× Logo Mobil

Die Vojvodina: Serbiens reichste Provinz fordert ihre Autonomie zurück

Zeitung
Wiener Journal
Berichte Serbien
Acht Monate nach der Oktober Revolution und dem Sturz von Slobodan Milosevic sind die grundlegenden staatsrechtlichen Fragen Jugoslawiens noch immer ungeklärt. Zwar kehrte das Land sehr rasch in die UNO und andere inter-nationale Organisationen zurück, doch ob es ein Land dieses Namens im kom-menden Jahr noch geben wird, ist weiter offen. Zu den ungeklärten Fragen zählen in diesem Zusammenhang der Status des Kosovo, die künftigen Bezie-hungen zwischen Serbien und Montenegro aber auch die Rechtsstellung der serbischen Provinz Vojvodina. Alle diesen Problemen ist gemeinsam, daß deren Lösung unmittelbare Auswirkungen auf die künftige Verfassungsordnung Serbiens haben wird. Doch während der endgültige Status des Kosovo und Montenegros die internationale Stellung Serbiens berühren, ist die Klärung des Statuses der Vojvodina eine Frage, die im Rahmen der serbischen Republiks-verfassung und ohne unmittelbare Auswirkungen auf die internationale Stellung Serbiens und Jugoslawiens zu lösen ist. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Regelung der Rechtsstallung der Vojvodina für Serbien weniger bedeutsam ist als die Zukunftdes Kosovo und Montenegros.

Auch die Frage der Vojvodina gehört, ebenso wie die anderen beiden Probleme, zur Erblast von Slobodan Milosevic. Denn Milosevic war es, der die nationali-stische serbische Leidenschaft Ende der 80iger Jahre zu seinem persönlichen Aufstieg zur Macht nützte, die umfassende Autonomie des Kosovo und der Voj-vodina beseitigte, und damit das Ende des zweiten Jugoslawien einläutete. Zwar enthält auch die serbische Republiksverfassung des Jahres 1990 einen Abschnitt über die „Autonome Provinz Vojvodina“, doch die Artikel 108 bis 112 dieser Verfassung folgen dem kommunistischen Motto: “Es muß demokratisch aus-sehen, doch wir müssen alles in der Hand behalten“. So garantiert diese Ver-fassung der Vojvodina etwa umfangreiche Kompetenzen auf den Gebieten der Wirtschaft, der Landwirtschaft, der Gesundheit, der Bildung und der Kultur; eine gesetzgebende Kompetenz ist jedoch nicht selbst auf jenen Gebieten nicht vorgesehen, die eigentlich in die Zuständigkeit des Parlaments der Vojvodina fallen. Denn Artikel 109 der serbischen Verfassung legt fest, daß die Beschlüsse der Vojvodina im Rahmen nicht nur der Verfassung, sondern auch der serbi-schen Gesetze sein müssen. Noch weiter eingeschränkt wird die „Autonomie“ durch die Formulierung, daß die Vojvodina nur „einzelne Fragen“ im Rahmen ihrer an sich bestehenden Zuständigkeitsgebiete regelt; doch welche Bereiche diese einzelnen Fragen umfassen, ist nicht festgelegt. Hinzu kommt, daß das serbische Parlament in der Ära Milosevic detailliert auch jene Gebiete regelte, die eigentlich in die Zuständigkeit der Provinz hätten fallen müssen, so daß von der Autonomie praktisch nichts übrig blieb.

Den Verlust ihrer Eigenständigkeit haben die zwei Millionen Bewohner der Vojvodina Slobodan Milosevic nicht vergessen. Bei der Wahl des Parlaments der Vojvodina, die am 24. September zeitgleich mit der Wahl des jugoslawi-schen Präsidenten und des jugoslawischen Parlaments stattfand, erlitt Mlosevic denn auch eine vernichtende Niederlage. Von den 120 Abgeordneten des Pro-vinzparlaments entfallen auf das Parteienbündnis DOS nun 118 Mandate; die stärksten Einzelparteien im Parlament der Vojvodina sind die Liga der Sozial-demokraten unter Parlamentspräsident Nenad Canak und die Demokratische Partei des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic, die je 24 Mandate inne haben. Die Demokratische Partei Serbiens des jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica hat 14 Sitze. Canak zählt zu den wortgewaltigsten Befür-wortern der Wiederherstellung einer umfassenden Autonomie der Vojvodina. Für die Autonmie ist auch Zoran Djindjic, während Vojislav Kostunica und seine Partei klare Vorbehalte erkennen haben lassen. Das Parlament der Voj-vodina hat jedenfalls ohne Zustimmung aller DOS-Parteien eine Plattform ver-abschiedet, in der die Wiederherstellung der Autonomie verlangt wird. Gefor-dert wird unter anderem, daß das serbische Parlament mehr als 100 Gesetze ändert, die Bereiche betreffen, die in die Zuständigkeit der Vojvodina fallen.

