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Serbien 10 Jahre nach Milosevic

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Wiener Zeitung
Berichte Serbien
Mit dem Sturm auf das Bundesparlament und die Zentrale des staatlichen serbischen Fernsehsenders RTS in Belgrad endete am 5. Oktober 2000 die Ära von Slobodan Milosevic. Der Autokrat hatte neuerlich versucht, nach der Niederlage bei der Wahl zum Präsidenten Rest-Jugoslawiens (24. September) durch Betrug an der Macht zu bleiben. Hinweggefegt wurde er vom (organisierten) Volkszorn unter Führung des Oppositionsbündnisses DOS (Demokratische Opposition Serbiens), an deren Spitze Zoran Djindjic und Vojislav Kostunica standen. Einen Tag nach dem „Volksaufstand“, am 6. Oktober, gestand Milosevic seine Niederlage ein, und am Abend des 7. Oktober wurde Kostunica im Bundesparlament als neuer Präsident Jugoslawiens vereidigt.

Der Machtwechsel in Rest-Jugoslawien war somit praktisch unblutig gelungen, doch in Serbien, wo nicht gewählt worden war, waren die Milosevic-Sozialisten formell noch immer an der Macht. Bis zu dieser Parlamentswahl Ende Dezember und zum Amtsantritt von Zoran Djindjic als serbischer Ministerpräsident vergingen noch drei Monate, und das war der erste große Zeitverlust, dem noch viele folgen sollten. Hinzu kam, dass die Sieger alles andere als einig waren, in welche Richtung und wie schnell die Reformen nun vor sich gehen sollten. Grund dafür war, dass sich gegen Milosevic höchst unterschiedliche Kräfte zusammen gefunden hatten. Dazu zählten Regimegegen der ersten Stunde wie Zoran Djindjic; zweitens, Mitläufer, die bereit gewesen waren, einen Stück des Weges mit Milosevic zu gehen, die jedoch zur Ansicht gelangt waren, dass seine Politik für Serbien und sie selbst nun „zu teuer“ geworden war. Die dritte Gruppe bestand aus Personen, die Milosevic einfach ablehnten, weil er gescheitert war. Vojislav Kostunica wies Element der beiden letzten Gruppe auf.

Diese Heterogenität führte bereits ein Jahr später de facto zum Zerfall der Koalition DOS, die folgende Herausforderungen zu lösen hatte: die Frage, was aus Jugoslawien werden sollte, weil die Führung in Montenegro nach dem Ende von Milosevic auf Unabhängigkeitskurs blieb; die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal inklusive der Frage ob Milosevic ausgeliefert werden sollte, und das damals noch weniger aktuelle Problem des endgültigen Status des Kosovo. Hinzu kam eine weitgehend ruinierte und kriminalisierte Wirtschaft in Serbien. Öl- und Zigarettenschmuggel blühten, der Stromversorgung drohte der Zusammenbruch, die Devisenreserven der Nationalbank betrugen nur mehr etwa 150 Millionen Euro und die gesamten serbischen Spareinlagen in den Banken des Landes lagen bei nur 50 Millionen Euro.

Angesichts dieser Probleme wollte Zoran Djindjic die raschest mögliche Modernisierung und Europäisierung Serbiens. Für diesen „großen Sprung vorwärts“ war ein bereit zu unpopulären Maßnahmen und zu Kraftakten wie der Auslieferung von Slobodan Milosevic an das Haager Tribunal am 28. Juni 2001. Dagegen war der Nationalist Vojislav Kostunica für ein viel gemächlicheres Tempo und stand auch dem Westen und dem Haager Tribunal äußerst reserviert gegenüber. Die Entmachtung Kostunicas gelang Zoran Djindjic erst mit der Umwandlung Rest-Jugoslawiens in den Staatenbund Serbien und Montenegro im Februar 2003; doch bereits am 12. März wurde Djindjic im Hof der Regierung in Belgrad von einem Scharfschützen ermordet und damit endete der Traum von der Aufholjagd, die Serbien so rasch wie möglich in die EU hätte führen sollen.

