Die ewige Wiederkunft des Gleichen Nietzsche und der Zerfall Jugoslawiens
Zeitung
Wiener Journal
Berichte Serbien
seines einhundersten Todestages eine seiner philosophischen Themesen
derart schlagend von einer Gemeinschaft von 15 Staaten bestätigt wird,
wie das die Europäische Union nun im Falle Friedrich Nietzesches tut.
Denn was könnte die These von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, von
der Nietzsche in seinem Werk „Der Wille zur Macht“ spricht, besser
bestätigen, als die Politik der EU, bzw. die Politik der meisten ihrer
Mitgliedstaaten gegenüber Jugoslawien. Denn 10 Jahre nach dem Beginn des
Zerfalls des zweiten Jugoslawien sind wir am voraussichtlichen Ende des
dritten Jugoslawien wieder am Ausgangspunkt angelangt. So taucht
plötzlich die Badinter-Kommission wieder aus der Versenkung auf, die im
Auftrag der EU zu ermitteln hatte, ob den Teilrepubliken Jugoslawiens
das Recht auf Sezession und Eigenstaatlichkeit zustehe. Das Gutachten
der Kommission bestätigte dieses Recht, wobei festgehalten wurde, daß
neben einem Territorium, neben der Verfügungsgewalt über dieses
Territorium und neben einer Regierung auch der ausdrückliche Wille der
Bevölkerung zur Eigen-staatlichkeit gegeben sein müsse. Dieser Wille
könne durch Wahlen oder durch eine Volksabstimmung ausgedrückt werden.
Anlaß dazu, daß die Badinter-Kommission wieder zu Ehren kommt, bildet
die Frage der künftigen Beziehungen zwischen Serbien und Montenegro, den
letzen beiden Teil-republiken, die noch unter dem Namen des
Auslaufmodells Jugoslawien existieren. Gerade die Frage, ob Serbien und
Montenegro einen neuen Staat oder eine Art Staaten-bund bilden sollen,
zeigt die Liebe zumindest der größten EU-Staaten zu Friedrich Nietzsche
oder - weniger diplomatisch ausgedrückt - die Tatsache, daß diese
Staaten aus dem Zerfall offensichtlich nichts gelernt haben. Denn
Frankreich und nun im Gegensatz zur Ära Helmut Kohl auch das rot-grüne
Deutschland lehnen die Unab-hängigkeit Montenegros mehr oder weniger
deutlich ab. So erklärte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Wolfgang
Ischinger, „Deutschland unterstütze in keiner Weise die Unabhängigkeit
Montenegros“, denn die „Frage der Selbstbestimmung verliere mit der
Demokratisierung [Serbiens] ihre Bedeutung“. Warum dann die EU nach wie
vor aus 15 Staaten besteht, die doch unzweifelhaft demokratisch sind,
wurde Ischinger von seinem serbischen Gesprächspartner nicht gefragt.
Dafür betonte Ischinger, daß Deu-tschland den „Dialog in dieser Frage
mit Podgorica fortsetzen“ werde, eine Formu-lierung die in der
Diplomatensprache wohl mehr oder minder mit der Ausübung politi-schen
Drucks gleichzusetzen ist.
Doch unabhängig davon, ob diese Interpretation richtig ist, zeigt diese
Haltung, daß der wichtigste Staat der EU offensichtlich nicht bereit
oder in der Lage ist zu verstehen, daß die Probleme zwischen Belgrad und
Podgorica weit älter sind als die Ära von Slobodan Milosevic. Denn die
Grundfrage besteht - wieder ein Mal im Gegensatz zur irrigen Annahme
nicht weniger Diplomaten - eben nicht in der Frage Demokratie oder
Diktatur, sondern darin, ob die Montenegriner mehr sind als nur
„Bergserben“, sprich, ob es eine eigenständige (nationale)
montenenegrinische Identität gibt oder nicht. Hinzu kommen zweifellos
noch wirtschaftliche und politische Überlegungen, doch an dieser
Grundfrage führt kein weg vorbei. Zweifellos diente Milosevic als
Initialzündung dafür, daß diese Problemstellung wieder bewußt wurde,
bzw. Milosevic und westliche Politik haben diese Gegensätze verstärkt.
