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Europajournal Die Ukraine als Pufferzone zwischen Russland und der EU sowie ihre geopolitische Bedeutung

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Wohin steuert die Ukraine? Wird sie sich nun nach den Massenprotesten in Kiew und anderen Städten und dem Rücktritt der Regierung wieder der EU zuwenden und kann die kommende neue Führung in Kiew das Assoziierungsabkommen mit Brüssel unterschreiben oder ist der Druck Russlands einfach zu stark. Was denken junge Ukrainer über die EU, was erhoffen sie sich von Europa, was erwarten sie sich von der künftigen Führung? Und welche Bedeutung hat die Ukraine, das flächenmäßig größte Land Europas, eigentlich für die EU, welche Rolle könnte dieses Land gegenüber Russland spielen? Über diese Frage hat in Kiew unser Korrespondent Christian Wehrschütz mit jungen Ukrainern, Politologen, Politikern und außenpolitischen Experten gesprochen. Er hat auch den folgenden Beitrag über ein Land im Umbruch gestaltet, das mehr als 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion seinen Platz zwischen der EU und Russland noch immer nicht gefunden hat:

Als Präsident Viktor Janukowitsch im Herbst das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU nicht unterzeichnete, waren es die Studenten, die Ende November als erstes in Kiew auf die Straße gingen. Zu den Demonstranten der ersten Stunde zählt auch die 19-jährige Elisaweta Pljaschetschnik. Sie studiert an der Philologischen Fakultät der Universität Kiew und lebt in einem Studentenheim. Die Motive ihres Protest beschreibt Elisaweta Pljaschetschnik so:

„Das Volk will eine Ablöse des Regimes von Präsident Janukowitsch, weil seine Politik auch unmittelbar mit der Wirtschaft und der Außenpolitik verbunden ist. Wenn wir uns in Richtung Europa entwickeln wollen, müssen wir auch Klein- und Mittelbetriebe entwickeln. Doch viele Steuergesetze, die unter Janukowitsch erlassen wurden, setzen die Wirtschaft enorm unter Druck, und das betrifft vor allem Klein- und Mittelbetriebe. Sie würden durch das Abkommen mit der EU profitieren, weil die Zolltarife niedriger würden. In jedem erfolgreichen Land der EU macht die Mittelkasse mehr als 50 Prozent der Bevölkerung aus, in der Ukraine sind das aber weniger als 10 Prozent. Es ist nicht in Ordnung, wenn sich das Land nur in Reiche und Arme teilt. In der Ukraine sind 80 Prozent und mehr arm; das ist einfach nicht akzeptabel in einem Land, dass sich vor mehr als 20 Jahren für die Unabhängigkeit entschieden hat.“

Elisaweta Pljaschetschnik ist ein lebender Beweis dafür, dass in Kiew bei weitem nicht nur Demonstranten aus der Westukraine demonstrieren. Denn sie kommt aus dem Bezirk Zaporizhia in der Südukraine, die eher prorussisch geprägt ist. Ihre Eltern haben in der Stadt Melitopil einen Betrieb, der Trainingsgeräte für fernöstliche Kampfsportarten herstellt, die auch in der Ukraine sehr populär sind. Zu den nationalen und politischen Gegensätzen sagt Elisaweta Pljaschetschnik:

„Man kann nicht von einer starken Spaltung sprechen, denn trotz allem bleiben wir eine Nation der Ukrainer. Aber natürlich sind die westlichen Bezirke nationalbewusster und politisch aktiver im Vergleich zur Bevölkerung der östlichen Bezirke die stärker russisch eingestellt und viel passiver sind. Ich weiß nicht, warum das so ist, doch daher haben wir keinen Bürgerkrieg. Denn nur in den westlichen Bezirken geht man auf die Straße, weil man eine bessere Zukunft für das eigene Land will. In den östlichen, prorussischen Bezirken sitzen die Leute einfach zu Hause und unternehmen nichts.“

Diese Gegensätze haben historische Wurzeln; denn ihre heutige geographische Gestalt erhielt die Ukraine erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Daher wirken die unterschiedlichen Einflüsse bis heute nach, erläutert in Kiew der Politologe Kost Bondarenko

"Die Ukraine ist ein Land mit zwei Identitäten. Historisch hat sich ein Teil unter dem Einfluss der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und der andere Teil unter dem Einfluss Russlands entwickelt. Dann waren da noch Polen und die Sowjetunion. Die unterschiedliche Geschichte in unterschiedlichen Teilen führte zu unterschiedlichen Helden, Sprachen, Kirchen und Kulturen. Doch die sowjetische Zeit, diese 50 Jahre, waren zu kurz, um alle Gegensätze zu beseitigen. Ich sagen nicht, dass es bei uns zwei Länder gibt, die in einem zusammenleben, doch es gibt zwei Identitäten, und damit muss man ebenso leben wie etwa Belgien."

Ebenso wie in Belgien gibt es auch in der Ukraine zwei dominierende Sprachen, das Ukrainische, das offizielle Amtssprache ist, und das Russische, das im Süden, Osten und Kiew dominiert, das aber auch praktisch alle Bewohner sprechen, deren Muttersprache Ukrainisch ist. Die Ukraine ist ebenso wie Russland noch massiv von den Nachwirkungen der Sowjetunion geprägt. Dazu sagt der deutsche Politologe Andreas Umland, der seit mehr als zehn Jahren in Kiew lehrt und lebt:

"Es gibt eine ganze Reihe von Unterschieden, aber eben auch die großen Gemeinsamkeiten, wie das korrupte Staatswesen und die sogenannten Oligarchen, die Wirtschaftsmagnaten, die Unterentwicklung der Zivilgesellschaft. Aber der große Unterschied ist eben, dass das russische, autoritäre Regime sehr viel mehr Ressourcen hat, dass das Regime die Einnahmen aus den Energieexporten vor allem in die Europäische Union hat, und dass es eben eine imperiale Ideologie gibt, die diesem autoritären Regime eben auch Legitimität verschafft. Und all das gibt es in der Ukraine nicht. Da ist eben hier zu beobachten, dass die Oppositionsparteien stärker sind, die Medien freier sind, die Zivilgesellschaft stärker ist, auch das Unabhängigkeits- und Freiheitsstreben höher ist."

