Interview mit dem serbischen Präsidenten Alexander Vucic
20201004 Kleine Zeitung Interview mit Alexander Vucic Wehrschütz
CW: Wie bewerten Sie die Politik Serbiens und Jugoslawiens in den 90iger Jahren, die schließlich am 5. Oktober 2000 zum Sturz von Slobodan Milosevic geführt hat?
AV: "In den 90iger Jahren haben wir nicht nur viele Fehler gemacht, sondern auch als Volk nicht verstanden, welche Änderungen sich in der Welt mit dem Fall der Berliner Mauer ereignet haben und was sich in der Welt ereignet. Nach dem Jahre 2000 dachten wir, dass es genügt, zu Empfängen der Botschaften der USA, Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs zu gehen, und damit würden alle politischen Probleme gelöst sein. Das war die Hinwendung zum anderen Extrem, und wir erlebten noch mehr Korruption und einen noch größeren Wirtschaftsrückgang als unter Slobodan Milosevic. Heute verstehen wir recht gut, was in der Welt geschieht.“
CW: Noch im Jahre 2000 waren die USA die einzige Weltmacht. Am Balkan spielte zusätzlich noch die EU eine führende Rolle, die in der Region unbestritten war. Wie sehr haben sich diese Kräfteverhältnisse nun geändert?
AV: Heute haben wir vier dominante Kräfte - die USA, China, Russland als erste oder zweitstärkste militärische Macht in der Welt und die EU; sie ist eine wirtschaftspolitische Macht aber keine militärische. Unter diesen Bedingungen, wo alle als imperiale Mächte auftreten, und Serbien an einer Wegkreuzung liegt, muss man jeden Tag kämpfen, und das ist nicht leicht. Dazu zählen Reformen und ausländische Direktinvestitionen, und, dass man auch die besten Beziehungen zu Russland und China hat; sie haben wir, und dafür rühmen wir uns und schämen uns nicht. Natürlich haben wir auch gute Beziehungen mit den USA und sind auf dem Weg Richtung Europa. Wir haben keine Wahl. Niemand hat uns im Westen etwas für den Kosovo angeboten, außer unserer Erniedrigung, abgesehen von den USA, die uns Wirtschaftshilfe für die Entwicklung unserer Beziehungen angeboten haben. Ich gestehen, dass wir auch eine bedeutsame Finanz- und Wirtschaftshilfe von der EU bekommen haben, was ich sehr achte, denn kein europäischer Steuerzahler ist es uns schuldig, hier Geld zu lassen. Andererseits haben wir Russland und China, die die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkannt haben; natürlich müssen wir auf sie zählen.“
CW: Im September waren Sie bei Präsident Donald Trump in Washington. Gemeinsam mit dem Regierungschef des Kosovo wurde dabei unter anderem ein massiver Ausbau der Verkehrsbeziehungen zwischen Belgrad und Pristina vereinbart. Wie bewerten Sie diese Initiative der USA, die wegen des NATO-Krieges 1999 zu den unpopulärsten Staaten in Serbien zählt?
AV: "Das ist ein guter Vertrag. Ich glaube, dass Präsident Donald Trump und vor allem seine Mitarbeiter gut verstehen, dass bessere wirtschaftliche Beziehungen in Zukunft auch zu besseren politischen Beziehungen führen werden. Das ist eine gute Prämisse. Die USA waren bis vor kurzem das unpopulärste Land in Serbien; das hat sich geändert. Bis vor einem Jahr lag die Popularität bei 8 Prozent, jetzt liegt dieser Wert nach Umfragen bei 26 Prozent.Das hat teilweise mit Präsident Trump zu tun, aber auch mit seinem Botschafter in Belgrad, der anders auftritt als seine Vorgänger; er achtet Serbien und benimmt sich nicht als Verwalter einer Kolonie. Weit mehr Arroganz bei Vertretern anderer westlicher Staaten und nicht bei den USA."
CW: Doch von einer politischen Normalisierung sind Belgrad und Pristina noch weit entfernt. Verhandlungen unter der Schirmherrschaft der EU in Brüssel verliefen bisher ohne Erfolg. Derzeit ist Belgrad nicht bereit, die Unabhängigkeit anzuerkennen. Warum?