Doch ihre Wurzeln reichen bis in das Jahr 1918 zu-rück, als das
Königreich Montenegro, das auf Seiten der Westmächte im Ersten
Welt-krieg gekämpft hatte, gegen den Willen des im Exil lebenden Königs
und unter frag-würdigen Umständen was den Willen des Volkes betraf, mit
Serbien vereinigt wurde. Bereits damals bestand in dieser Frage in
Montenegro ein Gegensatz, der in der Be-zeichnung „Grüne“ (pro
Unabhängigkeit) gegen „Weiße“ (pro-serbisch) zum Ausdruck kam. Damals
siegten die „Weißen“, doch im Königreich der Serben Kroaten und
Slo-wenen wurde Montenegro als Teil Serbiens angesehen, eine Politik,
die sich zwischen 1941 und 1945 rächen sollte. Denn die Niederlage der
königstreuen Tschetnik-Verbän-de in Montenegro war in Montenegro nicht
zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Tito-Partisanen jene
Bevölkerungsteile für sich gewinnen konnten, die für eine
monte-negrinische Eigenständigkeit eintraten. 1946 wurde Montenegro eine
der sechs Teil-republiken Tito-Jugoslawiens.
Mit der Machtübernahme von Slobodan Milosevic in Serbien setzte auch in
Montene-gro eine verstärkte Serbisierungspolitik ein, deren Träger die
serbisch-orthodoxe Kirche war (und ist). So wurde in Taufzeugnissen der
Montenegriner als Nationalität automatisch Serbisch eingetragen. Dies
rief eine erste starke Gegenreaktion hervor, die allerdings auf
politischer Ebene noch keinen Niederschlag fand. Allerdings wurden auch
bereits im Jahre 1989 die Gebeine des in Italien 1921 verstorbenen
Königs Nikola nach Montenegro überführt; 1993 kam es zur Gründung der
der kanonisch nicht aner-kannten auokephalen montenegrinischen
Orthodoxie, war doch die anerkannte monte-negrinische Kirche 1920 mit
der serbischen vereinigt worden. Politisch audrücken konnte sich dieses
wieder erwachende Bewußtsein der Eigenständigkeit erst vor drei Jahren
als der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic mit Slobodan
Milosevic brach.
In den vergangenen drei Jahren hat Montenegro nicht nur die
demokratische Opposi-tion in Serbien unterstützt, sondern sich auch -
nicht zuletzt mit westlicher Hilfe - Schritt um Schritt von der Führung
in Belgrad gelöst. Nicht nur die politische Führung in Podgorica,
sondern auch alle relevanten Medien knüpfen an die montenegrinische
Staatlichkeit (1878-1918) an. Noch weit wichtiger ist jedoch, daß der
einfache Bürger - trotz aller engen kulturellen Beziehungen mit Serbien
den Gesamtstaat Jugoslawien nur noch im Luftverkehr, bei den
Streikräften und im Paßwesen wahrnimmt. Alle anderen Bereiche regelt die
Regierung in Podgorica, so daß praktisch bereits jetzt ein
eigenständiger Staat besteht. Letzter aber nicht wohl sehr wichtiger
Schritt auf diesem Weg war im November die Ersetzung des Dinar durch die
DM, die als Parallelwährung bereits seit einem Jahr betstanden und den
schwachen Dinar völlig verdrängt hatte. In zwei Jahren will Montenegro
auf den Euro umstellen.
Vor dem letzen Schritt zur Unabhängigkeit war die montenegrinische
Führung bisher durch die Gefahr einer Militärintervention von Slobodan
Milosevic, durch die unklare Haltung des Westens in dieser Frage und
durch einen nach wie vor bestehenden pro-serbischen Bevölkerungsteil
abgehalten worden. Doch Milosevic ist nun Geschichte und im Parlament in
Podgorica gibt es eine klare Mehrheit der Unabhängigkeitsbe-fürworter,
auch wenn in der Drei-Parteien-Regierung mit der Volkspartei (NS) noch
eine kleine pro-serbische Partei vertreten ist. Doch die anderen
Koalitionspartner sind entschlossen, nur auf der Basis der
internationalen Anerkennung Montenegros (und Serbiens) mit Serbien über
eine neue Form der Union zu verhandeln. Lieber nimmt die politische
Führung eine Minderheitsregierung oder vorgezogenen Parlamentswahlen in
Kauf als von dieser Vorderung abzugehen. Vorgeschlagen werden eine
gemeinsame Verteidigungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik, wobei
spätestens im Juni kommenden Jahres ein Referendum in Montenegro
stattfinden soll.
In Serbien und in der jugoslawischen Regierung hat der Machtwechsel die
grundlegen-de Einstellung zu Montenegro insoferne verändert, daß ein
Militäreinsatz nunmehr aus-geschlossen wird, um Montenegro zu halten.
