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Von der Tollwut bis zum Kosovo: Serbiens langer Marsch in die EU beginnt

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Am 21. Jänner wird die EU bei einer Regierungskonferenz in Brüssel offiziell den Startschuss für Beitrittsverhandlungen mit Serbien geben. Mehr als 13 Jahre nach dem Sturz des Autokraten Slobodan Milosevic haben ironischerweise ausgerechnet dessen ehemalige politische Weggefährten, Ministerpräsident Ivica Dacic und sein Stellvertreter, der Vorsitzende der größten Regierungspartei, Alexander Vucic, dieses strategische Ziel erreicht. Ermöglicht haben den Verhandlungsbeginn die schrittweise Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo. Die weitere Normalisierung hat die EU in ein eigenes Verhandlungskapitel gepackt, und so wird der Kosovo stets die Gespräche zwischen Brüssel und Belgrad begleiten. Doch auch abgesehen vom Kosovo wird die Erfüllung der Kriterien für den EU-Beitritt für Serbien eine enorme Herausforderung bilden. Jahre des Krieges am Balkan, der internationalen Sanktionen und der Krise haben das Land weit zurückgeworfen. Unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz hat den folgenden Beitrag über Brüssel als Anreiz und Faktor der Modernisierung Serbiens gezeichnet, die in etwa zehn Jahren durch den EU-Beitritt gekrönt werden könnte.

Um Serbien bei der schrittweisen Erreichung von EU-Standards zu helfen, finanziert Brüssel bisher etwa 600 Projekte; eines davon ist der Kampf gegen die Tollwut, die in Westeuropa weitgehend ausgerottet ist. Hauptüberträger sind Füchse, die keine Staatsgrenzen kennen. Daher finanziert die EU ein fünfjähriges Programm in Serbien, denn der Kampf gegen die Tollwut zählt zum Verhandlungskapitel Lebensmittelsicherheit. Mit Flugzeugen werden insgesamt 1,6 Millionen Köder als gefrorenes Fleisch abgeworfen, die den Impfstoff enthalten. Die Zahl der Fälle ist spürbar gesunken und auch die Kontrolle der Tollwut habe sich verbessert, erläutert der Projektmanager in der EU-Delegation in Belgrad, Andrej Papic:

„Stichproben werden nicht nur nach dem Zufallsprinzip gemacht, wenn der Verdacht auf Tollwut in einem Gebiet besteht. Jetzt bekommen Jäger eine Prämie, wenn sie Füchse jagen und dann in das veterinärmedizinische Institut bringen, wo das Tier untersucht wird. Seit Beginn des EU-Programms ist die Zahl der Stichproben daher weit größer als das davor der Fall war.“

Die Abgleichung des Istzustandes und des Rechtsbestands in Serbien mit dem Rechtsbestand der EU und den von ihr vorgegeben Standards heißt im EU-Jargon „Screening“. Diese Durchleuchtung ist bereits im Gange und soll bis März nächsten Jahres abgeschlossen sein. Beim „Screening“ unterstützt Serbien auch ein Team aus sechs Experten, das von Brüssel finanziert wird. Ihre Arbeit beschreibt die Teamleiterin, Marija Pejconovic-Buric:

„Beim Kapitel Justiz und Grundrechte ist der Rechtsbestand der EU gering; es gibt viel mehr Standards, die der Europarat oder die UNO vorgeben. All diese Standards vergleichen unsere beiden Juristen mit der serbischen Gesetzgebung, um zu beurteilen, ob sie in angemessener Weise angewandt werden. Auf der Basis dieser Analyse und der daraus folgenden Empfehlungen werden dann das Justizministerium und andere Behörden genau wissen, was noch zu tun ist, um im Kampf gegen die Korruption eine gute Gesetzgebung zu haben.“

Marija Pejcinovic-Buric ist eine Kroatin, die in ihrem Heimatland eine jahrelange Erfahrung bei der EU-Annäherung sammeln konnte. Dass eine Kroatin nun Serbien auf dem Weg Richtung EU unterstützt, zeigt, dass sich das Verhältnis dieser beiden Staaten nach Jahren des Konflikts doch verbessert hat. Kroatien war das erste Land, das ein Kapitel Justiz zu bewältigen hatte; für Serbien und Montenegro, das bereits über den Beitritt verhandelt, sei der Brüsseler Verhandlungsmodus noch strenger, betont Marija Pejcinovic-Buric:

„Bei Kroatien gab es Vorbedingungen, die für die Eröffnung und für die Schließung eines Kapitels erfüllt werden mussten. Jetzt gibt es noch Zwischenkriterien, die erfüllt werden müssen. Das klingt sehr technisch, bedeutet aber, dass die Verhandlungen länger dauern werden. Bereits für Kroatien waren die Verhandlungen schwieriger als für die zehn Länder davor; für Serbien und Montenegro wird es jetzt noch schwerer. Trotzdem ist der Prozess sehr ähnlich zwischen Kroatien und Serbien, weil viele Herausforderungen gleich sind.“

Das ist einer der Gründe, warum Serbien an kroatischen und slowenischen Erfahrungen sehr interessiert ist. Serbien will aber auch von EU-Mitgliedern profitieren, die bei einigen der insgesamt 35 Verhandlungskapitel besonders erfolgreich waren, erläutert die serbische EU-Chefverhandlerin Tanja Miscevic:

