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Vom Sturz zur Stagnation – Serbien 10 Jahre nach Milosevic

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Berichte Serbien


Es war die Volkswahl zum Präsidenten Rest-Jugoslawiens (Serbien und Montenegro) am 24. September 2000, die den Sturz von Slobodan Milosevic einleitete. Der serbische Autokrat versuchte seine Niederlage, die er trotz massiver Wahlfälschung erlitten hatte, durch die Annullierung des Ergebnisses zu verhindern. Doch am 5. Oktober wurde Milosevic vom (organisierten) Volkszorn, der sich im Sturm auf das Bundesparlament und das staatlich Fernsehen entlud, hinweg gefelgt. Polizei und Armee blieben neutral; am 6. Oktober gestand Milosevic seine Niederlage ein, und am Abend des 7. Oktober wurde sein siegreicher Gegenkandidat, Vojislav Kostunica, im Bundesparlament als neuer Präsident Jugoslawiens vereidigt. Kostunica war der Kandidat des Oppositionsbündnisses DOS, das der Vorsitzende der Demokratischen Partei (DS), Zoran Djindjic geschmiedet hatte. Bis zur demokratischen Wende in Serbien selbst vergingen jedoch noch vier Monate, und das bedeutete de facto den ersten großen Zeitverlust, denn nach den Wahlen Ende Dezember wurde Zoran Djindjic erst Ende Jänner 2001 als Ministerpräsident Serbiens angelobt.

Die Reformen konnten nunmehr beginnen, doch die Ausgangslage war extrem schwierig. Die serbische Wirtschaft war ruiniert und kriminalisiert, das Land war praktisch bankrott und die Infrastruktur in katastrophalem Zustand. Hinzu kamen enorme politische Herausforderungen. Dazu zählten die Reform Rest-Jugoslawiens, denn Montenegro blieb auch nach Milosevics Ende auf Unabhängigkeitskurs, die Albaner-Krise in Südserbien, der ungeklärte Status des Kosovo und insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Überschattet wurde all das durch den Konflikt zwischen dem Modernisierer Zoran Djindjic und dem Nationalisten Vojislav Kostunica, der zur Schutzmacht für prominente Mitglieder des alten Regimes wurde und dem Haager Tribunal ablehnend gegenüberstand. Die Auslieferung von Milosevic am 28. Juni 2001 durch Zoran Djindjic führte denn auch zum Bruch der Allianz DOS in Serbien. Trotzdem war das Reformtempo zunächst hoch; noch größer waren die wohl realitätsfernen Hoffnungen. Bis 2007 wollte man so weit sein, um gemeinsam mit Kroatien an das Tor der EU klopfen zu können.

Am 12. März 2003 endete der Traum vom großen Sprung vorwärts. Um die Mittagszeit wurde Zoran Djindjic im Hof des Regierungsgebäudes in Belgrad durch einen Scharschützen ermordet. Nach Ausnahmezustand und vorgezogenen Parlamentswahlen musste die DS in die Opposition und Vojislav Kostunica wurde Regierungschef; die Ultranationalisten wurden stärkste Kraft im Parlament, der nationalistische Rückschlag war da. Mit zu verantworten haben ihn wohl auch Westen und Haager Tribunal; sie waren nicht bereit, Djindjic jene politische Atempause zu gewähren, die er für die Konsolidierung seiner Macht gebraucht hätte. Trotz einiger erfolgreicher Privatisierungen und Wirtschaftsreformen muss die Zeit bis zum Frühsommer 2008 außenpolitisch weitgehend als verloren betrachtet werden, nicht zuletzt wegen der mangelnden Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Im Sommer 2006 wurde Montenegro unabhängig, und Serbien widerwillig ein selbständiger Staat, der schließlich gegen Jahresende eine neuer Verfassung erhielt, die DOS für 2001 versprochen hatte. In der Folge führten Neuwahlen zu Rückkehr der DS in die Regierung, die Kostunica dominierte, während der „prowestliche“ DS-Vorsitzende und Nachfolger Djindjics, Boris Tadic, Staatspräsident. Im Februar 2008 erklärte der Kosovo nach gescheiterten Verhandlungen mit Serbien seine Unabhängigkeit; daran zerbrach schließlich die Koalition und seit Mitte 2008 regiert die DS mit einer breiten Koalition, während der Sieger über Slobodan Milosevic, Vojislav Kostunica, immer mehr zur Stärke einer politischen Splitterpartei zurückkehrt. Diese innenpolitische Instabilität hat dazu geführt, dass Serbien zwei Grundprobleme noch immer nicht gelöst hat. So ist vor allem General Ratko Mladic, der für das Massaker an 7.000 Bosniaken in Srebrenica verantwortlich gemacht wird, noch immer in Freiheit; zweitens hat Serbien noch keinen modus vivendi mit dem Kosovo gefunden. Eine Abkehr von der Illusion neuer Statusverhandlungen vollzog Tadic heuer im Spätsommer erst unter dem massiven Druck des Westens. Beides Bereiche sind jedoch zu lösen, damit Serbien tatsächlich zügige Fortschritte auf dem Weg Richtung EU machen kann.

Und was ist nun die Bilanz – zehn Jahre später? Auf der Habenseite stehen die Reform des Bankensektors, manche erfolgreiche Privatisierungen, die Visa-Liberalisierung für den Schengen-Raum und die Unterzeichnung des Stabilisierungs- und Assoziationsabkommen, dessen Ratifizierung in der EU aber erst begonnen hat. Negativ zu bewerten sind viele versäumte oder nur halbherzig ausgeführte Strukturreformen, mangelnder Wettbewerb in Serbien und mangelnde Konkurrenzfähigkeit außerhalb, enormer Zeitverlust, sowie eine außenpolitische Schaukelpolitik zwischen EU und Titos Politik der „Blockfreiheit“, die aus Mangel an Blöcken sinnlos geworden ist. Doch nach einer Umfrage sind 80 Prozent der Serben der Ansicht, dass sie unter Titos Sozialismus am besten gelebt haben; sechs Prozent sagen das unter Milosevic, und zehn Prozent heute. Die Abkehr von Mythen und Illusionen fällt aber nicht nur Serbien schwer. Trotzdem gibt es Änderungen; schlagendes Beispiel dafür ist die erste „Schwulen-Parade“, die nun am 10. Oktober in Belgrad stattfinden soll. Geschützt wird sie von 5.000 Polizisten unter Innenminister Ivica Dacic; der Sozialist war noch vor zehn Jahren Pressesprecher von Slobodan Milosevics Partei, die 2008 zum Koalitionspartner der DS wurde. Dacic spricht nun von europäischen Werten, und von einer modernen Linkspartei, zu der die SPS werden soll. Binnen zehn Jahren hat Ivica Dacic somit den „Weg von der dunklen Seite der Macht“ hinzu zum „Jedi-Ritter“ zurückgelegt, der gegen Korruption und Organisierte Kriminalität kämpft. So schnell wird ganz Serbien nicht zu reformieren sein, und daher wird der EU-Beitritt vor 2020 nicht zu erfüllen sein.

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