Nichts geändert hat der Machtwechsel daran, daß Präsident Vojislav
Kostunica und die überwiegende Mehrheit der Politiker Serbiens kein
Sensorium und kein Verständnis für eine eigenständige montenegrinische
Identität haben. So hat Vojislav Kostunica in Montenegro stets auch mit
führenden Vertretern der serbisch-orthodoxen Kirche gesprochen und enge
Kontakte gepflegt, die in Milo Djukanovic eine Art neues Feindbild
gefunden hat. Kostunicas Vorschläge für eine neue Föderation werden in
Montenegro von der politischen Mehrheit gleich in doppelter Hinsicht
abgelehnt. Denn Kostunica will, daß ein Referendum in Serbien und
Montenegro über die Zukunft Montenegros entscheidet; angesichts der
Größenunter-schiede (440.000 Wähler zu mehr als 7 Millionen Wähler) kann
Podgorica diesen Vor-schlag nicht akzeptieren. Außerdem will Kostunica,
daß auch das Bundesparlament in die Verhandlungen über die Zukunft des
Gesamtstaates eingebunden werden. Dies lehnt Montenegro strikt ab, denn
über einen gemeinsamen Staat könnten nur die Ver-treter der beiden
Teilrepubliken, nicht aber die Bundesregierung entscheiden, die
Montenegro weiterhin nicht anerkennt, weil sie nach einer einseitigen
Änderung der Bundesverfassung und nach jenen Bedingungen gewählt wurde,
die Milosevic fest-gelegt hat. Entgegen kommt Montenegro dabei der
Umstand, daß auch in Serbien gar nicht sowenige Politiker bilateralen
Verhandlungen den Vorzug geben, um den Einfluß Vojislav Kostunicas zu
beschränken.
Zweifellos will Kostunica nicht als jugoslawischer Gorbatschow in die
Geschichte eingehen, der den Kommunismus überwandt, doch den gemeinsamen
Staat verlor. Zweifellos wird Kostunica daher versuchen, über die
Westmächte Druck auf Monte-negro ausüber zu lassen. Doch vor allem die
EU, die in dieser Frage weit strikter auf Seiten Kostunicas steht als
die USA, sollte jene Fehler vermeiden, die ihr bereits vor 10 Jahren
unterlaufen ist. Daher sollte sich die EU bewußt werden, daß ihr
Festhalten an Jugoslawien bereits nicht mehr der politischen Realität in
Montenegro entspricht. Die EU sollte daher vor allem Wert darauf legen,
daß eine neue Föderation oder eine Scheidung friedlich verlaufen muß.
Denn auch nach einer allfälligen Scheidung wird die EU Montenegro
wirtschaftlich zu unterstützen haben, ist es doch besser daß sau-veres
Geld fließt als daß neben dem Kosovo ein weiterer Hort für die
organisierte Kriminalität geschaffen wird.
Zweitens muß sich die EU klar darüber sein, daß die Mehrheit der
politischen Führung des Landes nicht aus Statusgründen auf einem Sitz in
der UNO beharrt, sondern weil damit auch der eigenständige Zugang zu
internationalen Finanzinstitutionen verbunden ist. Als Hinterhof
Serbiens kann sich Montenegro wegen der gigantischen
Wirtschafts-probleme Serbiens leicht ausrechnen, wie viel Geld via
Belgrad nach Podgorica anson-sten fließen würde. Diese Überlegung hat
nicht zuletzt auch dazu geführt, daß auch unter der rumänischen Elite in
der Moldau-Republik der Wunsch nach einer Vereini-gung mit Rumänien
rasch abgeklungen ist. Die Koalition „Für ein besseres Leben“ hat den
Montenegrinern ein besseres Leben versprochen; und dieses Versprechen
steht spätestens bei den Parlaments- und Pärsidentenwahlen in zwei
Jahren auf dem Prüf-stand. In einer Demokratie können Regierungen aber
auch abgewählt werden; auch daher ist der Wunsch nach Eigenstaatlichkeit
verständlich, noch dazu wo keine Bürokratie der Welt bereit ist,
erworbene Kompetenzen wieder abzugeben. Weiters ist Podgorica nicht
unberechtigt der Ansicht, daß Montenegro die Integration in die
euro-atlantischen Strukturen ohne Serbien viel rascher erreichen kann.
Die Forderung bei Serbien zu bleiben entspricht daher aus
montenegrinischer Sicht der Forderung an den Inhabers eines Platzes im
Rettungsboot auf der Titanic, mit dem Ablegen des Bootes so lange zu
warten, bis alle Passagiere in Sicherheit sind. Hinzu kommt, daß sich
auch die EU die Frage stellen sollte, ob ein Wirtschaftsaufschwung in
Serbien nicht leichter zu erreichen ist, wenn der weitgehend
überflüssige bürokratische Apparat samt Bundes-parlament beseitigt ist.