Ende 2003 wurde Vojsilav Kostunica schließlich Ministerpräsident und seit damals hat das Reformtempo spürbar an Fahrt verloren, obwohl seit 2008 wiederum Djindjics Partei federführend in Serbien ist, die unter Präsident Boris Tadic jedoch ebenfalls einen viel nationalistischeren Kurs fährt. Doch was ist eigentlich von den großen Problemen gelöst worden, die vor zehn Jahren die Erblast von Slobodan Milosevic bildeten? Wirklich beseitigt wurde nur Rest-Jugoslawien, und zwar durch die Unabhängigkeit von Montenegro im Frühsommer 2006, die gegen den hinhaltenden Widerstand Serbiens vollzogen wurde. Noch immer nicht abgeschlossen ist die Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal. Goran Hadzic und vor allem General Ratko Mladic, der für das Massaker an 7.000 Bosniaken in Srebrenica verantwortlich gemacht wird, sind noch immer in Freiheit. Ohne Mladic in Den Haag wird Serbien aber auf dem Weg Richtung EU keine entscheidenden Fortschritte machen können. Noch nicht endgültig gelöst ist aus serbischer Sicht auch die Frage des Kosovo, dessen albanische Mehrheit im Februar 2008 die Unabhängigkeit ausrief. Diesen Verlust hat Belgrad noch immer nicht verwunden; und erst nach massivem Druck führender EU-Staaten machte sich in der serbischen Führung im Herbst 2010 die Erkenntnis breit, dass der internationale Status nicht mehr verhandelbar ist, und dass ein modus vivendi mit dem Kosovo ebenfalls eine Grundvoraussetzung für den Weg Richtung EU bildet.

Ebenso wenig berauschend wie die politische Bilanz fällt zehn Jahre nach Milosevic auch die Bilanz der Wirtschaftsreformen aus. Zwar sind die Unterschiede unübersehbar und auch durch Zahlen klar belegbar: die Devisenreserven betragen nunmehr an die 10 Milliarden Euro und die Einlagen der Serben bei den Banken liegen bei 6,5 Milliarden. Doch eine Schocktherapie gab es nur im Bankensektor, wo 75 Prozent heute in den Hände von Banken aus der EU sind. Weit weniger internationalisiert ist die übrige Wirtschaft; Tycoons und andere Profiteure des Krieges dominieren den Einzelhandel und viele andere Bereiche. Auch die Privatisierung ist längst noch nicht abgeschlossen, denn E-Wirtschaft, Post und die Fluglinie JAT sind noch immer im Staatsbesitz, sprich werden von den Regierungsparteien dominiert, die darin willkommene Pfründe sehen. Das beste Beispiel für das geringe Reformtempo bildet die Infrastruktur, denn die Autobahn von Belgrad über Novi Sad bis zur ungarischen Grenze ist noch immer nicht fertig, obwohl genügend Kapital vorhanden ist.

Doch der Abschied von der Vergangenheit fällt eben schwer; so sind nach einer Umfrage mehr als 80 Prozent der Serben der Ansicht, dass sie unter Tito am besten gelebt haben; sechs Prozent sehen ihre beste Zeit in der Ära Milosevic und zehn Prozent denken, dass es ihnen heute am besten geht. Vielen Serben ist auch nicht bewusst, wie weit ihr Land nicht nur hinter den entwickelten Staaten der EU, sondern auch hinter anderen Reformstaat zurück liegt. Doch ein Vergleich ist nunmehr möglich, wenn das Geld vorhanden ist, denn seit Dezember 2009 können die Serben ohne Visum in den Schengen-Raum reisen. Wenn Reisen tatsächlich bildet, so bleibt zu hoffen, dass nach der Bevölkerung auch die politische Elite erkennen wird, dass Serbien nur ein kleines Land mit sehr begrenzten Möglichkeiten ist. Dieser Realismus müsste zu einer Außenpolitik führen, die in einem gemeinsamen Auftreten Serbiens und seiner Nachbarn gegenüber der EU mündet. Nur dann und nur nach der Beseitigung der Probleme Ratko Mladic und Kosovo kann Serbien hoffen, den 20. Jahrestag des Sturzes von Slobodan Milosevic bereits als Mitglied der Europäischen Union feiern zu können.

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