Für die Ukraine ist Russland nicht nur der wichtigste Lieferant von Öl und Erdgas, sondern auch ein entscheidender Handelspartner.. Diese enorme Abhängigkeit der Ukraine zeigte sich deutlich, als der russische Präsident Wladimir Putin kurzfristig eine Art Handelsembargo für ukrainische Waren verhängte, die zwar auf dem russischen Markt einen Abnehmer finden, in der EU aber oft nicht konkurrenzfähig sind. Trotzdem sehen viele Vertreter der ukrainischen Wirtschaft gerade in der EU eine Chance, sich aus der russischen Abhängigkeit zu befreien, betont Kost Bondarenko:

"Die Mehrheit der Oligarchen ist proeuropäisch eingestellt. Sie haben Wirtschaftsinteressen in Europa, ihre Familien leben in Europa, sie machen in Europa Urlaub. Sie fürchten sich davor, dass hier Russland an die Macht kommen könnte, weil die Oligarchen denken, dass Russland nicht vorhersehbar ist. Das sind absolut unzivilisierte Beziehungen zu den russischen Oligarchen; die sind stärker und verlangen, dass man nach ihren Regeln spielt. Gerade daher sehen die ukrainischen Oligarchen in einer europäischen Ukraine eine Rettung und eine Garantie für sich selbst, für ihre Geschäfte und für eine zivilisierte Zukunft der Ukraine."

Doch wenn sogar die ukrainischen Oligarchen für die EU-Annäherung sind, warum hat dann Präsident Viktor Janukowtisch das Assoziierungsabkommen nicht unterzeichnet? Dazu gibt es zwei Denkschulen in der Ukraine. Die eine sagt, Janukowitsch habe überhaupt nur pro forma verhandelt, und nie unterschreiben wollen. Die andere Denkschule vertritt Kost Bondarenko:

"Es geht darum, dass der Teil des Assoziierungsabkommens, der die Freihandelszone betrifft, prinzipiell die Wirtschaftskrise vertiefen hätte können. Als die Ukraine diesen Vertrag im März 2012 paraphierte, war die Wirtschaftslage eine andere. Doch als die EU dann bereit war, den Vertrag zu unterschrieben, begannen bei uns die ernsten Probleme. Das Budgetloch betrug da bereits etwa 1,5 Milliarden Euro; und wenn wir das Abkommen unterschrieben hätten, hätten wir mindestens weitere 2,5 Milliarden Euro verloren. Präsident Janukowitsch schlug der EU vor, eine Paket an Kompensationen dafür breit zu stellen, und zwar durch Investitionen, frisches Geld oder Kredite. Doch die EU wollte diese Frage nicht erörtern; und daher verschob dann Janukowitsch die Unterzeichnung und schlug vor, darüber im Frühling wieder zu sprechen. Stattdessen nahm er Kredite in China und in Russland auf. Doch Janukowitsch hat seinen Kurs nicht geändert; er trat nicht der Zollunion mit Russland bei, sondern er verschob nur die Unterzeichnung mit der EU.“

Wenn Bondarenko recht hat, würde es auch einer von der derzeitigen Opposition geführten Regierung in Kiew wohl sehr schwer fallen, das Abkommen mit Brüssel zu unterschreiben, sollte die EU nicht zusätzliche Unterstützung anbieten. Nicht bereit war die EU bisher, dem flächenmäßig größten Land in Europa, die langfristige Perspektive einer Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Dazu sagt der frühere Leiter des militärischen Geheimdienstes der Ukraine, Generaloberst Ihor Smeshko:

„Die ukrainischen Eliten waren völlig enttäuscht von der Haltung der EU, die kalt und von oben herab war. Lange wurden wir noch durch das russische Prisma gesehen; dann sah man das als Frage des Warten Lassens, denn es gebe ohnehin keinen Grund zur Eile. Das war ein schwerwiegender Fehler, denn um die EU herum entstehen Giganten, und die Frage ist, ob einer von ihnen Teil der europäischen Zivilisation sein wird oder nicht. Die entscheidende Frage lässt sich sehr einfach formulieren: Ohne Ukraine kann Russland kein Imperium sein, und ohne Ukraine hat Russland die Chance, eine Demokratie zu haben, und zwar unter dem Einfluss einer demokratischen Ukraine. Doch mit der Ukraine unter seiner Kontrolle wird Russland wohl nie eine Demokratie, kann aber wieder ein Imperium werden. Das Wesen der EU-Interessen liegt daher darin, der Ukraine die Hand zu bieten, und dann auf evolutionäre Weise mit Russland zu arbeiten.

Ob sich die EU zu diesem strategischen Denken bis zum Gipfeltreffen mit der Ukraine im Februar in Brüssel wird durchringen können, ist zweifelhaft. Wenige hundert Meter vom Platz der Unabhängigkeit in Kiew entfernt, wo die Demonstranten gegen Präsident Janukowitsch weiter ausharren, steht das Denkmal über die Wiedervereinigung der Ukraine und Russlands. Es stammt aus sowjetischer Zeit. Die Sowjetunion ist schon lange Geschichte; doch einen Ausweg aus ihrer Position als Pufferzone zwischen Russland und der EU hat die Ukraine bis jetzt nicht gefunden.
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