Unrealistisch ist auch die Hoffnung, daß das Kosovo-Problem leichter zu
lösen sein wird, wenn Montenegro bei Jugoslawien bleibt. Denn die
Albaner wollen weder bei Jugoslawien noch bei Serbien bleiben und zwar
unabhängig davon, welchen Weg Montenegro geht. Hinzu kommt, daß
Podgorica nicht für die gescheiterte Kosovo-Politik Belgrads
verantwortlich ist und daher auch nicht dafür „bestraft“ werden darf.
Befürchtungen, Montenegros Unabhängigkeit könnte sich negativ auf die
Lage in Bosnien-Herzegowina auswirken, sind ebenfalls fragwürdig. Denn
bei den Wahlen in Bosnien hat jene Partei, die „für ein Bosnien ohne
Teilgebiete“ eintrat gerade 16 Prozent der Stimmen gewonnen. Gewonnen
haben die Nationalisten aller Lage, wobei gerade die bosnischen Serben
nun nach der Euphorie über Kostunica keinen Grund sehen müssen, einer
Revision des Dayton-Vertrages zu zustimmen, um den Gesamt-staat zu
stärken. Denn gerade Vojislav Kostunica lehnt als klarer serbischer
Nationalist eine (notwendige) Strukturreform in Bosnien strikt ab; so
sagte er bei seinem ersten Besuch in Bosnien, er werde der „stärkste
Beschützer von Dayton in seiner ursprüng-lichen Form“ sein.
Nicht nur diese Aussage bestätigt die These, daß in Serbien mit der
Niederlage von Milosevic zwar ein autoritäres System abgewählt wurde,
der Nationalismus aber keineswegs schwächer geworden ist. Im Gegenteil;
je stärker die Euphorie, desto geringer wird die Bereitschaft sein,
diesem serbische Krebsübel der vergangenen zehn Jahre den Kampf
anzusagen. In diesem Sinne hat die EU bereits einen gravierenden Fehler
begangen, als sie möglicherweise auf direktes Ersuchen von Kostunica
nicht nur den jugoslawischen Generalstabschef Nebojsa Pavkovic, sondern
auch andere höchst fragwürde Parteigänger von Slobodan Milosevic von der
Liste unerwünschter Aus-länder strich, dafür aber sogar einen bereits
seit mehreren Monaten toten Politiker weiter auf dieser Liste beließ.
Zweifellos soll vermieden werden, daß in einigen Jahren in Serbien ein
neuer Kosovo-Mythos geboren wird, der den Machtwechsel mit natio-naler
Schmach gleichsetzt. Dieser Mythenbildung kann die EU jedoch nicht mit
dem Bekenntnis zu einer Zwangsehe vorbeugen; entscheidend ist, daß wie
einst in Deutsch-land rasch eine spürbare Besserung des Lebensstandards
einsetzt, daß die EU darauf achtet, daß in Serbien Demokratisierung
nicht mit politischem Proporz neuer Eliten verwechselt und daß auch in
Serbien der Nationalismus als Grundübel anerkannt wird. Denn dann wird
Milosevic nicht nur wegen seiner Niederlagen, sondern auch aus Prinzip
abgelehnt werden. Diesem Zweck kann auch ein unabhängiges Montenegro
dienen, vor allem dann, wenn sich die EU nicht darauf konzentriert,
dessen interna-tionale Anerkennung zu verhindern, sondern versucht, die
Ausgestaltung der bilatera-len Beziehung mitzugestalten. Schließlich
sind auch die Schengen-Länder der EU nach wie vor unabhängige Staaten,
obwohl die Grenzzäune verschwunden sind. Neue Grenzen will Montenegro
gar nicht errichten. Die EU sollte daher gegenüber Belgrad und Podgorica
als ehrlicher Makler auftreten, der vor allem Serbien klarmacht, daß
seine nationalen Interessen zwar berücksichtigt werden, daß aber
Nationalismus ganz gleich in welcher Spielart ein Hindernis auf dem Weg
nach Europa darstellt. Die Zukunft Serbiens und des ganzen Balkan kann
jedoch nicht im Nationalismus, sondern nur in dessen Überwindung und
damit in der europäischen Integration liegen.