„Wir bekommen große Hilfe aus Slowenien und von einigen kroatischen Kollegen, was die Führung der Verhandlungen selbst betrifft. Denn Kroatien und Slowenien sind Staaten, die aus demselben System hervorgegangen sind. Vergessen dürfen wir nicht Montenegro; das Land ist vor uns bei den Beitrittsverhandlungen und mit Montenegro tauschen wir fast tagtäglich Erfahrungen aus. Auf dem Gebiet der Energie hilft uns direkt Dänemark, das hier sehr erfolgreich war. Stark interessiert sind wir an den Erfahrungen Polens, das die Kohäsionsfonds sehr erfolgreich genutzt hat. Gleiches gilt für Erfahrungen Österreichs bei den Verhandlungen zum Kapitel Landwirtschaft.“

Keine Erfahrungswerte gibt es allerdings für das Kapitel 35, das „Allfälliges“ heißt, im Falle Serbiens jedoch fälschlicherweise. In diesem Kapitel wird die EU die weitere Normalisierung Serbiens mit dem albanisch dominierten Kosovo behandelt. Diese Normalisierung begann mit der Vereinbarung von Brüssel im April des Vorjahres und war die politische Voraussetzung dafür, dass die EU überhaupt bereit war, mit Serbien Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Der genaue Inhalt des Kapitels steht noch nicht endgültig fest. Dazu sagt der serbische Minister für EU-Integration Branko Ruzic:

„Die Besonderheit besteht darin, dass es praktisch zwei Prozesse geben wird; der eine betrifft das Beitrittsverfahren, der andere die Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina. In einigen Punkten werden sich diese beiden Prozesse überlappen; doch diese Normalisierung hat teilweise auch bereits Themen definiert, die bereits gelöst werden; das betrifft die Telekomunikation, die Frage der Energieversorgung und die Umsetzung der Vereinbarung von Brüssel.“

In der Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo sieht Ministerpräsident Ivica Dacic jedenfalls die größte Herausforderung für Serbien. Technisch gesehen, dürfte diese Einschätzung falsch sein, weil die Reform der Justiz, der Verwaltung und die Anpassung von Landwirtschaft und Umwelt an EU-Standards wohl weit schwieriger zu bewältigen sein dürfte. Politisch gesehen, könnte Dacic aber Recht haben, weil am Ende der Normalisierung und des Beitrittsprozesses in etwa zehn Jahren Serbien wohl die Unabhängigkeit des Kosovo wird anerkennen müssen. Dafür gäbe es derzeit bei einer Volksabstimmung keine Mehrheit, weil der Kosovo noch immer ein sehr emotionelles Thema ist. Andererseits ist die EU-Skepsis beträchtlich, obwohl eine klare Mehrheit derzeit für den Beitritt stimmen würde. Die Gefühlslage der Serben beschreibt der Meinungsforscher Srdjan Bogosavljevic so:

„In Serbien erwartet niemand irgendwelche rasche Lösungen; daher sind auch die Erwartungen an die EU, wenn sie bestehen, langfristig angelegt; sprich, für meine Kinder wird das etwas bringen. Somit ist zwar eine große Mehrheit bereit, für den EU-Beitritt zu stimmen, doch das Vertrauen in die EU ist gering; das hat nur jeder Zweite, der für den EU-Beitritt stimmen würden. Doch die Masse der Bürger sieht einfach nichts Besseres als die EU. Mehr weiß man von ihr einfach nicht. Früher glich das Verhältnis zur EU einer Seifenoper; jetzt sagen die Menschen, ja wir gehen Richtung EU, weil der Staat dadurch besser geordnet und vorhersehbarer wird. Verschwunden ist aber die Vorstellung – wir kommen ins Paradies, holen uns nur das Geld ab, müssen dafür aber nichts tun.“

Der Minister für EU-Integration, Branko Ruzic, will jedenfalls den Serben konkret vor Augen führen, welche Vorteile die EU mit sich bringt; Branko Ruzic:

„Der Durchschnittsserbe will fühlen, welchen Nutzen er von der EU hat. Der bisher letzte große Nutzen war die Abschaffung der Visapflicht. Damals war die Zustimmung zur EU am höchsten. Wir wollen zeigen, was wir in Serbien dank der Zusammenarbeit mit der EU tun konnten. Das betrifft etwa Projekte für die Infrastruktur oder die Verbesserung der Lage von Randgruppen. Denken sie an die Brücke in Novi Sad oder an Gebäude für Roma-Familien. Das ist meine persönliche Aufgabe; denn bisher haben wir nicht entsprechend darstellen können, was bereits gemacht wurde.“

Die EU ist mit Abstand der größte Geldgeber; doch nach Umfragen haben davon die Serben praktisch keine Ahnung, weil die EU bei ihrer positiven Selbstdarstellung bisher weitgehend versagt hat. Daher werden Brüssel und Belgrad auch ihr Marketing verbessern müssen, denn dass die EU die ungeliebte Normalisierung mit dem Kosovo fordert, ist den Serben jedenfalls bestens bekannt.

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