Welche enormen Auswirkungen eine umfassende Autonomie auf Serbien hätte oder haben würde, macht ein Blick auf die grundlegenden Daten dieser Provinz deutlich. Mit 21.506 Quadratkilometer umfaßt die Vojvodina ein Viertel des Territoriums der Republik Serbien. Nach der Volkszählung des Jahres 1991 leben in der Vojvodina zwei Millionen Einwohner, das entspricht ebenfalls einem Viertel der serbischen Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Bewohner der Provinz sind Serben, gefolgt von den etwa 300.000 Ungarn, 70.000 Kroaten, 65.000 Slowaken und 45.000 Montenegrinern. Insgesamt zählt die Vojvodina 26 nationale Minderheiten, wobei neben der serbischen auch weitere vier Amts-sprachen bestehen. Hinzu kommt, daß die Vojvodina mit ihrer mitteleuropäi-schen Tradition die wirtschaftlich entwickeltste Region Serbiens ist. Ein Drittel des serbischen Sozialprodukts wird in der Vojvodina erwirtschaftet; zum Budget Serbiens, daß im Jahre 2001 knapp 30 Milliarden Schilling ausmacht, steuert die Vojvodina 45 Prozent bei. Das Budget der Vojvodina beträgt dagegen nur 84 Millionen Schilling, ein Betrag, der durch die Fixkosten fast völlig gebunden ist. Dieses Geld wird der Provinz aus dem serbischen Budget zugeteilt.

Angesichts dieser Zahlen ist es verständlich, daß Nenad Canak für seine Provinz die Steuer- und Budgethoheit fordert. Die Vojvodina will die Steuern selbst ein-heben und nur einen Teil dieses Geldes an den Haushalt Serbiens überweisen. Canak weiß, daß seine Forderung in der Provinz populär sind, denn nach Umfra-gen sind 70 Prozent der Bewohner für die Autonomie. Doch was bleibt von Serbien „übrig“, sollte die Vojvodina jene Sonderstellung wiedererlangen, die im Rahmen des zweiten Jugoslawien für den Gesamtstaat ganz andere Folgen hatte als für das heutige Serbien. Knapp die Hälfte der Bewohner Serbiens leben in der Vojvodina und in der Hauptstadt Belgrad. Wie aber soll der „Rest“ des Landes entwickelt werden, sollte dessen Finanzierung nicht mehr durch eine Umverteilung aus der Vojvodina möglich sein. Wie sehr selbst diese Provinz unter der Ära Milosevic gelitten hat, zeigen nicht nur die fragwürdigen Zer-störungen der Donaubrücken bei Novi Sad, sondern auch ein Blick auf die Infrastruktur dieser Provinz. Nach Angaben der Provinzverwaltung müssen mehr als 96 Prozent des Schienennetzes überholt werden, befindet sich der „Eisenbahnverkehr auf dem niedrigsten Niveau seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges“. 75 Prozent aller Lokomotiven sind defekt, und der Gesamtum-fang des Gütertransportes ist m Vergleich zum Jahre 1992 um das 3,5-fache zurückgegangen. Nenad Canak, der Parlamentspräsident der Vojvodina, hat die Autonomie jüngst als „Frage“ und noch nicht als „Problem“ für Serbien be-

zeichnet. Denn über Fragen spreche man, während Probleme gelöst werden müßten. Für Canak besteht Jugoslawien nicht mehr, und zwar unabhängig davon, in welchem Rahmen die Stellung Montenegros gelöst wird. Daher will Canak auch mit der Autonomie nicht warten, bis diese Frage entschieden ist. Trotz allen Reformwillens der serbischen Regierung unter Zoran Djindjic ist eine rasche Erholung Serbiens nicht zu erwarten; zu groß ist die Erblast der Ära Milosevic, deren wirtschaftliches Erbe ebenso schwer zu beseitigen sein wird, wie die Änderung der Mentalität der Serben, die Djindjic stets einmahnt. Daher kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, daß sich auch die Stellung der Vojvodina von einer „Frage“ zum „Problem“ entwickelt, vor allem dann, wenn die Bewohner dieser Provinz in den kommenden Jahren den Eindruck gewinnen sollten, daß die Reformen in ganz Serbien zu langsam durchgeführt werden. Gemeint ist damit nicht die Abspaltung der Vojvodina, sondern das Faktum, daß die Frage nach deren Rechtsstellung zu einer weiteren Frage entwickeln könnte, an der sich in der Allianz DOS die Geister scheiden werden.

Facebook Facebook