagt Olga:
"Die Rettung vor dem Ertrinken muss vor allem von uns selbst kommen. Wenn wir nicht selbst etwas tun, dann kann uns die EU auch nicht helfen. Doch wenn wir uns selbst bemühen, kann uns die EU helfen, doch wenn wir so weiter leben, wie wir gelebt haben, wird sich nichts ändern, soviel Geld sie uns auch geben oder helfen möge, dann würde alles so bleiben."
Elisaweta führt wirtschaftliche Gründe ins Treffen:
"Der beste Platz der Ukraine wäre in der Mitte. Doch das ist leider jetzt wegen der Lage des Landes nicht möglich; daher sehe ich den Beitritt zur NATO als Notwendigkeit. Leider ist die ukrainische Armee nicht sehr schlagkräftig; das sehen wir am Beispiel im Osten. Wir brauchen auch die Zusammenarbeit mit Russland wegen der Fabriken in Charkiw und Dnipropetrowsk, die ausschließlich für den russischen Markt arbeiten, ihn dürfen wir nicht verlieren. Was die EU betrifft, so halte diese Assoziierung nicht für sehr vorteilhaft für die Ukraine, wegen der niedrigen Konkurrenzfähigkeit ukrainischer Waren im Vergleich zu europäischen Produkten. Doch vielleicht wird es besser. Die europäische Orientierung ist ein Muss; die Ukraine ist ein europäisches Land, und dafür sind wir schließlich auf die Straße gegangen.“
Valeria ist klar gegen die EU; bei ihrer Ablehnung spielt auch Conchita Wurst eine Rolle, betont Valeria:
"Beim Euro-Songcontest hat irgendein Monster gewonnen, das weder Mann noch Frau ist. Wir sind daher zur Meinung gelangt, dass diese Transvestiten-Stimmung in Europa völlig blüht. Mir gefallen richtige Männer besser, und ich selbst sehe mich als richtige, zärtliche Frau. Für uns ist dieses europäische Verständnis unakzeptabel und widerlich. Daher: besser ein Medwedjew mit der Balalaika als mit einem unverständlichen sächlichen Geschlecht in Europa.“