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Vojislav Seselj und das Haager Tribunal

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Am 23. Februar 2003 stellte sich der Führer der serbischen Ultranationalisten, Vojislav Seselj freiwillig dem Haager Tribunal. Angeklagt ist Seselj, weil er für die Vertreibung von Kroaten und Bosniaken und für Mord, Folter und Verletzungen des Kriegsvölkerrechts verantwortlich sein soll. Zehn Jahre später sitzt Seselj noch immer in seiner Zelle des Haager Tribunals, und das Urteil in erster Instanz lässt immer noch auf sich warten. Diese lange Prozessdauer ist einer der Gründe, warum in Serbien selbst Befürworter des Tribunals von dessen Arbeit massiv enttäuscht sind. Unser Balkan-Korrespondent Christian Wehrschütz ist den Ursachen für dieses lange Verfahren ebenso nachgegangen, wie der Rolle, die Seselj dabei selbst gespielt hat. Gleichzeitig versucht er in dem folgenden Beitrag eine vorläufige Bilanz der Arbeit des Tribunals zu ziehen, das vor 20 Jahren gegründet wurde, und dessen Tätigkeit in den kommenden zwei Jahren zu Ende geht.

Am 23. Februar 2003 veranstaltete Vojislav Seselj seine letzte Kundgebung in Belgrad. Dabei verkündete er den Anhängern seiner ultranationalistischen Radikalen Parteien den Entschluss, sich am nächsten Tag dem Haager Tribunal zu stellen. Vojislav Seselj:

„Morgen trete ich eine etwas längere Dienstreise an. Ich gehe nach Den Haag, um mehr als zehntausende Freiwillige der Serbischen Radikalen Partei zu vertreten. Ich gehe, um alle serbischen Helden und Freiheitskämpfer zu vertreten. Jene, die sich heldenhaft an allen Fronten des Krieges geschlagen haben, nannten sich Seseljs-Männer oder Seseljs-Tschetniks.“

Seseljs Dienstreise dauert nun zehn Jahre. In diesen mehr als 3600 Tagen gab es nur 175 Prozesstage; 71 Zeugen der Anklage wurden gehört, denn auf Entlastungszeugen verzichtete Seselj. Doch er saß bereits 1700 Tage in Haft, ehe die Hauptverhandlung im November 2007 begann. Eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung spielte die langjährige Chefanklägerin des Tribunals Karla Del Ponte; ihr Amt übernahm im Jänner 2008 der Belgier Serge Brammertz, der damit den Seselj-Fall erbte. Im ORF-Interview versucht Brammertz den späten Prozessbeginn zu erklären:

"Tatsache ist, dass es immer ein bis zwei Jahre dauert, zwischen der Festnahme und dem Start des Verfahrens - nicht weil die Staatsanwaltschat das unbedingt möchte, sondern weil die Verteidigung natürlich Zeit benötigt. Das Karadzic-Verfahren hat 18 Monate nach der Festnahme angefangen, aber Karadzic hat eigentlich noch sechs zusätzliche Monate beantragt, um sich vorzubereiten - ihm wären also 2 1/2 Jahre lieber gewesen als Vorbereitung. Also daher kann man nicht automatisch daraus schließen, dass es eine Verzögerung des Gerichts ist, wenn es drei Jahre gedauert hat."

Doch im Seselj-Fall dauerte es viereinhalb Jahre. Beim ersten Anlauf im November 2006 befand sich der Jurist Seselj schon zwei Wochen im Hungerstreik, weil ihm das Gericht das das Recht auf Selbstverteidigung vorenthalten wollte. Schließlich gab das Tribunal nach, doch erst ein Jahr später im November 2007 begann dann die Hauptverhandlung. Das Verfahren endete Ende März 2012; die Anklage fordert 28 Jahre Haft; Seselj sei für die Vertreibung von Tausenden Menschen und für den Mord an 900 Kroaten und Bosniaken verantwortlich; doch das Urteil durch den Richter lässt noch immer auf sich warten. Während von den Haager Richtern keine Stellungnahme zu erhalten war, machte Seselj aus seinen Motiven nie ein Geheimnis. Ihm ging es um die Diskreditierung des Tribunals in den Augen der Serben, die zu nächtlicher Stunde den Prozess im serbischen Staatsfernsehen verfolgen konnten, als wäre es eine endlose Seifenoper. In seinem Plädoyer, das zehn Stunden dauerte, sagte Seselj:

„Warum hat das Tribunal niemanden von den kroatischen Machthabern bestraft wegen der Massenvertreibung der Serben. Sollte ich eine Straftat begangen haben, dann kann ich mich nicht dadurch rechtfertigen, dass andere eine Straftat begangen haben, aber vom Tribunal nicht verfolgt werden. Doch so kann ich das Haager Tribunal zur Gänze kompromittieren. Denn mir ist es wichtiger, Sie zu kompromittieren, als mich selbst zu verteidigen. Darin bin ich schon mehr als neun Jahre sehr erfolgreich, weil Sie mir Angriffsflächen bieten.“