AV: "Was uns jetzt alle bieten, das ist nichts. Sie sagen uns, stimmt für die Unabhängigkeit des Kosovo, dann wird der Weg Richtung EU leichter sein, das ist ein großes Nichts. Niemand garantiert uns dafür etwa die Mitgliedschaft in der EU. Niemand sagt uns, was Serbien dafür im Kosovo bekommt, nicht einmal die Gemeinschaft der serbischen Gemeinden oder etwas anderes. Dazu zählt auch der Status unserer Kirchen und Klöster. Ich werde nicht sagen, worum es alles geht, dann hätten Verhandlungen keinen Sinn. Doch niemand wird uns zur Anerkennung des Kosovo zwingen können, ohne dass Serbien dafür etwas bekommt. Natürlich müssen wir zusammenleben; und wir brauchen einen Kompromiss, und müssen an die Zukunft denken. Denn ich bin gegen einen eingefrorenen Konflikt, damit wir unseren Kindern nicht dasselbe Problem hinterlassen. Denn eingefrorene Konflikte können auch wieder auftauen, wir gerade jetzt in Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan sehen.“
CW: Zu ihren regionalen Initiativen zählt das Projekt mit dem Namen „Mini-Schengen“; Ziel des Projekts sind ein freier Waren- und Kapitalverkehr sowie ein gemeinsamer Arbeitsmarkt der Staaten des Westbalkan, sprich von Nord-Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Serbien, Albanien und auch des Kosovo, jenseits seiner Status-Frage. Warum ist für Sie dieses Projekt so wichtig?
AV: „Ich bin leidenschaftlich für das Projekt Mini-Schengen; jüngst haben mir Vertreter der Weltbank vorgerechnet, dass wir zwischen zehn bis 11 Prozent der operativen Kosten bei unserer Ein- und Ausfuhr an Waren einsparen könnten, wenn wir diese Initiative verwirklichen. Hinzu kommt auch ein politischer Aspekt. Serbien allein ist klein und schwach gegenüber Brüssel. Doch wenn sich fünf Staaten verbinden, dann zählen wir 20 Millionen Einwohner und sind nicht mehr so bedeutungslos. Das müssen wir verstehen. Wir wollen wirtschaftliche Bündnisse schließen, denn uns interessiert vor allem der wirtschaftliche Fortschritt.“
CW: Zwischen Serbien am Westbalkan und Deutschland in der EU gibt es gewisse Parallelen. Sie wissen, dass die wirtschaftliche Vormacht Deutschlands in der EU von so manchen Mitgliedsstaaten mit großem Widerwillen hingenommen wird. Berlin hat daher lange eine sehr zurückhaltende Außenpolitik betrieben. Wie ist da Ihre Position, gerade auch unter dem Hinblick auf Mini-Schengen?
AV: „Wir sind oft nicht ganz glücklich und zufrieden wegen der Haltung, die die EU uns gegenüber zeigt, aber wir sind eindeutig auf dem europäischen Weg und wollen ein Teil Europas sein. Serbien ist in den Aussagen in der Region viel vorsichtiger als alle anderen, da es aus einer früheren Zeit eine Art erworbenes Recht für alle anderen gibt, Serbien bei jeder Ankunft anzugreifen, sowohl wenn es schuldig ist als auch wenn es nicht schuldig ist. Ich habe versucht, nicht darauf zu reagieren und allen eine Hand der Versöhnung zu geben, weil die Wirtschaft für uns am wichtigsten ist. Ja, Deutschland ist die dominierende Macht in der EU, und ja, Serbien ist von einem ewigen Verlierer zu jemandem geworden, der eine bessere Perspektive hat als die meisten anderen Länder auf dem westlichen Balkan. Aber denken Sie, wir sollten uns bei jemandem dafür entschuldigen? Wir haben das mit unserer Arbeit erreicht, mit einem harten Opfer; schlagen Sie doch jemand anderem in der Region vor, Gehälter und Renten zu senken. Wir wollen gute Beziehungen zu allen, wir wollen den freien Waren- und Kapitalfluss, deshalb sind wir von dieser regionalen Initiative so begeistert.“
CW: Unter Ihrer Führung hat ihre Partei SNS einen Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl Ende Juni erzielt. Doch noch gibt es keine neue Regierung in Serbien. Wann wird es soweit sein? Werden Sie weiter mit Koalitionspartnern regieren?
AV: "Die Regierungsbildung ist nicht leicht, weil es auch in meiner Partei Personen gibt, die glauben, eine Erbpacht auf Ministersessel zu haben. Das glauben auch andere Parteien, obwohl die SNS auch allein eine überzeugende Mehrheit im Parlament hat. Ich glaube, dass es viele Änderungen geben wird; wenn man eine derart große Unterstützung vom Wähler bekommt, dann sind die Wähler dafür, dass die generell Linie fortgesetzt wird; doch das heißt nicht, dass die Bürger absolut zufrieden sind. Denn es gab auch viel Korruption, und viele haben schlecht oder gar nichts gearbeitet; daher werde ich bedeutendere Änderungen empfehlen als erwartet werden; das werden sie in den nächsten acht Tagen sehen können.“