Subject:
Wiener Journal
Date:
Sun, 19 Nov 2000 22:26:25 +0100
From:
Wehrschick
To:
orf.bg@EUnet.yu
Christian F. Wehrschütz
Die ewige Wiederkunft des Gleichen
Nietzsche und der Zerfall Jugoslawiens
Selten ist einem Philosphen wohl die Ehre zuteil geworden, daß im Jahr
seines einhundersten Todestages eine seiner philosophischen Themesen
derart schlagend von einer Gemeinschaft von 15 Staaten bestätigt wird,
wie das die Europäische Union nun im Falle Friedrich Nietzesches tut.
Denn was könnte die These von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, von
der Nietzsche in seinem Werk „Der Wille zur Macht“ spricht, besser
bestätigen, als die Politik der EU, bzw. die Politik der meisten ihrer
Mitgliedstaaten gegenüber Jugoslawien. Denn 10 Jahre nach dem Beginn des
Zerfalls des zweiten Jugoslawien sind wir am voraussichtlichen Ende des
dritten Jugoslawien wieder am Ausgangspunkt angelangt. So taucht
plötzlich die Badinter-Kommission wieder aus der Versenkung auf, die im
Auftrag der EU zu ermitteln hatte, ob den Teilrepubliken Jugoslawiens
das Recht auf Sezession und Eigenstaatlichkeit zustehe. Das Gutachten
der Kommission bestätigte dieses Recht, wobei festgehalten wurde, daß
neben einem Territorium, neben der Verfügungsgewalt über dieses
Territorium und neben einer Regierung auch der ausdrückliche Wille der
Bevölkerung zur Eigen-staatlichkeit gegeben sein müsse. Dieser Wille
könne durch Wahlen oder durch eine Volksabstimmung ausgedrückt werden.
Anlaß dazu, daß die Badinter-Kommission wieder zu Ehren kommt, bildet
die Frage der künftigen Beziehungen zwischen Serbien und Montenegro, den
letzen beiden Teil-republiken, die noch unter dem Namen des
Auslaufmodells Jugoslawien existieren. Gerade die Frage, ob Serbien und
Montenegro einen neuen Staat oder eine Art Staaten-bund bilden sollen,
zeigt die Liebe zumindest der größten EU-Staaten zu Friedrich Nietzsche
oder - weniger diplomatisch ausgedrückt - die Tatsache, daß diese
Staaten aus dem Zerfall offensichtlich nichts gelernt haben. Denn
Frankreich und nun im Gegensatz zur Ära Helmut Kohl auch das rot-grüne
Deutschland lehnen die Unab-hängigkeit Montenegros mehr oder weniger
deutlich ab. So erklärte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt Wolfgang
Ischinger, „Deutschland unterstütze in keiner Weise die Unabhängigkeit
Montenegros“, denn die „Frage der Selbstbestimmung verliere mit der
Demokratisierung [Serbiens] ihre Bedeutung“. Warum dann die EU nach wie
vor aus 15 Staaten besteht, die doch unzweifelhaft demokratisch sind,
wurde Ischinger von seinem serbischen Gesprächspartner nicht gefragt.
Dafür betonte Ischinger, daß Deu-tschland den „Dialog in dieser Frage
mit Podgorica fortsetzen“ werde, eine Formu-lierung die in der
Diplomatensprache wohl mehr oder minder mit der Ausübung politi-schen
Drucks gleichzusetzen ist.
Doch unabhängig davon, ob diese Interpretation richtig ist, zeigt diese
Haltung, daß der wichtigste Staat der EU offensichtlich nicht bereit
oder in der Lage ist zu verstehen, daß die Probleme zwischen Belgrad und
Podgorica weit älter sind als die Ära von Slobodan Milosevic. Denn die
Grundfrage besteht - wieder ein Mal im Gegensatz zur irrigen Annahme
nicht weniger Diplomaten - eben nicht in der Frage Demokratie oder
Diktatur, sondern darin, ob die Montenegriner mehr sind als nur
„Bergserben“, sprich, ob es eine eigenständige (nationale)
montenenegrinische Identität gibt oder nicht. Hinzu kommen zweifellos
noch wirtschaftliche und politische Überlegungen, doch an dieser
Grundfrage führt kein weg vorbei. Zweifellos diente Milosevic als
Initialzündung dafür, daß diese Problemstellung wieder bewußt wurde,
bzw. Milosevic und westliche Politik haben diese Gegensätze verstärkt.