Das stimmt leider, denn Seseljs Katz-und Maus-Spiel mit dem Tribunal erheiterte die Serben. Er verlangte zwei Millionen Euro Entschädigung wegen der langen Prozessdauer, forderte aber auch den Ausdruck von 207.000 Seiten, weil in den Dokumenten entlastendes Material enthalten sein könnte. Außerdem beantragte er die Übersetzung zweier seiner Bücher im Umfang von mehr als 1000 Seiten ins Englische, um sie im Prozess verwenden zu können. Seselj schrieb viele Bücher in seiner Gefängniszelle; eines trägt den Titel: „Römisch-katholisches verbrecherisches Projekt der künstlichen kroatischen Nation“, denn für den Ultranationalisten sind die Kroaten nur katholisierte Serben. Seselj hatte aber auch ernste gesundheitliche Probleme und musste einen Herzschrittmacher bekommen. Trotz allem fällt es Chefankläger Serge Brammertz schwer, die Verfahrensdauer zu erklären:

"Es gibt natürlich eine Reihe von Gründen; er vertritt sich ja selbst, und da hat es natürlich auch eine Reihe von Problemen gegeben, weil er Namen von geschützten Zeugen in seinen Büchern veröffentlich hat; das hat natürlich dann auch zu Verzögerungen und parallelen Ermittlungen geführt, und er wurde ja deswegen auch schon drei Mal durch das Gericht verurteilt. Aber ich würde natürlich niemals versuchen, der Außenwelt zu erklären, dass es absolut normal ist, dass es so lange gedauert hat. "

So verzögerte Ende April 2010 auch der isländische Vulkan mit seiner Aschewolke den Prozess, weil der kanadische Staatsanwalt nicht nach Den Haag fliegen konnte. In Serbien ist der Seselj-Prozess auch für die wenigen aufrichtigen Befürworter des Tribunals ein Ärgernis. Dazu zählt die kleine Liberale Partei; ihre Parlamentsabgeordnete Natasa Micic sagt zu den Folgen:

„Natürlich trägt Seselj selbst eine große Verantwortung für die Verzögerung. Doch diese lange Verfahrensdauer schadet auch uns, denn dieser Fall mindert leider die Bedeutung des Gerichts. Seine Versäumnisse kommen uns hier teuer zu stehen, weil sie das Verständnis für das Gericht mindern und die Aussöhnung in der Region verlangsamen.“

In Serbien zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung kein Vertrauen in das Tribunal hat. Doch auch Seselj hat stark an Bedeutung verloren. Führende ehemaligen Gefolgsleute gründeten 2008 eine nationalkonservative, proeuropäische Partei; sie ist mittlerweile stärkste Kraft in der Regierung, während Seseljs Ultranationalisten bei der Wahl im Mai des Vorjahres aus dem Parlament flogen. Dazu sagt der Meinungsforscher Srdjan Bogosavljevic:

„Seselj ist derzeit kein ernster politischer Faktor. Doch Seselj ist noch nicht vergessen, so dass man eine Rückkehr der Popularität nicht ausschließen kann. Bei einem Freispruch oder einem ungerechten Urteils kann er als Sieger über das Tribunal zurückkehren, das hier niemand mag.“

Darauf hofft auch Vojislav Seselj, wie sein Schlusswort zeigt:

„Gegen mich ist kein Kraut gewachsen. Ihr könnt mich nur umbringen. Doch im Gegensatz zu Osama Bin Laden müsst ihr mich nach Serbien bringen, und noch mein Grab wird gegen Euch kämpfen. Der Kampf geht weiter.“

Hier könnte der Ultranationalist irren. Als Reizthema hat das Tribunal in Serbien stark an Bedeutung verloren. Außerdem leistete es trotz seiner Schwächen einen großen Beitrag auch zur Zusammenarbeit im ehemaligen Jugoslawien, dessen Nachfolgestaaten die Kriegszeit jedenfalls juristisch aufarbeiten. Dazu sagt Serge Brammertz:

"Vor zehn Jahren war es noch sehr schwer denkbar, dass nationale Behörden ihre eigenen Landsleute verfolgen würden. Heute ist das ganz anders; in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien werden also Verfahren geführt. So wird es wohl einen fließenden Übergang geben zwischen der Arbeit, die unser Gericht getan hat und dem was die nationalen Behörden sicher noch für die nächsten zehn, 20 Jahre machen müssen, d.h., die verbleibenden Fälle aufarbeiten. Das heißt, dass man heute doch positive Entwicklungen in Serbien, Kroatien und Bosnien sehen kann."

Anfang 2015 soll das Tribunal durch eine kleinere Nachfolgebehörde ersetzt werden, die für die letzten Berufungsverfahren zuständig sein soll. Ob dazu der Seselj-Prozess zählen wird ist offen. Die größte Strafe für Vojislav Seselj wäre wohl, wenn just seinen ehemaligen Weggefährten nun die Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo gelingt, die für den Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit Serbien von entscheidender Bedeutung ist.

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