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Zwischen Götterdämmerung und Morgenröte Belgrad erlebt die samtene Revolution

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Kleine Zeitung
Berichte Serbien
Der Anblick des schwerbeschädigten und teilweise ausgebrannten Bundesparlaments in Belgrad war gespenstisch; nach dem sieg-reichen Aufstand der Bürger kam offensichtlich die Stunde der Plünderer. Aus dem Bundesparlament wurden nicht nur die Akten der verhaßten Bundeswahlkommission auf die Straße geworfen; gestohlen wurde auch, was nicht nied- und nagelfest war und soweit die Rauchschwaden im ersten Stock des Gebäudes ein Plündern gefahrlos zuließen. Denn auch noch Stunden nach dem Sturm, flackerten kleinere Feuer im ersten Stock des Gebäudes immer wieder auf. Das Parterre war weitgehend verwüstet, durch Plünderungen, Brand- und Wasserschäden. Belgrader trugen Stühle und Heizkörper als Beutestücke ebenso davon wie Stimm-zettel der Wahlen vom 24. September. In Brand gesteckt und geplündert wurden auch das serbischen Fernsehen RTS und die Parteizentrale von Milosevics Sozialisten. Auch dort räumten Andenkensammler und Plünderer so gründlich auf, daß dieses Parteihauptquarier wohl auf längere Zeit nicht benutzbar sein dürfte.

Abgesehen von diesen anarchischen Zuständen in dieser wahrlich historischen Nacht kann zumindestens vorläufig von einer samtenen Revolution gesprochen werden. Symptomatisch dafür war eine Szene vor dem im Jugendstil erbauten Hotel Moskau im Zentrum Belgrads. Auf dem Platz saßen zwei Demonstranten, der ein ein Polizeischild in den Händen, der andere einen Polizei-helm auf dem Kopf, beklebt mit einem Abziehbild – „Gotov je“ – „Fertig ist er“, dem Schlachtruf der Opposition gegen Milosevic. Selbst ein Pudel war mit einem deratigen Aufkleber geschmückt. Wenige hundert Meter weiter verkauften Mitten in der Nacht zwei 12-jährige Mädchen Rasseln und Anstecker – Symbole der Opposition gegen Milosevic. Vor dem Belgrader Rathaus brannten bis in die frühen Morgenstunden die Lager-feuer der siegreichen Demonstranten. Der Umsturz kam wahrlich gerade noch zur rechten Zeit, vor allem für Belgrad. Denn der Streik der Müllabfuhr hatten in Belgrad bereits derartige Spuren hinterlassen, daß der Müll bereits massenweise auf den Straßen lag.

Auch die erste Sonderausgabe der Tageszeitung „Glas“ (Simme) fand reißenden Absatz, doch wurde der wahre Verkaufsschlager dieses Umbruchs die Sonderausgabe der (früheren ?) sozialistischen Parteizeitung „Politika“. Die Extraausgabe des von oppositionellen Redak-teuren übernommenen medialen Denkmals Serbiens titelte: „Dr. Vojislav Kostunica, Präsident der Bundesrepublik Jugoslawiens, wendet sich an das Volk: Serbien auf dem Weg zur Demokratie“. Ein noch stärkes Wendezeichen bildete das staatliche serbische (!) Fernsehen, das ein Interview mit dem jugoslawischen Präsidenten Vojislav Kostunica ankündigte, vor wenigen Stunden noch eine Denkunmöglichkeit.

Bezeichnend für den Sieg der Opposition waren auch die Feiern in Posarevac, der Heimatstadt von Slobodan Milosevic; etwa 30.000 Bewohner dieser Stadt feierten auf den Straßen und zerstörten eine Werbetafel der ominösen Discothek Madonna, die Milosevics Sohn Marko gehört. Die denkwürdige Nacht endete vor dem Belgrader Rathaus mit der alten serbischen Hymne „O Gott O Gerechtigkeit“. Das vor allem im Inneren schwer beschädigte Gebäude des Bundesparlaments lag in den frühen Morgenstunden friedlich und schön da; es wird leichter sein, dieses Gebäude wieder zu erneuern als das dritte Jugoslawien, dem ein dorniger Weg bevorsteht.

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