Doch ihre Wurzeln reichen bis in das Jahr 1918 zu-rück, als das
Königreich Montenegro, das auf Seiten der Westmächte im Ersten
Welt-krieg gekämpft hatte, gegen den Willen des im Exil lebenden Königs
und unter frag-würdigen Umständen was den Willen des Volkes betraf, mit
Serbien vereinigt wurde. Bereits damals bestand in dieser Frage in
Montenegro ein Gegensatz, der in der Be-zeichnung „Grüne“ (pro
Unabhängigkeit) gegen „Weiße“ (pro-serbisch) zum Ausdruck kam. Damals
siegten die „Weißen“, doch im Königreich der Serben Kroaten und
Slo-wenen wurde Montenegro als Teil Serbiens angesehen, eine Politik,
die sich zwischen 1941 und 1945 rächen sollte. Denn die Niederlage der
königstreuen Tschetnik-Verbän-de in Montenegro war in Montenegro nicht
zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Tito-Partisanen jene
Bevölkerungsteile für sich gewinnen konnten, die für eine
monte-negrinische Eigenständigkeit eintraten. 1946 wurde Montenegro eine
der sechs Teil-republiken Tito-Jugoslawiens.
Mit der Machtübernahme von Slobodan Milosevic in Serbien setzte auch in
Montene-gro eine verstärkte Serbisierungspolitik ein, deren Träger die
serbisch-orthodoxe Kirche war (und ist). So wurde in Taufzeugnissen der
Montenegriner als Nationalität automatisch Serbisch eingetragen. Dies
rief eine erste starke Gegenreaktion hervor, die allerdings auf
politischer Ebene noch keinen Niederschlag fand. Allerdings wurden auch
bereits im Jahre 1989 die Gebeine des in Italien 1921 verstorbenen
Königs Nikola nach Montenegro überführt; 1993 kam es zur Gründung der
der kanonisch nicht aner-kannten auokephalen montenegrinischen
Orthodoxie, war doch die anerkannte monte-negrinische Kirche 1920 mit
der serbischen vereinigt worden. Politisch audrücken konnte sich dieses
wieder erwachende Bewußtsein der Eigenständigkeit erst vor drei Jahren
als der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic mit Slobodan
Milosevic brach.
In den vergangenen drei Jahren hat Montenegro nicht nur die
demokratische Opposi-tion in Serbien unterstützt, sondern sich auch -
nicht zuletzt mit westlicher Hilfe - Schritt um Schritt von der Führung
in Belgrad gelöst. Nicht nur die politische Führung in Podgorica,
sondern auch alle relevanten Medien knüpfen an die montenegrinische
Staatlichkeit (1878-1918) an. Noch weit wichtiger ist jedoch, daß der
einfache Bürger - trotz aller engen kulturellen Beziehungen mit Serbien
den Gesamtstaat Jugoslawien nur noch im Luftverkehr, bei den
Streikräften und im Paßwesen wahrnimmt. Alle anderen Bereiche regelt die
Regierung in Podgorica, so daß praktisch bereits jetzt ein
eigenständiger Staat besteht. Letzter aber nicht wohl sehr wichtiger
Schritt auf diesem Weg war im November die Ersetzung des Dinar durch die
DM, die als Parallelwährung bereits seit einem Jahr betstanden und den
schwachen Dinar völlig verdrängt hatte. In zwei Jahren will Montenegro
auf den Euro umstellen.
Vor dem letzen Schritt zur Unabhängigkeit war die montenegrinische
Führung bisher durch die Gefahr einer Militärintervention von Slobodan
Milosevic, durch die unklare Haltung des Westens in dieser Frage und
durch einen nach wie vor bestehenden pro-serbischen Bevölkerungsteil
abgehalten worden. Doch Milosevic ist nun Geschichte und im Parlament in
Podgorica gibt es eine klare Mehrheit der Unabhängigkeitsbe-fürworter,
auch wenn in der Drei-Parteien-Regierung mit der Volkspartei (NS) noch
eine kleine pro-serbische Partei vertreten ist. Doch die anderen
Koalitionspartner sind entschlossen, nur auf der Basis der
internationalen Anerkennung Montenegros (und Serbiens) mit Serbien über
eine neue Form der Union zu verhandeln. Lieber nimmt die politische
Führung eine Minderheitsregierung oder vorgezogenen Parlamentswahlen in
Kauf als von dieser Vorderung abzugehen. Vorgeschlagen werden eine
gemeinsame Verteidigungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik, wobei
spätestens im Juni kommenden Jahres ein Referendum in Montenegro
stattfinden soll.
In Serbien und in der jugoslawischen Regierung hat der Machtwechsel die
grundlegen-de Einstellung zu Montenegro insoferne verändert, daß ein
Militäreinsatz nunmehr aus-geschlossen wird, um Montenegro zu halten.
