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Zwischen Prager Frühling und Bukarester Lösung ?

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Kleine Zeitung
Berichte Serbien
Je näher der achte Oktober, der Tag der Stichwahl kommt, desto spürbarer werden die Spannung und die Nervosität sowie das Gefühl der Unsicherheit, das die serbische Bevölkerung erfaßt hat. Immer klarer wird, daß die Entscheidung im Land selbst fallen wird, und daß das Ausland kaum wirkliche Möglichkeiten einer Einflußnahme auf die Ereignisse hat. In welchem Ausmaß Slobodan Milosevic die Lage selbst noch kontrolliert ist eben-falls offen, denn Risse im politischen Gefüge werden sichtbar. Zunehmend fordern Journalisten staatlicher Medien eine offene Berichterstattung sowie eine Auseinandersetzung mit den For-derungen der Opposition. Der Serbische Gewerkschaftsbund SSSJ verlangte ultimativ die Nachzählung des Ergebnisses der ersten Runde der Präsidentenwahl bis Mittwoch, sonst werde er zum Generalstreik aufrufen. Der SSSJ hat etwa eine Million Mit-glieder und hat sich bisher stets regierungstreu gezeigt. In Belgrad und anderen Städten kam es zu ersten Stromabschalt-ungen, angeblich wegen des Streiks im Koletagbau Kolubara. Doch die Streikenden behaupten, die Braunkohlereserven in den serbischen Kraftwerken, müßten noch für eine Woche reichen.

Kennzeichnend für die allgemeine Unsicherheit ist auch die Tatsache,daß das Fußball-WM-Qualifikationsspiel zwischen Jugoslawien und Rußland am kommenden Samstag sowie die Partie Jugoslawien-Färöer kommenden Mittwoch von der FIFA auf unbe-stimmte Zeit verschoben wurde. Trotz all dieser Krisen-symptome bestehen keine Anzeichen für einen Kompromiß. Obwohl auch die montenegrinischen Sozialisten eine Nachzählung be-fürworten, lehnte der Präsident des jugoslawischen Unter-hauses, Milomir Minic, dieses Ansinnen der Opposition klar ab.

Es sei „unwiderlegbar“ festgestellt worden, daß Vojislav Kostunica im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit bekommen habe, erklärte Minic.

Noch verlaufen die Proteste der Opposition friedlich; doch je länger die Demonstrationen dauern, desto größer wird die Ge-fahr einer unkontrollierten Entwicklung. Derzeit pfeifen und schreien die Belgrader nur, die durch die Serbsikih Vladara-Straße am serbischen Parlament und am serbischen Präsidenten-palast vorbei ziehen. Doch wird es dabei bleiben ? In Novi Sad und im südserbischen Prokuplje wurden bereits Gebäude des staatlichen serbischen Fernsehens besetzt. Bei Straßenblokaden kam es zu ersten kleinen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Noch blieben diese Vorboten eines Wetterleuchten ohne große Folgen; auch die Konfrontation zwischen den streikenden Berg-leuten in Kolubara und den Sicherheitskräften blieb bisher aus. Als letztes Mittel hat der jugoslawische Botschafter in Moskau, Milosevics Bruder Borislav, eine Anwendung von Gewalt jedoch nicht ausgeschlossen.

Die unsichere Lage ist ein ausgezeichneter Dünger für den in Serbien ohnehin reichlich vorhandenen Nährboden an Gerüchten und Spekulationen. Wie stark ist Milosevic noch ? Kann er sich noch auf Armee und Polizei stützen ? Kommt es trotz des Boykotts der Opposition überhaupt zum zweiten Wahlgang oder wird zuvor der Ausnahmezustand verhängt ? Geht die Boykott-strategie der Opposition auf ? Was passiert nach dem achten Oktober, sollte Milosevic so tun als wäre nichts gewesen ? In Belgrad selbst haben Theater und Kinos geschlossen, doch zu Hamsterkäufen ist es bisher (noch ?) nicht gekommen.

Für Mittwoch und Donnerstag hat die Opposition den Höhepunkt der Streikbewegung angekündigt; bisher kam es zu keinem Generalstreik, der das Land lähmt – doch der Wunsch nach einer Wende, nach einem Wandel des gesamten politischen Systems war noch nie so deutlich spürbar, nicht nur in den großen, sondern auch in den kleinen serbischen Städten. Doch die Machtinstru-mente für eine Wende fehlen der Opposition (noch ?), während immer klarer wird, daß Milosevics Position immer schwächer wird, selbst wenn es zur „Stichwahl“ am Sonntag kommen sollte. Serbens Zukunft ist noch offen – zur Wahl stehen die Voll-endung einer Art „samtenen Revolution“ nach tschechischem Muster; nicht auszuschließen ist auch eine Bukarester Lösung, eine Revolte im System selbst, ausgelöst durch nicht endende Demonstrationen oder durch eine Radikalisierung, die auch zur Spaltung im Sicherheitsapparat führen könnte. Erschwert wird der friedliche Wandel durch die Anklage Milosevics vor dem Kriegsverbrecher Tribunal in Den Haag – ein Damokles-Schwert, das über Milosevic hängt, sich für Serbien jedoch als der Schlüssel zu Büchse der Pandora erweisen könnte.

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