Nichts geändert hat der Machtwechsel daran, daß Präsident Vojislav
Kostunica und die überwiegende Mehrheit der Politiker Serbiens kein
Sensorium und kein Verständnis für eine eigenständige montenegrinische
Identität haben. So hat Vojislav Kostunica in Montenegro stets auch mit
führenden Vertretern der serbisch-orthodoxen Kirche gesprochen und enge
Kontakte gepflegt, die in Milo Djukanovic eine Art neues Feindbild
gefunden hat. Kostunicas Vorschläge für eine neue Föderation werden in
Montenegro von der politischen Mehrheit gleich in doppelter Hinsicht
abgelehnt. Denn Kostunica will, daß ein Referendum in Serbien und
Montenegro über die Zukunft Montenegros entscheidet; angesichts der
Größenunter-schiede (440.000 Wähler zu mehr als 7 Millionen Wähler) kann
Podgorica diesen Vor-schlag nicht akzeptieren. Außerdem will Kostunica,
daß auch das Bundesparlament in die Verhandlungen über die Zukunft des
Gesamtstaates eingebunden werden. Dies lehnt Montenegro strikt ab, denn
über einen gemeinsamen Staat könnten nur die Ver-treter der beiden
Teilrepubliken, nicht aber die Bundesregierung entscheiden, die
Montenegro weiterhin nicht anerkennt, weil sie nach einer einseitigen
Änderung der Bundesverfassung und nach jenen Bedingungen gewählt wurde,
die Milosevic fest-gelegt hat. Entgegen kommt Montenegro dabei der
Umstand, daß auch in Serbien gar nicht sowenige Politiker bilateralen
Verhandlungen den Vorzug geben, um den Einfluß Vojislav Kostunicas zu
beschränken.
Zweifellos will Kostunica nicht als jugoslawischer Gorbatschow in die
Geschichte eingehen, der den Kommunismus überwandt, doch den gemeinsamen
Staat verlor. Zweifellos wird Kostunica daher versuchen, über die
Westmächte Druck auf Monte-negro ausüber zu lassen. Doch vor allem die
EU, die in dieser Frage weit strikter auf Seiten Kostunicas steht als
die USA, sollte jene Fehler vermeiden, die ihr bereits vor 10 Jahren
unterlaufen ist. Daher sollte sich die EU bewußt werden, daß ihr
Festhalten an Jugoslawien bereits nicht mehr der politischen Realität in
Montenegro entspricht. Die EU sollte daher vor allem Wert darauf legen,
daß eine neue Föderation oder eine Scheidung friedlich verlaufen muß.
Denn auch nach einer allfälligen Scheidung wird die EU Montenegro
wirtschaftlich zu unterstützen haben, ist es doch besser daß sau-veres
Geld fließt als daß neben dem Kosovo ein weiterer Hort für die
organisierte Kriminalität geschaffen wird.
Zweitens muß sich die EU klar darüber sein, daß die Mehrheit der
politischen Führung des Landes nicht aus Statusgründen auf einem Sitz in
der UNO beharrt, sondern weil damit auch der eigenständige Zugang zu
internationalen Finanzinstitutionen verbunden ist. Als Hinterhof
Serbiens kann sich Montenegro wegen der gigantischen
Wirtschafts-probleme Serbiens leicht ausrechnen, wie viel Geld via
Belgrad nach Podgorica anson-sten fließen würde. Diese Überlegung hat
nicht zuletzt auch dazu geführt, daß auch unter der rumänischen Elite in
der Moldau-Republik der Wunsch nach einer Vereini-gung mit Rumänien
rasch abgeklungen ist. Die Koalition „Für ein besseres Leben“ hat den
Montenegrinern ein besseres Leben versprochen; und dieses Versprechen
steht spätestens bei den Parlaments- und Pärsidentenwahlen in zwei
Jahren auf dem Prüf-stand. In einer Demokratie können Regierungen aber
auch abgewählt werden; auch daher ist der Wunsch nach Eigenstaatlichkeit
verständlich, noch dazu wo keine Bürokratie der Welt bereit ist,
erworbene Kompetenzen wieder abzugeben. Weiters ist Podgorica nicht
unberechtigt der Ansicht, daß Montenegro die Integration in die
euro-atlantischen Strukturen ohne Serbien viel rascher erreichen kann.
Die Forderung bei Serbien zu bleiben entspricht daher aus
montenegrinischer Sicht der Forderung an den Inhabers eines Platzes im
Rettungsboot auf der Titanic, mit dem Ablegen des Bootes so lange zu
warten, bis alle Passagiere in Sicherheit sind. Hinzu kommt, daß sich
auch die EU die Frage stellen sollte, ob ein Wirtschaftsaufschwung in
Serbien nicht leichter zu erreichen ist, wenn der weitgehend
überflüssige bürokratische Apparat samt Bundes-parlament beseitigt ist.
Unrealistisch ist auch die Hoffnung, daß das Kosovo-Problem leichter zu
lösen sein wird, wenn Montenegro bei Jugoslawien bleibt. Denn die
Albaner wollen weder bei Jugoslawien noch bei Serbien bleiben und zwar
unabhängig davon, welchen Weg Montenegro geht. Hinzu kommt, daß
Podgorica nicht für die gescheiterte Kosovo-Politik Belgrads
verantwortlich ist und daher auch nicht dafür „bestraft“ werden darf.
Befürchtungen, Montenegros Unabhängigkeit könnte sich negativ auf die
Lage in Bosnien-Herzegowina auswirken, sind ebenfalls fragwürdig. Denn
bei den Wahlen in Bosnien hat jene Partei, die „für ein Bosnien ohne
Teilgebiete“ eintrat gerade 16 Prozent der Stimmen gewonnen. Gewonnen
haben die Nationalisten aller Lage, wobei gerade die bosnischen Serben
nun nach der Euphorie über Kostunica keinen Grund sehen müssen, einer
Revision des Dayton-Vertrages zu zustimmen, um den Gesamt-staat zu
stärken. Denn gerade Vojislav Kostunica lehnt als klarer serbischer
Nationalist eine (notwendige) Strukturreform in Bosnien strikt ab; so
sagte er bei seinem ersten Besuch in Bosnien, er werde der „stärkste
Beschützer von Dayton in seiner ursprüng-lichen Form“ sein.
Nicht nur diese Aussage bestätigt die These, daß in Serbien mit der
Niederlage von Milosevic zwar ein autoritäres System abgewählt wurde,
der Nationalismus aber keineswegs schwächer geworden ist. Im Gegenteil;
je stärker die Euphorie, desto geringer wird die Bereitschaft sein,
diesem serbische Krebsübel der vergangenen zehn Jahre den Kampf
anzusagen. In diesem Sinne hat die EU bereits einen gravierenden Fehler
begangen, als sie möglicherweise auf direktes Ersuchen von Kostunica
nicht nur den jugoslawischen Generalstabschef Nebojsa Pavkovic, sondern
auch andere höchst fragwürde Parteigänger von Slobodan Milosevic von der
Liste unerwünschter Aus-länder strich, dafür aber sogar einen bereits
seit mehreren Monaten toten Politiker weiter auf dieser Liste beließ.
Zweifellos soll vermieden werden, daß in einigen Jahren in Serbien ein
neuer Kosovo-Mythos geboren wird, der den Machtwechsel mit natio-naler
Schmach gleichsetzt. Dieser Mythenbildung kann die EU jedoch nicht mit
dem Bekenntnis zu einer Zwangsehe vorbeugen; entscheidend ist, daß wie
einst in Deutsch-land rasch eine spürbare Besserung des Lebensstandards
einsetzt, daß die EU darauf achtet, daß in Serbien Demokratisierung
nicht mit politischem Proporz neuer Eliten verwechselt und daß auch in
Serbien der Nationalismus als Grundübel anerkannt wird. Denn dann wird
Milosevic nicht nur wegen seiner Niederlagen, sondern auch aus Prinzip
abgelehnt werden. Diesem Zweck kann auch ein unabhängiges Montenegro
dienen, vor allem dann, wenn sich die EU nicht darauf konzentriert,
dessen interna-tionale Anerkennung zu verhindern, sondern versucht, die
Ausgestaltung der bilatera-len Beziehung mitzugestalten. Schließlich
sind auch die Schengen-Länder der EU nach wie vor unabhängige Staaten,
obwohl die Grenzzäune verschwunden sind. Neue Grenzen will Montenegro
gar nicht errichten. Die EU sollte daher gegenüber Belgrad und Podgorica
als ehrlicher Makler auftreten, der vor allem Serbien klarmacht, daß
seine nationalen Interessen zwar berücksichtigt werden, daß aber
Nationalismus ganz gleich in welcher Spielart ein Hindernis auf dem Weg
nach Europa darstellt. Die Zukunft Serbiens und des ganzen Balkan kann
jedoch nicht im Nationalismus, sondern nur in dessen Überwindung und
damit in der europäischen Integration liegen.